Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik

 

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Europa – seine zwei letzten Dezennien

Der niederländische Großjournalist Geert Mak
bilanziert den historischen Augenblick

Von Wolfram Schütte
 

Der Soziologe & Jurist Geert Mak ist bei uns unter den gegenwärtigen europäischen Sachbuchautoren sowohl der populärste als auch Auflagen stärkste. (Nur der Schweizer Jean Ziegler, der auch von juristisch-soziologischer Basis aus seine Kapitalismus-kritischen Bücher & Polemiken schreibt, könnte dem Niederländer das Wasser reichen – was den Erfolg seiner Bücher angeht.)

Zuerst schrieb Geert Mak die Geschichte des Dorfs, aus dem seine Familie stammte, im Augenblick von dessen historischem Untergang oder er beschäftigte sich detailliert mit dem abenteuerlichen Lebensweg seiner Eltern, die als Pfarrersfamilie in den ostasiatischen Kolonien während des 2. Weltkriegs in japanische Gefangenschaft geraten waren. Dann entwarf  er ein historisch-panoramatisches Porträt Amsterdams, das er später gewissermaßen in Nahaufnahme wiederholte, indem er die Familiengeschichte der Amsterdamer Dynastie Six rekonstruierte.

Mit seinen jüngsten Büchern griff der 1946 geborene Journalist weit über seine niederländische Heimat hinaus. Ich meine vor allem »In Europa« (2005) & jetzt »Große Erwartungen« (2020), das gewissermaßen Sequel & wiederholte Reflexion  »des Europäischen Traums« ist, auf dessen Spurensuche beide Bücher sind.

Während seine erste Besichtigung Europas das ganze 20. Jahrhundert umfasst & bis zur Jahrtausendwende reichte, hat seine Fortsetzung mit dem bekannten Dickens-Titel nur die beiden folgenden Jahrzehnte im Blick. Immer aber behält der Autor »Bodenhaftung«, geht er von Orten oder Personen aus & knüpft derart ein Netzwerk von Bezügen, mit dem er seine Beschwörung  & Imagination Europas literarisch einfängt. Die Orte hat er alle selbst besucht & dort mit Kreti & Pleti sich recherchierend unterhalten – was entscheidend zur sinnlichen Farbigkeit seines Europa-Bildes beiträgt. Immer wieder versetzt einen der Erzähler mit diesen »Nahaufnahmen« an & in zentrale Augenblicke Europas & mögen diese Orte auch an der Peripherie liegen, wie z.B. das nordnorwegische Kirkenes (am Anfang von »Große Erwartungen«). Von dieser Stadt hatte ich noch nie gehört – wobei weniger die wechselhafte Beziehung des Grenzortes zu Russland für mich die wichtigste Information war, sondern die Tatsache, dass Kirkenes am Ende des 2. Weltkriegs von der sowjetischen Luftwaffe in Grund & Boden bombardiert worden war!  Es sind solche »Nebensachen«, die in seinen  Büchern für Überraschungen sorgen.

Das Einzigartige der Bücher Maks ist die ebenso riskante wie eigenwillige Kombination aus persönlich recherchiertem Erlebnisbericht & journalistisch kondensierter Alltags-& politisch-sozialer Zeitgeschichte, die der Autor aus einer Vielzahl von Zeitungen, Zeitschriften & Büchern sich angelesen & aus TV-Dokumenten oder Filmen memoriert hat. Er selbst ist auch als TV-Journalist unterwegs, bedauerlicherweise konnte man seine europaweiten Reisesendungen nicht bei uns nicht sehen.

Geert Maks Neugier ist unersättlich, sein Wissen stupend, seine sinnliche Erzähl-& Darstellungskraft ebenso bewundernswert wie »süffig«. Wenn er einen erst einmal als Leser eingefangen hat, verlässt man ihn nur noch unwillig.

Der breite & mäandrierende Verlauf seiner Großerzählung von dem Bildungsroman der Europäischen Union  wird aus vielen Quellen gespeist; und obwohl Geert Mak erkennbar politisch ein Links-Liberaler ist & den Neoliberalismus sehr kritisch sieht, sucht seine Darstellung weitgehend fair & episch-vielstimmig die von ihm erfahrene Welt zwischen Sankt Petersburg & Barcelona, Kirkenes  & Lesbos oder Odessa zur Wort kommen zu lassen.

Zwischen die chronologisch fortschreitende Erzählung von der Einführung des Euro bis zum Epilog, der in diesem Frühjahr endet, montiert er erzählte Selbstporträts von Emigranten in Europa, worunter auch z.B. eine »in Haifa geborene christliche Palästinenserin gehört, die sich in einen Finnen verliebt hatte & noch mit 50 Jahren von Helsinki nach Amsterdam gezogen ist. Es sind aus Interviews stilisiert-kondensierte Selbstaussagen, wie man sie aus den kollektiven Memorials der belorussischen Nobelpreisträgerin Svetlana Alexijewitschs kennt.

Mit diesen stilistisch andersartigen Passagen versammelt Geert Mak 7 reale Personen zu einer literarisch erschaffenen Galerie europäischer Menschen. Sie sind gewissermaßen zugleich sinnlich evozierte Selbstporträts wie auch symbolische Verkörperungen einer multi-ethnischen menschlichen Existenz, die der multi-identischen Utopie des heutigen Europäers schon näher ist, als die autochthonen Angehörigen der verschiedenen Nationalstaaten.

Andererseits verdichtet er seine im wesentlichen chronologischen Darstellungen von den Ups & Downs Europas zwischen 1999 & dem Frühjahr 2020 immer wieder in einlässlichen biographistischen Abrissen der politischen Hauptakteure, auch der Weltpolitik wie z.B. Donald Trump & Wladimir Putin. Nirgendwo habe ich z.B. die spezifische Organisation & Struktur der mafiotischen Macht-Elite des gegenwärtigen Russlands transparenter dargestellt gesehen als von Geert Mak – der natürlich beim vorausgegangenen Recherchieren für sein jüngstes Panorama Europas auf den Schultern vieler spezieller Kenntnisriesen stand.

Um das Lektüre-Abenteuer seiner »Großen Erwartungen« annähernd zu charakterisieren, könnte man davon sprechen, dass es dem Schmökern-mit-roten-Ohren gleicht, das sich mit  frühen Jugendlektüren wie »Götter, Gräber und Gelehrte« oder Schwabs »Sagen des klassischen Altertums« erinnernd verbindet. Obwohl man als älterer informierter deutscher Leser von Mak (mit leichter Blickverschiebung durch seinen niederländischen Bezugsrahmen) von dem eloquenten Autor doch nur nacherzählt bekommt, was man selbst als Zeitgenosse miterlebt hatte, ist man doch fasziniert von der Erlebnisfülle der von dem Niederländer hier versammelten historischen Ereignisse, die Europa (& zu einem Gutteil auch den übrigen Erdball) heimsuchten - & von denen man so manche bereits ins Vergessen verdrängt hatte. Er erhellt das Dunkel des gelebten Augenblicks & bringt unsere (europäische) Geschichte zum Leuchten.

Artikel online seit 03.09.20
 

Geert Mak
Große Erwartungen
Auf den Spuren des europäischen Traums
Aus dem Niederländischen von Andreas Ecke
Siedler-Verlag
640 Seiten
38,00 €   
978-3-8275-0137-0  

 

 


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