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Letzte Worte

Gesine Palmers Bericht aus der Zollbude des Todes

»
Tausend Tode. Über Trauer reden«


Von Wolfgang Bock
 

An der Abbruchkante
Gesine Palmer, die Tochter eines Heidepastors, arbeitet als freie Trauerrednerin in Berlin. Mehr als tausend Trauerreden hat sie bereits gehalten. Sie veröffentlicht darüber nun ein Buch, das weniger eine Anleitung für Trauerreden als vielmehr eine kluge Reflexion des Lebens darstellt. Die Autorin ist eine berufene Erzählerin, das merkt man jedem ihrer Sätze an, die komplizierte Dinge einfach sagt, ohne sie zu simplifizieren. Das kleine Buch liest sich leicht und lässt den Leser doch schweren Herzens zurück, auch weil er bald erkennen muss, wie schwer diese Leichtigkeit erkämpft ist. Die Mimesis pflanzt sich nämlich dennoch fort. Am besten setzt man sich nach der Lektüre still in eine Ecke und weint ein wenig vor sich hin. Nach solcher Katharsis geht es dann schon besser.

Pagane Riten
Die Autorin versteht sich als eine Art von Schamanin, die den Übergang vom Leben ins Totenreich und wieder zurück regelt; eine Art existential der Religion: das, was von dieser übrig bleibt, wenn man alles andere an Ritualen und Institutionen so von ihr abzieht, wie es traditionell die Ketzer taten. Das produziert eine neue Zwischenwelt. Neben Friedhöfen ist denn im Buch auch sehr viel die Rede von „Friedwäldern“, „Försterinnen“ und „Feierhallen aus der ehemaligen DDR“. Nach zwanzig Jahrhunderten Christentum kehrt das Heidentum zurück in die Zentren der westlichen Welt. Die Körper von Verstorbenen werden nicht mehr in den Boden gesenkt, sondern als Asche ins Meer gestreut, von Berggipfeln verweht, in Friedwäldern vergraben oder im eigenen Garten hingestellt. Berlin als paganes Paradies von Naturreligionen. Hätte Sören Kierkegaard sich das träumen lassen? Wäre das eine Vision von Franz Rosenzweig gewesen und was hätte Martin Luther dazu gesagt, nach Augustinus doch der heidnischste unter den Christen? Sie würden sich wahrscheinlich im Grabe herumdrehen, wenn Sie wüssten, was hier als Religion, die übrig bleibt, wenn man ihrer Kriminalgeschichte (Deschner) ansichtig ist, getrieben wird.

Das Buch ist dennoch aus vielerlei Gründen nahegehend. Gesine Palmer schreibt eine berührende Prosa, sodass es fast gleichgültig ist, worüber sie schreibt. Und wenn man nicht wüsste, dass sie tatsächlich so ihr Brot verdient, lesen sich die Beschreibungen, als hätte sie sie erfunden. Einfühlsam und spröde verfasst sie so eine kluge Selbstreflexion der eigenen Tätigkeit und des eigenen Lebensweges. Das erinnert vom Stil her ein wenig an die zeitkritischen Bücher von Anne Weber, der Urenkelin von Florenz Christian Rang, in ihrem Buch Ahnen: Ein Zeitreisetagebuch (Frankfurt am Main: Fischer 2013). Vielleicht hängt das doch mit dem Thema zusammen, denn so wie Weber über ihren Urgroßvater schreibt, so hatte Gesine Palmer mit Achilles. Ein Roman von Heldentum und Wahnsinn (Berlin: Edition Octopus 2003) ein beachtliches ebenfalls semi-fiktionales Werk über ihre Familie vorgelegt.

Nebenschauplätze, Dystopien
In ihrem neuen Bändchen berichtet sie nun in fünf Kapiteln, die den Erzählfluss ein wenig gliedern – in dessen Mitte die Beschreibung einer Reise an das Tote Meer im Grabenbruch zwischen Israel und Jordanien sich findet – über ihre Tätigkeit an der Abbruchkante des Lebens zum Tod hin. Das wichtigste sind im Essay traditionell die vermeintlichen Nebensachen, die die Atmosphäre ausmachen: die Leser erfahren einiges über ungestreute Friedhofswege, den Streit der Erbenden und die Probleme mit den Erstkontakten, die die Trauerrednerin mit Psychologen, Astrologen, Pastoren und Eröffnungsrednern von Kunstausstellungen teilt. Die Orte, an denen sich das Geschehen abspielt, sind kahl und ungeheizt, nicht nur die Frage nach den passenden Worten, sondern auch nach den richtigen Kleidern treibt die Rednerin um. Diese sollen dezent sein, aber trotzdem wärmen im Winter; im Sommer dürfen sie kühl genug sein. In „Friedwäldern“ trifft sie auf Försterinnen, die die Urnen der Verstorbenen so geschickt verstecken, wie die Berliner ihre Mauer in manchen Stadtteilen, sodass man sie nicht wiederfinden kann. Neben solche Unorte treten konfessionelle „Trauerhallen“ auf Friedhöfen, deren Toiletten in der Regel einiges zu wünschen übrig lassen, sodass die Autorin davon träumt, wenn sie einmal reich geworden ist, eine Stiftung zu deren Pflege einzurichten. Daneben hören wir von „privaten Trauerhallen“ und Instituten, erfahren, dass es zu wenig und durch ein Planungsfehler dann doch genügend Platz für muslimische Bestattung in Berlin gibt oder dass ein polnisches Begräbnis billiger ist als ein deutsches. Die Autorin nimmt uns mit in die Welt der privaten Bestatter, die in ihrem Zeichen eine Lilie führen und glücklose Filmemacher im Empfang beschäftigen. Sie berichtet aus dem Nähkästchen, wenn sie gesteht, dass sie ihre Beiträge nicht zu einfach gestalten will, sondern extra enigmatische Motive aus Gedichten von Rainer Maria Rilke, Marieluise Kaschnitz oder Goethes West-Östlichen Diwan einflechtet. Von schönen Bestattungsunternehmern ist die Rede, die während der Trauerfeier auf ihrem Handy spielen, das freilich auf lautlos gestellt ist. Auf ihre Nachfrage, was das denn zu bedeuten habe, bekommt sie dann die Antwort, es sei wichtig gewesen. Was aber kann wichtiger sein als der Tod? Für den Geschäftsmann muss die Antwort lauten: der nächste Tod! Auch das heißt, das aus der Sicht der Leiche das Leben die Produktion darstellt.

Das Tote Meer
Im Mittelteil berichtet die Autorin von einer Reise nach Israel und ans Tote Meer. Man erfährt, dass sie nicht das erste Mal dort ist, denn Jerusalem erkennt sie „mit den Füßen“. Damit meint sie wohl die harten Felsen der Stadt, die entsprechende Ansprüche an die Besucher stellen. In die Beschreibungen der großen Salzfläche, die 200 m unter dem Meeresspiegel liegt und deren Wasser nicht abfließt, wird behutsam der Bericht über das Begräbnis einer Freundin eingeflochten, die an Krebs gestorben ist. Deren Trauerfeier wird von einem anderen Freund gehalten, mit dem die Autoren eine vergangene Liebesbeziehung verbindet. Rätselhaft bleibt, warum die Liebenden auseinandergegangen sind und genauso rätselhaft wird beschrieben, dass sie nun anschließend das Grab der Freundin nicht mehr finden kann.

Professionelle Spitzfindigkeiten
Die letzten beiden Abschnitte des Buches beschäftigen sich mit den Antinomien ihres Berufes: zwielichtig sind die Professionellen dieser Sparte. Schon als Kind fielen ihr die obligaten Alkoholfahnen der Sargträger auf. An den Rändern des Lebens treibt dieses Personal der Friedhöfe selbst zu Spitzfindigkeiten; das weiß man nicht allein seit Hamlets berühmter Leichenrede. Urnen- und Sargträger wird jemand, der tendenziell zu nicht viel anderem mehr taugt und Ähnliches gilt wahrscheinlich für die andere Mischpoke, die sich auf den Friedhöfen herumtreibt: aus der früheren Heerschar der Nackten und Wilden, die angesichts der Toten und Untoten ihrer heidnischen Rituale dionysisch feierten, sind heute freilich braven und apollinischen FriedhofsgärtnerInnen, Bestatter, Träger, OrganistInnen und eben TrauerrednerInnen geworden, denen man die Rasereien, von denen Philipp Ariès in seiner Geschichte des Todes berichtet, nicht mehr zutrauen möchte. Aber wenn nach der fünften Trauerfeier in Folge unter diesen Professionellen in der Pause schon mal ein Gelächter aufschallt, dann zucken die jeweils neu Trauernden doch zusammen. „Schwarzer Humor“ und „Entlastungshandlungen“ verbinden pagane Wut gegen das Christentum mit moderner systemischer Psychologie zumindest in der Terminologie. Das löckt traditionell gegen den Stachel der Bigotten und nicht Wenige lachen auf Begräbnissen, wenn auch oft aus der eigenen Familie. Es sind diese Widersprüche, die die Angelegenheit interessant machen. Schon bei Dante ist die Hölle das Interessante.

Siebter Höllenkreis, zweiter Ring
Neben den sprachlichen Ungetümen der „Feierhallen“ und „Friedwälder“ befasst sich das letzte Kapitel mit den Selbstmördern, die traditionell außerhalb der offiziellen Friedhöfe begraben werden mussten und bei Dante im siebten Kreis, zweiter Ring, der Hölle wohnen. Auch diese bilden also den Stachel im Fleisch einer allzu optimistischen Religion und wir erfahren hier von der Autorin, dass ihnen ihre Sympathie gilt. Sie stellt keine Diagnosen, wenn sie auch schon einmal etwas über einen „verdammten Krebs“ sagt. Erbsünde, göttliche Strafen und Schuld im Sinne von Augustinus und Luther, die die christliche Religion angesichts des Todes auch immer gern parat hält, sind für sie fehl am Platze. Sie zeigt dagegen messianische Milde, Erbarmen und Freundlichkeit im Sinne von Franz Rosenzweigs Stern der Erlösung, der sein Antlitz jedem zuwendet. Am Schluss ist von den Schmetterlingen die Rede, die wir von holländischen Gemälden als Seelentiere der Metamorphose kennen, denen die Biologie ihre wahre Bedeutung nicht abzuluchsen versteht:

»Die Schmetterlingsmannschaft kommt wieder, immer noch in derselben unschlüssigen und zugleich absolut deutlich wirkenden schwirrenden Formation. Sie scheinen sich nicht zu berühren, aber ihre Wege beeinflussen einander unentwegt.«

Ihr Bild dieses scheinbar ungeordneten Schmetterlingsfluges beschreibt durchaus das, was man sich heute aufgeklärt unter einem Leben vorstellt. Es sind diese gegenläufigen Motive der scheinbaren Harmlosigkeit in den Nebensachen und dem Ausblenden der Gewalt in der Hauptsache, die das Buch als Erzählung so lesenswert machen.

Ein kleiner Aufenthalt
Der Rezensent fühlt sich, wenn er denn ein Bild für die Tätigkeit der Trauerrednerin finden soll, an eine kleine Szene aus dem Film Die Ferien des Monsieur Hulot von Jacques Tati aus dem Jahre 1954 erinnert. Dort erleidet der Protagonist, der in einem Meereshotel in der Normandie wohnt, auf einem Ausflug ins Landesinnere mit seinem Auto eine Panne vor einem Friedhof. Hier findet zufällig ein Begräbnis statt. Er räumt gerade den bereits halb aufgeblasenen Reserveschlauch aus dem Kofferraum und wirft ihn hinter sich. Dieser landet in einen Haufen mit Blättern. Wie durch Zauberhand bleiben diese an dem Gummischlauch hängen und als Hulot den Reifen in die Hand nimmt und diesen Vorgang gerade bestaunt, tritt ein Friedhofsträger mit einem Trauergebinde in der einen Hand gemessenen Schrittes heran. Er erkennt in dem vormals profanen Ersatzreifen nun einen Lorbeerkranz, den er dem Automobilisten abnimmt und zu den anderen Trauergästen an die Begräbnisstätte mitnimmt. Als Hulot sich schüchtern unter die Trauernden mischt, erkennen diese in ihm einen anscheinend bislang verschollenen Verwandten. Jedenfalls reihen sie ihn in die Familie ein, die keine Einwände erhebt. Nun defilieren alle anderen Trauergäste auch an ihm vorbei und der muss viele Hände schütteln, bis er am Ende seinen Reifen zurückbekommt und diesen weiter montieren kann.[1]

Tatis Messianismus ist durchaus vom Rosenzweig‘schen Schlage und ähnlich mag es auch unserer Autorin in der Hinsicht gegangen sein, wie sie zu ihrem Beruf gekommen ist. Möglich, dass es auch bei ihr gleichsam eine unscheinbare Panne vor einem Friedhof gegeben hat und sie, die sich doch durch ein Judaistikstudium auch von der christlichen Religion emanzipieren wollte, sich nun auf einmal in der Familie aller Trauernden wiederfindet und ihnen zum Trost die Hände schüttelt, bevor sie weiterfahren kann. Was sie dabei erlebt, schildert sie in ihrem Buch.

Eine ideelle Leichenrede
Eine konkrete Leichenrede aber hält sie uns vor. Wie eine solche idealtypisch aussehen könnte, lässt sich aus dem wunderbaren Buch eines ihrer Vorläufer aus dem Barock lernen, nämlich des Pastors, Verfassers einer Anweisung für Barockdichter und Lohenstein-Schülers Johann Christoph Männling (1658-1723). Bei diesem heißt es über diese Welt:

»Wer diese gebrechliche Hüten/ wo das Elend alle Ecken zieret/ mit einem vernünftigen Wortschlusse wolte begläntzen/ der würde keinen unförmlichen Ausspruch machen/ noch das Zielmaß der gegründeten Wahrheit überschreiten/ wann er die Welt nennte einen allgemeinen Kauffladen/ eine Zollbude des Todes/ wo der Mensch die gangbahre Wahre/ der Tod der wunderbahre Handels-Mann/ Gott der gewisseste Buchhalter/ das Grab aber das versiegelte Gewand und Kauff-Hauß ist.[2]«

In diesem Sinne sagt Gesine Palmer über Amoz Oz – und alle anderen, die sie begleitet hat – im Dialekt ihrer Heimat: »De is ok all dood bleven.«

[1] https://www.youtube.com/watch?v=c77ewy04fcc, zuletzt zugegriffen am 4. 7. 2020.

[2] Johann Christoph Männling, Schaubühne des Todes/ Oder Leich-Reden. Wittenberg 1692. S. 367, zitiert nach Walter Benjamin, Der Ursprung des deutschen Trauerspiels (1928), in: Gesammelte Schriften, herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999, Bd. 1, S. 336.

Artikel online seit 10.07.20
 

Gesine Palmer
Tausend Tode

Über Trauer reden
PalmArtPress
150 Seiten
20,00 €
9783962580414

 

 


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