An der Abbruchkante
Gesine Palmer, die
Tochter eines Heidepastors, arbeitet als freie Trauerrednerin in Berlin. Mehr
als tausend Trauerreden hat sie bereits gehalten. Sie veröffentlicht darüber nun
ein Buch, das weniger eine Anleitung für Trauerreden als vielmehr eine kluge
Reflexion des Lebens darstellt. Die Autorin ist eine berufene Erzählerin, das
merkt man jedem ihrer Sätze an, die komplizierte Dinge einfach sagt, ohne sie zu
simplifizieren. Das kleine Buch liest sich leicht und lässt den Leser doch
schweren Herzens zurück, auch weil er bald erkennen muss, wie schwer diese
Leichtigkeit erkämpft ist. Die Mimesis pflanzt sich nämlich dennoch fort. Am
besten setzt man sich nach der Lektüre still in eine Ecke und weint ein wenig
vor sich hin. Nach solcher Katharsis geht es dann schon besser.
Pagane Riten
Die Autorin versteht
sich als eine Art von Schamanin, die den Übergang vom Leben ins Totenreich und
wieder zurück regelt; eine Art existential der Religion: das, was von
dieser übrig bleibt, wenn man alles andere an Ritualen und Institutionen so von
ihr abzieht, wie es traditionell die Ketzer taten. Das produziert eine neue
Zwischenwelt. Neben Friedhöfen ist denn im Buch auch sehr viel die Rede von
„Friedwäldern“, „Försterinnen“ und „Feierhallen aus der ehemaligen DDR“. Nach
zwanzig Jahrhunderten Christentum kehrt das Heidentum zurück in die Zentren der
westlichen Welt. Die Körper von Verstorbenen werden nicht mehr in den Boden
gesenkt, sondern als Asche ins Meer gestreut, von Berggipfeln verweht, in
Friedwäldern vergraben oder im eigenen Garten hingestellt. Berlin als paganes
Paradies von Naturreligionen. Hätte Sören Kierkegaard sich das träumen lassen?
Wäre das eine Vision von Franz Rosenzweig gewesen und was hätte Martin Luther
dazu gesagt, nach Augustinus doch der heidnischste unter den Christen? Sie
würden sich wahrscheinlich im Grabe herumdrehen, wenn Sie wüssten, was hier als
Religion, die übrig bleibt, wenn man ihrer Kriminalgeschichte (Deschner)
ansichtig ist, getrieben wird.
Das Buch ist dennoch aus vielerlei Gründen nahegehend. Gesine Palmer schreibt
eine berührende Prosa, sodass es fast gleichgültig ist, worüber sie schreibt.
Und wenn man nicht wüsste, dass sie tatsächlich so ihr Brot verdient, lesen sich
die Beschreibungen, als hätte sie sie erfunden. Einfühlsam und spröde verfasst
sie so eine kluge Selbstreflexion der eigenen Tätigkeit und des eigenen
Lebensweges. Das erinnert vom Stil her ein wenig an die zeitkritischen Bücher
von Anne Weber, der Urenkelin von Florenz Christian Rang, in ihrem Buch
Ahnen: Ein Zeitreisetagebuch (Frankfurt am Main: Fischer
2013). Vielleicht hängt das doch mit dem Thema zusammen, denn so wie Weber über
ihren Urgroßvater schreibt, so hatte Gesine Palmer mit
Achilles. Ein Roman von Heldentum und Wahnsinn (Berlin:
Edition Octopus 2003) ein beachtliches ebenfalls semi-fiktionales Werk über ihre
Familie vorgelegt.
Nebenschauplätze, Dystopien
In ihrem neuen Bändchen
berichtet sie nun in fünf Kapiteln, die den Erzählfluss ein wenig gliedern – in
dessen Mitte die Beschreibung einer Reise an das Tote Meer im Grabenbruch
zwischen Israel und Jordanien sich findet – über ihre Tätigkeit an der
Abbruchkante des Lebens zum Tod hin. Das wichtigste sind im Essay traditionell
die vermeintlichen Nebensachen, die die Atmosphäre ausmachen: die Leser erfahren
einiges über ungestreute Friedhofswege, den Streit der Erbenden und die Probleme
mit den Erstkontakten, die die Trauerrednerin mit Psychologen, Astrologen,
Pastoren und Eröffnungsrednern von Kunstausstellungen teilt. Die Orte, an denen
sich das Geschehen abspielt, sind kahl und ungeheizt, nicht nur die Frage nach
den passenden Worten, sondern auch nach den richtigen Kleidern treibt die
Rednerin um. Diese sollen dezent sein, aber trotzdem wärmen im Winter; im Sommer
dürfen sie kühl genug sein. In „Friedwäldern“ trifft sie auf Försterinnen, die
die Urnen der Verstorbenen so geschickt verstecken, wie die Berliner ihre Mauer
in manchen Stadtteilen, sodass man sie nicht wiederfinden kann. Neben solche
Unorte treten konfessionelle „Trauerhallen“ auf Friedhöfen, deren Toiletten in
der Regel einiges zu wünschen übrig lassen, sodass die Autorin davon träumt,
wenn sie einmal reich geworden ist, eine Stiftung zu deren Pflege einzurichten.
Daneben hören wir von „privaten Trauerhallen“ und Instituten, erfahren, dass es
zu wenig und durch ein Planungsfehler dann doch genügend Platz für muslimische
Bestattung in Berlin gibt oder dass ein polnisches Begräbnis billiger ist als
ein deutsches. Die Autorin nimmt uns mit in die Welt der privaten Bestatter, die
in ihrem Zeichen eine Lilie führen und glücklose Filmemacher im Empfang
beschäftigen. Sie berichtet aus dem Nähkästchen, wenn sie gesteht, dass sie ihre
Beiträge nicht zu einfach gestalten will, sondern extra enigmatische Motive aus
Gedichten von Rainer Maria Rilke, Marieluise Kaschnitz oder Goethes
West-Östlichen Diwan einflechtet.
Von schönen Bestattungsunternehmern ist die Rede, die während der Trauerfeier
auf ihrem Handy spielen, das freilich auf lautlos gestellt ist. Auf ihre
Nachfrage, was das denn zu bedeuten habe, bekommt sie dann die Antwort, es sei
wichtig gewesen. Was aber kann wichtiger sein als der Tod? Für den Geschäftsmann
muss die Antwort lauten: der nächste Tod! Auch das heißt, das aus der Sicht der
Leiche das Leben die Produktion darstellt.
Das Tote Meer
Im Mittelteil berichtet
die Autorin von einer Reise nach Israel und ans Tote Meer. Man erfährt, dass sie
nicht das erste Mal dort ist, denn Jerusalem erkennt sie „mit den Füßen“. Damit
meint sie wohl die harten Felsen der Stadt, die entsprechende Ansprüche an die
Besucher stellen. In die Beschreibungen der großen Salzfläche, die 200 m unter
dem Meeresspiegel liegt und deren Wasser nicht abfließt, wird behutsam der
Bericht über das Begräbnis einer Freundin eingeflochten, die an Krebs gestorben
ist. Deren Trauerfeier wird von einem anderen Freund gehalten, mit dem die
Autoren eine vergangene Liebesbeziehung verbindet. Rätselhaft bleibt, warum die
Liebenden auseinandergegangen sind und genauso rätselhaft wird beschrieben, dass
sie nun anschließend das Grab der Freundin nicht mehr finden kann.
Professionelle Spitzfindigkeiten
Die letzten beiden
Abschnitte des Buches beschäftigen sich mit den Antinomien ihres Berufes:
zwielichtig sind die Professionellen dieser Sparte. Schon als Kind fielen
ihr die obligaten Alkoholfahnen der Sargträger auf. An den Rändern des Lebens
treibt dieses Personal der Friedhöfe selbst zu Spitzfindigkeiten; das weiß man
nicht allein seit Hamlets berühmter Leichenrede. Urnen- und Sargträger wird
jemand, der tendenziell zu nicht viel anderem mehr taugt und Ähnliches gilt
wahrscheinlich für die andere Mischpoke, die sich auf den Friedhöfen
herumtreibt: aus der früheren Heerschar der Nackten und Wilden, die angesichts
der Toten und Untoten ihrer heidnischen Rituale dionysisch feierten, sind heute
freilich braven und apollinischen FriedhofsgärtnerInnen, Bestatter, Träger,
OrganistInnen und eben TrauerrednerInnen geworden, denen man die Rasereien, von
denen Philipp Ariès in seiner Geschichte
des Todes berichtet, nicht mehr zutrauen möchte. Aber wenn nach der
fünften Trauerfeier in Folge unter diesen Professionellen in der Pause schon mal
ein Gelächter aufschallt, dann zucken die jeweils neu Trauernden doch zusammen.
„Schwarzer Humor“ und „Entlastungshandlungen“ verbinden pagane Wut gegen das
Christentum mit moderner systemischer Psychologie zumindest in der Terminologie.
Das löckt traditionell gegen den Stachel der Bigotten und nicht Wenige lachen
auf Begräbnissen, wenn auch oft aus der eigenen Familie. Es sind diese
Widersprüche, die die Angelegenheit interessant machen. Schon bei Dante ist die
Hölle das Interessante.
Siebter Höllenkreis, zweiter Ring
Neben den sprachlichen
Ungetümen der „Feierhallen“ und „Friedwälder“ befasst sich das letzte Kapitel
mit den Selbstmördern, die traditionell außerhalb der offiziellen Friedhöfe
begraben werden mussten und bei Dante im siebten Kreis, zweiter Ring, der Hölle
wohnen. Auch diese bilden also den Stachel im Fleisch einer allzu optimistischen
Religion und wir erfahren hier von der Autorin, dass ihnen ihre Sympathie gilt.
Sie stellt keine Diagnosen, wenn sie auch schon einmal etwas über einen
„verdammten Krebs“ sagt. Erbsünde, göttliche Strafen und Schuld im Sinne von
Augustinus und Luther, die die christliche Religion angesichts des Todes auch
immer gern parat hält, sind für sie fehl am Platze. Sie zeigt dagegen
messianische Milde, Erbarmen und Freundlichkeit im Sinne von Franz Rosenzweigs
Stern der Erlösung, der sein
Antlitz jedem zuwendet. Am Schluss ist von den Schmetterlingen die Rede, die wir
von holländischen Gemälden als Seelentiere der Metamorphose kennen, denen die
Biologie ihre wahre Bedeutung nicht abzuluchsen versteht:
»Die
Schmetterlingsmannschaft kommt wieder, immer noch in derselben unschlüssigen und
zugleich absolut deutlich wirkenden schwirrenden Formation. Sie scheinen sich
nicht zu berühren, aber ihre Wege beeinflussen einander unentwegt.«
Ihr Bild dieses
scheinbar ungeordneten Schmetterlingsfluges beschreibt durchaus das, was man
sich heute aufgeklärt unter einem Leben vorstellt. Es sind diese gegenläufigen
Motive der scheinbaren Harmlosigkeit in den Nebensachen und dem Ausblenden der
Gewalt in der Hauptsache, die das Buch als Erzählung so lesenswert machen.
Ein kleiner Aufenthalt
Der Rezensent fühlt
sich, wenn er denn ein Bild für die Tätigkeit der Trauerrednerin finden soll, an
eine kleine Szene aus dem Film Die Ferien
des Monsieur Hulot von Jacques Tati aus dem Jahre 1954 erinnert. Dort
erleidet der Protagonist, der in einem Meereshotel in der Normandie wohnt, auf
einem Ausflug ins Landesinnere mit seinem Auto eine Panne vor einem Friedhof.
Hier findet zufällig ein Begräbnis statt. Er räumt gerade den bereits halb
aufgeblasenen Reserveschlauch aus dem Kofferraum und wirft ihn hinter sich.
Dieser landet in einen Haufen mit Blättern. Wie durch Zauberhand bleiben diese
an dem Gummischlauch hängen und als Hulot den Reifen in die Hand nimmt und
diesen Vorgang gerade bestaunt, tritt ein Friedhofsträger mit einem
Trauergebinde in der einen Hand gemessenen Schrittes heran. Er erkennt in dem
vormals profanen Ersatzreifen nun einen Lorbeerkranz, den er dem Automobilisten
abnimmt und zu den anderen Trauergästen an die Begräbnisstätte mitnimmt. Als
Hulot sich schüchtern unter die Trauernden mischt, erkennen diese in ihm einen
anscheinend bislang verschollenen Verwandten. Jedenfalls reihen sie ihn in die
Familie ein, die keine Einwände erhebt. Nun defilieren alle anderen Trauergäste
auch an ihm vorbei und der muss viele Hände schütteln, bis er am Ende seinen
Reifen zurückbekommt und diesen weiter montieren kann.
Tatis Messianismus ist durchaus vom Rosenzweig‘schen Schlage und ähnlich mag es
auch unserer Autorin in der Hinsicht gegangen sein, wie sie zu ihrem Beruf
gekommen ist. Möglich, dass es auch bei ihr gleichsam eine unscheinbare Panne
vor einem Friedhof gegeben hat und sie, die sich doch durch ein Judaistikstudium
auch von der christlichen Religion emanzipieren wollte, sich nun auf einmal in
der Familie aller Trauernden wiederfindet und ihnen zum Trost die Hände
schüttelt, bevor sie weiterfahren kann. Was sie dabei erlebt, schildert sie in
ihrem Buch.
Eine ideelle Leichenrede
Eine konkrete
Leichenrede aber hält sie uns vor. Wie eine solche idealtypisch aussehen könnte,
lässt sich aus dem wunderbaren Buch eines ihrer Vorläufer aus dem Barock lernen,
nämlich des Pastors, Verfassers einer Anweisung für Barockdichter und
Lohenstein-Schülers Johann Christoph Männling (1658-1723). Bei diesem heißt es
über diese Welt:
»Wer
diese gebrechliche Hüten/ wo das Elend alle Ecken zieret/ mit einem vernünftigen
Wortschlusse wolte begläntzen/ der würde keinen unförmlichen Ausspruch machen/
noch das Zielmaß der gegründeten Wahrheit überschreiten/ wann er die Welt nennte
einen allgemeinen Kauffladen/ eine Zollbude des Todes/ wo der Mensch die
gangbahre Wahre/ der Tod der wunderbahre Handels-Mann/ Gott der gewisseste
Buchhalter/ das Grab aber das versiegelte Gewand und Kauff-Hauß ist.[2]«
In diesem Sinne sagt
Gesine Palmer über Amoz Oz – und alle anderen, die sie begleitet hat – im
Dialekt ihrer Heimat:
»De is ok all dood bleven.«
Artikel online seit 10.07.20
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Gesine Palmer
Tausend Tode
Über Trauer reden
PalmArtPress
150 Seiten
20,00 €
9783962580414
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