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Goldrausch

Spektakel, Stadtzerstörung und Kulturindustrie in Paris 1851-1871
Zu Walburga Hülk,
»Der Rausch der Jahre. Als Paris die Moderne erfand«

Von Wolfgang Bock, Rio de Janeiro
 

Die Siegener Romanistin Walburga Hülk, bekannt für ihre exzellenten Kenntnisse der Pariser Moderne, hat ein populärwissenschaftliches und materialreiches Werk über die Zeit des Zweiten französischen Kaiserreichs verfasst. In dem Buch geht es um den kulturwissenschaftlichen Hintergrund dieser Epoche, die 1851 mit dem Putsch von Napoleon III. beginnt und 1871 mit der Eroberung von Paris durch die preußischen Truppen 1871 endet. Offizieller Taktgeber ist die Sphäre der Politik und der politischen Ereignisse. Das Hauptaugenmerk der Autorin aber liegt auf den Bereichen des öffentlichen Lebens, der Einrichtung des modernen Paris durch den Präfekten Baron Hausmann, der Kunst und vor allem der Literatur.
Hier erinnert ihr Stil ein wenig an das Erfolgsbuch 1913 von Florian Illies über die deutsche Bohème vor dem Ersten Weltkrieg. Es ist aber hier die Zeit nach den Revolutionen von 1830 und 1848, nachdem der Bürgerkönig Louis Philipp durch den Putsch von Napoleon III. aus dem Amt gejagt wurde. Diese zwanzig Jahre gliedert sie in zehn Kapitel, die jeweils mit Jahreszahlen im Titel beginnen, denen ordnet sie die jeweiligen Ereignisse zu – ein elftes Kapitel zieht eine Bilanz solcher „modernen Zeiten“. Gegenstand des Werks sind also jene beiden operettenhaften Dekaden, in denen die Moderne erfunden wurde und in denen sich Paris zur Welthauptstadt mauserte: „150 Jahre später schauen wir mit Staunen und Skepsis auf das Paris dieser Jahre.“ (S. 13) Die Autorin kultiviert nun allerdings weniger die Skepsis als das Staunen, sie schreibt ein wenig selbst wie im Rausch.

Rauschhaft sind nach dem Buch diese Jahre, in denen das moderne Paris entstand, auch, weil hier der Mythos von Paris als Stadt der Liebe und der Lichter noch einmal beschworen wird. Der Leser soll sich in dem Buch wohl so verwirren wie ein Besucher in der labyrinthische ausgestatteten Möbelausstellung bei Ikea. Wenn er am Ende eines Kapitels seinen Kopf hebt, dann schwirren ihm die Daten und Einzelheiten nur so um die Ohren.

In der Sache bietet Buch durchaus Nützliches. Es orientiert sich zunächst an den historischen Daten. Allein diese zu rekapitulieren, ist immer wieder wertvoll, nicht nur für Romanistikstudierende. Dabei kommen der Krimkrieg ebenso zur Sprache wie Louis Napoleons Abenteuer bei der Unterstützung Frankreichs für Italien gegen die Österreicher oder auch der Versuch, die nordafrikanischen Kolonien offiziell nicht mehr als abhängige zu behandeln, sondern im neuen Modus der ökonomischen Ausbeutung im Zusammenhang mit der militärischen Absicherung derselben „als freie Königreiche in einem Handelsbund unter französischer Vorherrschaft“. Ähnliche als altruistisch getarnte Operationen sind später vom englischen Commonwealth – oder heute von den Großmächten China, Russland und Amerika bekannt. Napoleon III. bedient dabei insbesondere einen Orientalismus, den Napoleon I. mit seinem Feldzug nach Ägypten begonnen hatte und der sich nun nach Nordafrika und Syrien erstreckt. Man erkennt hier die Voraussetzung für die aktuelle Misere in diesem Gebiet, an dem die Großmächte seit dieser Zeit immer ein Interesse hatten.

Walburga Hülk macht auch deutlich: Die entsprechenden innenpolitischen Maßnahmen des Zweiten Kaiserreiches nach der Französischen Revolution und denjenigen von 1830 und 1848 waren solche eines Polizeistaates und einer Diktatur. Napoleon III. errichtete eine neue feudale und ökonomisch orientierte Dynastie. Er war aber – da er selbst Exilant und Jahrzehnte durch ganz Europa gereist war, bevor er durch eine Amnestie zurück nach Frankreich durfte und dann putschte – europapolitisch durchaus auf der Höhe seiner Zeit. Stärker noch als Napoleon I., so lernen wir, schafft er ein ziviles Kaiserreich zweiten oder dritten Grades, das die ökonomische und gesellschaftliche Notwendigkeit des Adels, der in der Großen Revolution durch das Bürgertum abgelöst und auf dem Wiener Kongress 1815 wieder eingesetzt worden war, noch weiter zurücktreten lässt. Es ist die Zeit des Übergangs von den feudalen zu den hochkapitalistischen Strukturen, die in dieser Regierungsform nicht repräsentiert waren. Diese Ungleichzeitigkeit macht den Mythos des erneuerten Kaiserreichs aus, der Paris als glanzvolle Lichterstadt miteinschließt.

Diesen Mythos allerdings hellt die Autorin trotz Beibringung vieler Details nicht wirklich auf. Louis Napoleon erscheint bei ihr zwar als beeinflusst von den Ideen der frühsozialistischen Saint-Simonisten, wenn er die Eisenbahn ausbauen lässt und damit das Börsenwesen beflügelt. Die wirtschaftliche Sphäre wird aber von der Autorin als eine unter vielen nur angetippt; sie unterscheidet nicht wirklich zwischen grundlegenden ökonomischen Entwicklungen und davon abhängigen politischen und kulturellen Lebenssphären. Sie orientiert sich an dem Schema einer Chronologie der Fakten an der Oberfläche. So bestimmt die Ordnung des Tages ihre Zusammenstellung. Und diese Ordnung rollt ab, wie von derselben Geisterhand angestoßen, die nach einer reduzierten Lesart von Adam Smith auch den freien Markt regulieren soll.

Der Leser bleibt diesen Dingen heute ein weiteres Mal so ausgesetzt, wie der nur an seinen eigenen Interessen orientierte Bourgeois jener Epoche, der mit anderen Worten der Ideologie seiner Klasse vollständig ausgeliefert bleibt. Und die lautet gestern wie heute: „Enrichissez-vous!“ – „Bereichert euch am Fortschritt, denn jeder ist seines Glückes Schmied“. Man hätte statt solcher Wiederholungen beispielsweise auch lesen mögen, dass der Ruf von Paris als „Stadt der Liebe“ eben dadurch zustande gekommen ist, dass sich viele alleinerziehende Frauen prostituieren mussten, um überhaupt etwas zu Essen zu haben. Auch die Kosten der Modernisierung der Stadt, die Hausmann herstellt, werden zwar angedeutet, sie fallen aber in der Gewichtung, die die Autorin wählt, leider allzu oft unter den Tisch.
Ist man aber auf der Suche nach Details zur Literaturgeschichte bei Flaubert, Baudelaire oder den Gebrüdern Concourt, so wird man in dieser Einfühlung in die zwei bewegten Jahrzehnte fündig. Freilich muss man die Details notieren und in eine eigene Ordnung bringen. Das Buch bleibt selbst rauschhafft; es ist aber ein sekundärer Rausch, er wird in Imitation des ersten, der bereits falsch war, nochmals aufgegriffen und hergestellt. Nicht umsonst sind der Umschlag und das Lesebändchen in Altgold gehalten. Das mag ironisch gemeint sein, vielleicht aber auch nicht.

Artikel online seit 03.04.20
 

Walburga Hülk
Der Rausch der Jahre
Als Paris die Moderne erfand
Hoffmann und Campe
416 Seiten
26,00 €
978-3-455-00637-7

 

 


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