Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik

 

Home  Termine   Literatur   Krimi   Biografien, Briefe & Tagebücher   Politik   Geschichte   Philosophie  Impressum & Datenschutz


 








Eine Collage aus Perversion und extremer Gewalt

Boris Luries Roman verbindet die Gewalt der Konzentrationslager
mit der zerstörerischen Energie der Kultur- und Sexindustrie.

Von Jürgen Nielsen-Sikora
 

Pornographie

Der französische Romancier Restif de La Bretonne definiert im Jahre 1769 die Pornographie als einen Diskurs über den Sex. Etymologisch meint Pornographie: Über Prostitution schreiben.

Tatsächlich handelt La Bretonnes Pamphlet von der Regulierung der Prostitution, die eine »tugendhafte Ausübung der Liebe« gewährleisten möge. Er schlägt zu diesem Zweck staatlich verwaltete Bordelle vor. Diesen »Museen der Laster« nehmen sich in den Folgejahren französische Architekten an. Die Institutionen changieren zwischen Disziplinierung und Subversion.
Lange Zeit blieb die Pornographie, die offene/offensichtliche Darstellung des Sex, als »Erotik der Anderen« (Robbe-Grillet) verpönt. Sie galt als obszön, also schmutzig, und anstößig hinsichtlich gesellschaftlich anerkannter Sexualvorstellungen. Ihr Siegeszug beginnt zunächst im skandinavischen Raum der späten 1960er und frühen 1970er Jahre mit Sexfilmen, die die Aufklärungsfilme ablösen, sowie den Sexboutiquen und -kinos. Die Pornographie von gestern ist hierbei nicht selten die Erotik von heute.

Pornographie verzichtet auf eine Vermittlung zwischen dem Betrachter und dem Objekt der Begierde. Sie kennt keine Andeutungen mehr, nur noch Enthüllungen. Sie ist, mit einem Wort Jean Baudrillards, sexueller als der Sex, vielleicht gar ein Ausdruck verkümmerter Phantasie, da zutiefst eintönig und den Ablauf des Aktes beinahe mechanisch wiederholend. Sex wird in der Pornographie zur Konsumware, wenngleich die Spielarten dieser Ware breit gefächert sind: Vom billigen Online-Filmchen bis zur Kunst einer Annie Sprinkle oder eines Jeff Koons.

In der Literatur ist sie mit Namen wie Georges Bataille, dem Marquis de Sade, mit Anaïs Nin, Henry Miller, D.H. Lawrence und anderen verbunden.
Eine Spielart, der de Sade ihren Namen verliehen hat ist der Sadismus, resp. der Sadomasochismus – nach Sigmund Freud die häufigste Form der Perversion, in der ein Mensch Befriedigung durch das Erleben von Schmerz und Demütigung empfindet. Laut dem us-amerikanischen Psychiater Robert Stoller entsteht sexuelle Erregung gar grundsätzlich aus dem (geheimen, verschwiegenen) Wunsch, den Partner zu quälen. Am Ende steht – idealiter – der Orgasmus, wörtlich: das »heftige Verlangen«, bzw. der »kleine Tod«: beschleunigter Blutkreislauf, blutunterlaufene Augen, veränderte Atmungsfrequenz, angespannte Gliedmaßen bis hin zu Raserei und Delirium.

Pornografischer als der Porno

Wenn der Porno sexueller als der Sex ist, dann ist Luries Romanfragment »Haus von Anita« pornografischer als der Porno. Mit Miller & Co. hat Luries Buch im Grunde nichts mehr zu tun. Denn wie auch in vielen seiner Bilder entwirft er hier eine den Geist irritierende Collage aus Sex und extremer Gewalt: Erinnerungen und Anspielungen an Shoah und Vernichtungslager reichern die pornografische Darstellung so an, dass sie nicht mehr einfach konsumiert werden kann, da sie ins Ekelerregende, Blasphemische und bodenlos Obszöne driftet: Mag das Löffeln von Sperma aus einer Tasse durchaus noch in den Bereich des Pornografischen fallen, so überschreiten viele Szenen den guten Geschmack: das Zerstückeln der Körper, zugenähte Lippen, der Verzehr von Menschenfleisch und Exkrementen, das Zerquetschen und Abbeißen eines Penis oder die Penetration mit Hilfe einer toten Maus, sowie die Masturbation mit einem Davidstern. Das ist allenthalben als SS-Pornografie zu bezeichnen, die Lurie der Gesellschaft wie einen Spiegel vorhält. Die Vorbemerkung des Übersetzers spricht ein wenig diplomatischer von einer Meditation »über die Aufzehrung des menschlichen Körpers durch mörderische Zwangsarbeit beziehungsweise sein Verschwinden in der zwanghaft wiederholten Lustsimulation.«

Boris Lurie

In diesem Zusammenhang gilt zu bedenken, wer hier schreibt: Boris Lurie, 1924 in Leningrad in eine säkulare jüdische Familie hineingeboren und in Riga aufgewachsen, starb 2008 in New York. Als Jugendlicher verbrachte er ab 1941 mehrere Jahre in Arbeits- und Konzentrationslagern. 1941 wurden Teile seiner Familie Opfer des Massakers im Wald von Rumbula (Riga). Die SS unter der Leitung von Friedrich Jeckeln erschoss damals mit Hilfe der deutschen Polizei und lettischen Hilfspolizisten rund 27.000 Juden. Lurie ist damals gerade 16 Jahre alt. In einer Stelle des Buches heißt es in Anspielung auf das Massaker: »DU wirst nie wieder sechzehn sein!«
Frida Michelson, die im Buch auch namentlich erwähnt wird, hat dieses Massaker überlebt, weil sie sich totstellte und berichtet in dem erst im Jahre 2020 auf deutsch erschienenen Buch »Ich überlebte Rumbula« (englisch 1979) hiervon.

Nach seiner Befreiung 1945 wandert Lurie ein Jahr später mit seinem Vater in die USA aus, wo er beginnt, als Künstler zu arbeiten. Er begründet die No!Art-Bewegung mit. Grundlage seiner Arbeiten sind die eigenen Erfahrungen in Buchenwald.
Die No!Art ist eine Art Antikunst, die sich gegen die Pop-Art und den abstrakten Expressionismus richtet und Faschismus, Rassismus und Sexismus attackiert. Es ist zudem eine Reflexion jenes Abschaums und jener Verbrechen, mit dem die Massenmedien die Gemüter der damaligen Zeit überfluteten.
Eines seiner bekanntesten Werke ziert auch das Cover seines Buches: Die Railroad-Collage aus dem Jahr 1959, die ein Pin-up-Girl über eine Fotografie legt, auf dem eine Pritsche mit gestapelten Leichen zu sehen ist, und das auf diese Weise die amerikanische Konsumkultur der Shoah gegenüberstellte.

Inhalt des Romans

Diese Gegenüberstellung kennzeichnet auch den Roman »Haus von Anita«. Der Inhalt ist schnell erzählt: Vier Herrinnen residieren in Manhattan, New York, wo sie sich vier Sklaven halten: Fritz, Hans, den Kapo Aldo und Bobby, aus dessen Perspektive die Geschichte erzählt wird. Bobby schildert den Alltag der freiwillig Versklavten, ihre Erlebnisse, ihre Gefühle und Gedanken. Dieser Alltag besteht allein aus purer Gewalt und einer Unzahl sexueller Handlungen.

Eine besondere Rolle nimmt hierbei die jüdische Herrin Judy Stone ein, die zwischenzeitlich geistig degeneriert, doch mit Hilfe von Bobby wieder zu neuem Leben erwacht.
Der Erzähler weiß anfangs nichts von seiner eigenen Herkunft und fragt sich, wer er eigentlich ist. Erst im Laufe der Geschichte erwacht sein biografisches Bewusstsein. Die Sklaven bleiben jedoch weitestgehend auf ihre Schwänze reduziert, sie sind reine »Melkmaschinen«, die den Herrinnen als Spielzeug und Fetisch dienen. Bedingungslos unterwerfen sie sich ihren sadistischen Phantasien: Sie ertragen den Schmerz, die Demütigung, die Misshandlung mit der Ochsenpeitsche oder dem Operationsbesteck stoisch und geilen sich selbst an ihrer Misshandlung auf. Jeder noch so abartige Befehl wird sogleich in die Tat umgesetzt, auch wenn es bedeutet, sich selbst zu quälen. Erscheint Besuch, unterwerfen sie sich auch diesem fraglos.
Bobby schildert all dies so emotional unterkühlt, dass auch Sätze wie »Ficken Sie mich bitte fester …., Sie alte Fotze!« oder »Kann ich Sie dort küssen, wo all die kleinen Juden herkommen?« schon fast als neutrale Beobachtung durchgehen.

Die Sklaven tragen KZ-Bekleidung, eintätowierte Nummern, betätigen sich als Haarsammler. Aus dem Wandschrank wird ein dem Sklaven Bobby teuflisch ähnlich sehender, toter KZ-Häftling als Sexpuppe hervorgeholt. Die Welt wird bemessen »nach Schwanzeslänge und Fotzentiefe.« Körpersäfte fließen unaufhörlich: Sperma, Blut, Kot, Urin, Spucke, Tränen, Kotze und Muttermilch. In den Augen der Sklaven dienen Ekel und Gewalt allein der Kunst ihrer Herrinnen. Am Ende taucht eine Gruppe toter »Touristen« aus Rumbula auf. Sie liegen stinkend im Flur herum. Es ist der Anfang vom Ende der Institution, in der Bobby und die anderen so enthusiastisch dienen.

Anklage

Luries Roman ist Fragment geblieben. Eine Veröffentlichung hat er selbst nicht mehr erlebt. Das Buch ist eine Anklage gegen die Verdrängung der Gräueltaten, eine Aufarbeitung seiner eigenen Traumata, eine Kritik an der sexuell aufgeladenen Konsumkultur und eine böse Satire auf den (damaligen) Kunstbetrieb (die Pop-Art, Giacometti, das Bauhaus, den Kunsthandel etc.). Es ist schonungslos, bewusst Ekel erregend und grotesk. Irritierend ist das Wohlwollen, mit dem der Sklave Bobby all die Perversionen mitmacht und sie zustimmend erträgt. »Haus von Anita« ist keine Unterhaltung, es stemmt sich gegen jede seichte Unterhaltung. In seiner sprachlichen wie inhaltlichen Radikalität provoziert es gewiss auch heute noch, gut 13 Jahre nach Luries Tod.

Artikel online seit 23.03.21
 

Boris Lurie
Haus von Anita
Roman
Aus dem Englischen übersetzt und mit einem Vorwort von Joachim Kalka

Wallstein Verlag
298 S., geb.
24,00 €
978-3-8353-3887-6

 

 


Glanz & Elend
- Magazin für Literatur und Zeitkritik
Home   Termine   Literatur   Blutige Ernte   Sachbuch   Politik   Geschichte   Philosophie   Zeitkritik    Impressum - Mediadaten