Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik

 

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Lob des Zweifels

Sedimente einer Perspektive der Verdachtsmomente auf die Arbeitskultur.
Zu Peter Kern, Die Angestellten zwischen Büroalltag und Fluchtphantasie.

Von Wolfgang Bock

 

Euphemismus und Command & Control

Gibt es heute noch Angestellte? Oder sind jetzt alle nicht mehr nur offiziell Arbeitnehmer, sondern Freelancer, Ich-AGs oder Crowd-Worker, die zur digitalen Bohème gehören? So fragt der Gewerkschaftler Peter Kern in einem Buch, das lange Jahre in seiner Schublade gelegen hat. Er weiß, dass wer Übergreifendes, Allgemeines festhalten will, sich verdächtig macht. Aus dieser Perspektive der Verdachtsmomente aber ergibt sich erst der realistische Blick auf die offiziellen Formeln und die Praxis des Arbeitslebens: sanfte Motivationsstrategien und werteorientierte Führung waren Schlagworte der Neunzigerjahre. Darauf folgten autoritäre Führungsmethoden und organisiertes Mobbing; heute geht es um Work-Life-Balance und ums Home-Office, insbesondere unter Corona-Bedingungen. Doch dahinter macht Peter Kern auch immer noch das Regime von Command & Control aus, dass bereitsteht, um zuzugreifen, wenn die digitalen Glanzlichter ausgehen.[1]

Zurück in die Zukunft

Die Angestellten lautet der Buchtitel einer bekannten Studie von Siegfried Kracauer aus dem Jahre 1930.[2] Daran geht es in kleinen Szenen und Miszellen um den Widerspruch zwischen proletarischer Lage und (falschem) mittelständischen Bewusstsein der prekären Bürgerklasse, die Hitler gewählt und anschließend das Kanonenfutter für den Faschismus abgegeben hatte. Peter Kern nimmt diesen Widerspruch für heute wieder auf. Er erinnert an den Verkauf der politischen Einflussnahme des westdeutschen Proletariats für finanzielle Gadgets wie SUVs und eine digitalisierte Wohnung. Er schreibt so Kracauers Buch noch einmal. Ja, mehr als das: ähnlich wie in Jorge Luis Borges Kurzgeschichte Pierre Menard, Autor des Quijote erscheint er nun mit seinem aktuellen Kommentar und nach ironischer Logik als tatsächlicher und eigentlicher Autor auch von Kracauers Buch.[3]

Rohe Welten, moderne Märchen

Pure Arbeitswelten sind unschön anzusehen. Betrachtet man sie in ihrer rohen Form, so gleichen sie unangestrichenen Karussellen und Jahrmarktsmaschinen auf dem Prüfstand, die ohne den Glanz der Musik und der bunten Lichter ihre Insassen in Zentrifugen herumwirbeln, unter Druck aus großer Höhe fallen lassen, sie testen, auseinandernehmen und so neu zusammensetzen wie auf Bildern von Paul Klee, Joan Miro, Francis Bacon oder Pablo Picasso. Die Farbe, die Musik, die digitalen Gadgets, die exit options auf Mallorca und die anderen Phantasmagorien der Ware, die zu den Illusionen des abgekauften Lebens gehören, bilden eigene kleine autonome Universen: das Handy, das MacBook, der Jeep, der Rucksack, das Tattoo, denen Kern jeweils kleine Texte widmet. Es geht um die Welt als Supermarkt und die Ausweitung der Kampfzone vom Büro in die Freizeitwelt und zurück, wie es bei jungen Michel Houellebecq heißt.[4] Kurz: es geht um Shoppen und Ficken – wie Mark Ravenhill das in seinem erfolgreichen Theaterstück von 1996 nennt.[5] Bei Kern liest sich das im Essay Shopping so:

Eine steigende Geburtenrate verdankt sich einem anhaltenden konjunkturellen Hoch. Mit diesem Hoch steigt die Sorge auf dem Markt der Beziehungen: Sinkt die Fuckability nach einer Schwangerschaft nicht im Kurs? Frauenmagazine können in Nachahmung der Jugendsprache auch drastisch formulieren. Sie achten darauf, dass ihre Leserinnen keine sexuelle Revolution im Rückstand bleiben. Niemand will es gewesen sein, der schon den pubertierenden jungen Frauen ein verstörtes Verhältnis zum eigenen Körper einredet. Nicht die Kosmetikindustrie, nicht die Top-Modell-Shows, nicht die Reklamekampagnen, nicht die Schönheitschirurgie. Die Kulturindustrie arbeitet nach dem Prinzip der organisierten Verantwortungslosigkeit. Sie weiß auch immer Rat. Neuester Trend, neuester Tabubruch: MILF Maker (Mom I'd like to fuck) — ein Work-Out-Programm nach der Schwangerschaft. (S. 99)

Und über die »Kreativen« der Werbeagentur, die das ermöglichen, heißt es ebenso böse wie lakonisch:
»Sie kommen auf teuren Rennrädern ins Büro, tragen das schwarze, eckige Brillenmodell, lesen den neuesten Houellebecq.« (S. 101)
Mit anderen Worten: Thema des Buches ist das Ethos und es handelt sich damit um eine kleine Sittenlehre für Menschen, die in komplexer Reproduktion nicht nur ihre Arbeitskraft, sondern auch ihre Seele zu verkaufen genötigt sind.

Warenform und jüngere Geschichte

Kern pflegt in seinen Analysen einen ausgreifend gebildeten, dabei wunderbar knappen, spröden und desillusionierten Stil, der ebenfalls der langen Reflexion seiner Gegenstände entspringt, einer Ungerechtigkeit à la longe. Das korrespondiert mit den anales der entsprechenden französischen Historikerschule, deren Mitglieder wie Jacques LeGoff das Elend der Zivilisation ebenfalls im Längsschnitt beobachten.[6] Entsprechend ist auch Kerns Perspektive historisch; freilich überblickt er dort die jüngsten Dekaden, wo die Franzosen Jahrhunderte sehen. Für das Ergebnis aber ist der Unterschied nicht groß, handelt es sich doch bei Kerns Fach um die jüngere politische Geschichte. Kern partizipiert an der Innerlichkeitskritik der sich verelenden Bürgerlichkeit. Deren Kritik verdankt sich der älteren Frankfurter Schule, namentlich Siegfried Kracauer, Walter Benjamin und Theodor Adorno; aber auch von Eric Hobsbawm, Pierre Bourdieu oder Richard Sennett ist die Rede. Die luzideste Seite dieser Referenzen Kerns geht auf Karl-Heinz Haag zurück, den eigentlichen Nachfolger Max Horkheimers. Dieser hätte, wäre es ordentlich auf der Welt zugegangen, auch die Leitung des Frankfurter Instituts für Sozialforschung geerbt. Aber weder in dieser noch in jener Welt geht es gerecht zu und auch die Einstellungspraxis des Instituts war in dieser Hinsicht ganz diesseitig.

Das stellt diese Theorien nicht in Abrede und auch nicht die Beobachtungen von Peter Kern. Was mit Kracauer als erzählerische Protoform der genauen soziologischen Analyse begann, wird bei Kern wieder zu der Form, die die Dinge zusammendenkt, die der quantitative Positivismus der Wissenschaft schon längst vergessen und verloren hat, aus der er aber einmal geboren wurde. Kern, der lange Jahre als Gewerkschaftssekretär gearbeitet hat, erzählt und betrachtet die Vorgänge aus gerade jener Klassenperspektive, deren Existenz die neuen wie die alten Sprachspiele von Arbeitgeber und Arbeitnehmer oder Deutsche Arbeitsfront und Deutschland-AG zu vertuschen versuchen. Damit schwimmt er notgedrungen gegen den Strom.

Bürobetrieb und Schreiber

»Motte Mannheimer schneit ins Großraumbüro und gibt einen seiner fulminanten Witze zum Besten. Danach geht alles wieder seinen Gang.« So lautet die Unterschrift zu einem Cartoon von F. K. Waechter. Sie zeigt einen lachenden Angestellten im Anzug, dem zuerst alle zuhören; anschließend beugen sie sich alle wieder über ihre Papiere. Noch gab es keine Computer; das aber ist die Grundsituation der Büroarbeit, der Schreiber, als deren literarische Urtypen Melvilles Bartleby (1853) und Flauberts Bouvard und Pécuchet (1881) gelten können.[7] Entsprechende Geschichten erzählt auch Kern: von Einstellungsprozeduren, Bürohierarchien, Arbeitsteilungen, Motivationsstrategien, Schluss mit lustig, Anpassung durch Haarschnitt und Dresscode, den aufmüpfigen Bückling und andere Formen von Hauen und Stechen untereinander: konformer Nonkonformismus, ökonomisch eingehegte politische Rebellion.

In der Miszelle Einstellungsprozeduren schlägt er beispielsweise den Bogen von Menschenkunde-Büchern aus der Adenauer Zeit bis zum modernen Assessment-Center, der Expropriierung der westdeutschen Arbeiterklasse nach Erledigung der ostdeutschen, nun durch die Lean Production, den Aufstieg der Angestellten in der IT-Branche und dann über das wachsende Verhältnis von Angestellten zu den Arbeitern. Heute gleicht dieses Verhältnis fast demjenigen von Sportlern und Funktionären auf der Olympiade und die (Hand-)Arbeiter werden aus den Immigranten rekurriert. Im Osten werden bis heute nicht nur an den Hochschulen bis zu 1/3 weniger Gehalt gezahlt, sondern es wird auch immer noch mehr gearbeitet. Diese längere Wochenarbeitszeit geht als Standort- und Wettbewerbsvorteil der Ossis durch. Doch Ostdeutschland ist nur eine kleine ökonomische Vorschule für die weiteren Ostländer der EU wie Polen, Ungarn und Rumänien.

Im Kapitel Offshoring, Ausgliederung, Aufsichtsrat geht es dann um die Verlängerung der Arbeitszeit unter Bedingungen der Digitalisierung, um Wertewandel, Projektarbeit und Zeitdruck, um Zeitmanagement und Timeboxing mit flexiblen Arbeitszeiten. Dahinter stehen die Globalisierung und internationale Konkurrenz. Unter den Stichworten Outsourcing und Offshoring lesen wir beispielsweise, wie ein deutscher Kühlschrankhersteller seine Produktion für 1/6 des Arbeitslohns von Deutschland nach Ungarn verlagert. Der scheidende Aufsichtsratsvorsitzende der Firma bekommt zum Abschied einen Goetheanischen Weimarer Musenalmanach von 1798 geschenkt und zitiert daraus bei Goethe: »Tages Arbeit! Abends Gäste! Saure Wochen! Frohe Feste!« Deutschland ist eben immer noch eine Bildungsnation….

Freizeit und Kulturindustrie

Neben den Arbeitstätigkeiten geht es auch um die Freizeitsphäre der Angestellten, über die es bei Kracauer heißt: Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino.[8] Kern sieht, dass das Kino heute kaum noch eine Rolle spielt, dafür aber neben den digitalen Medien wie Handy, Fernseher und Laptop die Fitness, das Shoppen, der Abenteuerurlaub, der Jeep, der Rucksack und das entsprechende Tattoo. Exemplarisch endet der Artikel über das Golfen mit dem Hinweis auf einen Ratschlag aus der Zeitschrift Capital: »Golf ganz klar ein Hobby, dass die Karriere fördert… Vor allem die schnellen, innovativen Industrien wie Computer, Auto und Pharma profitieren von Geschäftsgesprächen auf dem Golfplatz.« Diesem Optimismus einer Schrankenniederlegung zwischen den Klassen stellt Kern einen profunden Pessimismus entgegen: »Der Angestellte ist, entgegen Schillers ästhetische Theorie, nicht einmal, wenn er spielt, ganz Mensch.« (S. 94). Nebenbei entwirft Kern so ein kleines Lexikon der von der Kapitalseite unter der Flagge der falschen Ver-Wir-ung gekaperten Begriffe, das hier in Kolumnenform Wörterbüchern wie Dummdeutsch von Eckehard Henscheid und der Titanic an die Seite gestellt wird.[9]

Kritik und Selbstkritik

Aber Kern kehrt auch vor seiner eigenen Haustür, den Gewerkschaften. In den Essays Gewerkschaftsdilemma und Angestelltenbewußtsein? Selbstaufklärung! fragt er nach der Taubheit, die die zur Neuen Mitte geadelten Angestellten den Gewerkschaften gegenüber besitzen und welche Schuld diese und ihre Politik ebenfalls an dem Dilemma tragen. Er findet einen Gender-Gap, eine allgemeine Bräsigkeit und die Inflexibilität eingeschliffener Sozialformen, sieht aber insgesamt mehr Fremd- als Selbstverschulden am Werk (S. 124). Soviel zur Vergangenheit. Und die Zukunft? Sie erscheint für Kern ebenfalls nicht rosig auf einem Weg, wo die Arbeiter und Angestellte durch Roboter und Helferlein ersetzt werden wie bei Daniel Düsentrieb im Comic und in Tony Starks Ironman-Fabriken im Film. Digitale Unternehmen wie Amazon Air B&B oder Uber fördern auch nicht gerade den Grad gewerkschaftlicher Organisation.

Think twice und der schlechte Pfennig oder: Lob des Zweifels

Es sind das zwanzig kleine und feine Beobachtungen, die Kern hier klug zusammengefügt. Am besten liest man sie so wie einen Adventskalender. Und an den letzten vier Tagen macht man sich einmal kein Abendbrot, sondern Gedanken, wie Wolfgang Neuß das empfiehlt. Denn wenn es gerecht auf der Welt zuginge, dann gäbe dieses Büchlein so etwas wie eine Anleitung, einen roten Faden durch die heutige turbokapitalistische Welt, entsprechend etwa Baltasar Graciáns Handorakel im 17. Jahrhundert ab.[10] Aber leider ist die Welt immer noch aus den Angeln, wie 50 Jahre zuvor Shakespeares Hamlet feststellen musste. Und diejenigen, die anderes sehen und entsprechende Aufgaben annehmen, bleiben bei aller Wahrheit, die sie erkennen und sagen, traurig. Dennoch besitzt Kerns Blick auf die Dinge einen starken Unterstrom. Die von ihm angesprochenen Wahrheiten vermögen sich möglicherweise auf andere Weise – in Rhizomen, Karikaturen, in Memen oder wie auch immer – neu zu organisieren. Ironie, sagte Walter Benjamin einmal, sei die europäischste aller Eigenschaften: die Ungerechtigkeit zu sehen und dennoch nicht zu verzweifeln. Und bevor etwas getan wird, muss es zuerst gedacht werden. Ein Songtitel wie Don’t think twice, I am alright von Bob Dylan versteht das nur halb. Dylan verkauft daher auch die Rechte an seiner Musik und an seinen Texten mal eben für 300 Millionen Dollar an den weltgrößten Musikkonzern Universal.[11] Und er verkauft damit auch die Hoffnungen seiner Anhänger auf ein besseres und klügeres Leben gleich mit. Auch dagegen sei mit Peter Kern klug an die Ambivalenz, die Ironie, die Melancholie und an Brechts »Lob des Zweifels« von 1934 erinnert:

»Gelobt sei der Zweifel! Ich rate euch, begrüßt mir
Heiter und mit Achtung den
Der euer Wort wie einen schlechten Pfennig prüft!«

[1] Center for Command & Control ist übrigens auch der offizielle Name im ansonsten Portugiesisch sprechenden Rio de Janeiro, wo man sonst noch kein Ohr für die englischen Euphemismen hat: es handelt sich um das neu gebaute Polizeigebäude, das also noch nicht Küsse und Umarmungen, Beijos e abraços, heißt wie der Spitzname für das alte Gebäude, in dem zu Zeiten der Militärdiktatur fleißig gefoltert wurde.
[2] Vgl. Siegfried Kracauer, Die Angestellten: Aus dem neuesten Deutschland (1930), Frankfurt am Main: Suhrkamp 1971.
[3] Vgl. Jorge Luis Borges, Pierre Menard, Autor des Quijote. In: Universalgeschichte der Niedertracht, Fiktionen, das Aleph. Der Erzählungen erster Teil Borges, München: Hanser 1991.
[4] Vgl. Michel Houellebecq, Ausweitung der Kampfzone, Berlin: Wagenbach 2012, ders., Die Welt als Supermarkt, Reinbek: Rowohlt 1991.
[5] Vgl. https://rowohlt-theaterverlag.de/tvalias/stueck/72238.
[6] Vgl. z.B. Jacques LeGoff, Die Geschichte Europas, Beltz und Gelberg, Weinheim, Basel, Berlin 2000.
[7] Vgl. Herman Melville, Bartleby, der Schreiber – eine Geschichte aus der Wall Street (1853), Frankfurt am Main / Leipzig: Insel-Verlag 2004 und Gustave Flaubert, Bouvard und Pécuchet: Roman (1881), Frankfurt am Main: Fischer 2009.
[8] Vgl.: Kracauer - Ladenmädchen.
[9] Vgl. Eckhard Henscheid und Chlodwig Poth, Dummdeutsch: Ein satirisch-problemisches Wörterbuch, Frankfurt am Main: Fischer 1985.
[10] Vgl. Baltasar Gracián, Handorakel und Kunst der Weltklugheit, hrsg. von Hans Ulrich Gumbrecht, Ditzingen: Reclam 2020.
[11] Vgl. „Bob Dylan verkauft Songrechte an Universal“, https://www.dw.com/de/bob-dylan-verkauft-songrechte-an-universal/a-55848379.

Artikel online seit 10.12.20
 

 

 


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