Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik

 

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Angstobjekt oder goldene Banane?

Gefährliche Natur, gefährliche Unnatur:
Darf man die Schöpfung straflos infrage stellen?
Zu Christoph Türckes Kritik eines Machbarkeitswahns

Von Wolfgang Bock
 

»Ich sag', wer ich bin.«
Neue Eliten im Rausch des Interviews?

Am 8. März 2021, dem einhundertsten Weltfrauentag, zeigt der Fernsehsender 3Sat in seiner Kulturzeit exklusiv ein Interview mit der jungen Aktivistin Sophie Passmann. Sie wird als Autorin und Comedian vorgestellt und gibt ein paar Zeilen aus ihrem neuen Buch Komplett Gänsehaut zum Besten, was von der Moderatorin als Sternstunde neuer engagierter Literatur gefeiert wird.[1] Ihr Buch von 2019 dagegen heißt Weiße alte Männer. Und so erscheint es den Redakteur*innen als sinnvoll, in einem eingespielten Beitrag über die Transgender-Autorin Sasha Marianne Salzmann – »Wer sagt dir, wer du bist? Ich sag, wer ich bin, nicht mein Pass, noch nicht mal meine Eltern« – ein Interview mit Christoph Türcke zu zeigen. Der hat gerade ebenfalls ein Buch zu dem Thema verfasst. Was er sagt – »Wenn jeder Jugendliche durch den Hype, den das durch die sozialen Netzwerke erfährt, jetzt denkt, ich muss unbedingt mein Geschlecht wechseln, so ist das hochgefährlich« – wird in der allgemeinen Aufregung nicht gehört. Vielmehr wird sein Bild als eine Illustration für die Aussage: so nicht! instrumentalisiert. Dabei bestätigt ein solches Vorgehen alle seine Thesen. Nicht einmal sein Name scheint bei den Protagonist*innen im Studio hängengeblieben zu sein: »Solche Herren, wie im Beitrag eben …«, heißt es dazu. Werden nun, wo traditionell den Frauen der Name abhandenkommt, in den neu strukturierten Diskursen die Plätze getauscht? Führen nun Erregungsregime, neue Vorurteil- und Counter-Klischees Regie? Muss es wie beim Fußball immer Gewinner*innen und Verlierer*innen geben?

Asymmetrische Komplementarität oder: Gender ist kein Sex

Es soll im Eifer des Gefechts nicht naiv verkannt werden, dass der Antagonismus zwischen den Geschlechtern eine wichtige taktische Rolle spielt. So entstand die Frauenbewegung und so muss es auch weitergehen gegen die Versuche einer erpressten Versöhnung eines Wolfgang Thierse, dem es um den Erhalt des Ganzen und sei‘s nur der SPD geht, die darunter zerbricht. »Die Moden«, zitiert Christoph Türcke Walter Benjamin aus dem Passagen-Werk, »sind die geheimen Flaggensignale der kommenden Dinge.« Und wer der Jugend die Zukunft verstellt, soll sich nicht wundern, wenn die Signale auf eine Weise und an Stellen herauskommen, die man sich nicht vorstellen kann oder möchte.

Dabei verlohnte sich gerade im Falle von Türcke, ein Östrogen gesteuertes Denken, das ein Testosteron gelenktes ablösen soll, aufzugeben. Barbara Duden und Ivan Illich wiesen bereits 1983 darauf hin, dass das Verhältnis der Geschlechter zueinander einer doppelsinnigen dissymmetrischen Komplementarität gleicht; es geht nicht ineinander auf, bildet aber in der Diversität auch kein Drittes. Die Autor*innen setzen Genus als Gattungsbegriff, der hier aus der strukturalistischen Linguistik und Ethnologie stammt, auch gegen Sexualität und die Übergriffigkeit der Psychoanalyse ab.[2] Dieser Erkenntnisstand ist in den heutigen Debatten weitgehend verloren gegangen.

Der Eigensinn der inneren und äußeren Natur

Da heißt es, genauer hinzuschauen – und dass eben nicht nur beim Tunnelblick auf das Gendersternchen. Der Leipziger Philosoph Christoph Türcke hat in den letzten Jahren eine beeindruckende Reihe von Veröffentlichungen vorgelegt. Dazu gehören Streitschriften über die Philosophie der Sensation, über den Traum und die Psychoanalyse, eine kritische Theorie der Schrift, das neu organisierte Dispositiv der Gefolgschaft in der digitalen Welt und einiges anderes. Türckes Generalthema, auf das er immer wieder zurückkommt, ist die Angst und das Heilige. So stehen für ihn am Anfang der Zivilisation keine Geräteherstellungen, sondern das Opfer, das die zivilisatorischen Handlungen beschwören wollen und dessen sie doch nicht habhaft werden können. Die Veranstaltung gleicht eher einem Tanz um eine leere Mitte. Das gilt, zumal im Umgang mit der äußeren Natur, den Türcke im ersten Teil seines Buches untersucht, bevor er sich der Genderfrage und derjenigen nach der inneren Natur genauer zuwendet.

In einem beeindruckenden Durchmarsch durch die Philosophiegeschichte von Anselm von Canterbury bis zur Dekonstruktion zeigt Türcke, dass wissenschaftstheoretisch in dieser Debatte nicht hinter die Errungenschaften von Immanuel Kant zurückgefallen werden darf, ohne das wesentliche Motiv zu verfehlen. Kant hatte vor jeder anderen Dialektik von Schelling, Fichte oder Hegel gezeigt, dass die Natur an sich bleibt und den Menschen nur deren Erscheinung und die auch nur unter ganz bestimmten Bedingungen zugänglich ist. Daraus folgt die Notwendigkeit einer negativen Metaphysik, die über die Präsenz der bloßen Dinge hinausginge. Alles, was hinter diese Version fiele, bliebe zugleich hinter den Möglichkeiten der Aufklärung zurück; was sie aber fälschlich überschreite, verfiele unweigerlich der Blasphemie, der Hybris oder der Dialektik der Aufklärung, je nachdem, von welchem theoretischen Standpunkt aus die Sache betrachtet wird. Diese ambivalente Urangst ist für Türcke auch die Kraft hinter den Theorien der Selbstorganisation ebenso wie hinterm radikalen Konstruktivismus wirksam, die durch eine Setzung versuchen, sich von dem Eigensinn der Natur freizumachen. Je mehr darauf insistiert werde, diese Schranke niederzulegen, umso mehr habe man es mit den Antinomien der eigenen Setzungen zu tun. Das gilt im Anthropozän für die Moderne insgesamt.

Fortschritt und Rückschritt

Die entsprechende Kritik hat auch bei Türcke vielfältige Wurzeln. Neben Immanuel Kant finden wir hier Sigmund Freud, nach dem ein direkter Zugriff auf die Triebe selbst nicht möglich sei; aber auch Max Horkheimer und Theodor Adorno und vor allem den Frankfurter Sozialphilosophen Karl-Heinz Haag, der in seinem Buch Der Fortschritt in der Philosophie die Gefahr des doppelten Rückfalls hinter die Errungenschaften solchen philosophischen Fortschritts genau bezeichnet. Eine weitere Quelle dieser Kritik, die Türcke zwar nicht nennt, die in seinem Ansatz aber permanent anwesend ist, bildet der radikale dänische Protestant Søren Kierkegaard. Dessen Konzept der Angst am Beginn jeglichen Zivilisationsprozesses hatte Anfang des 20. Jahrhunderts nicht allein zum protestantischen und philosophischen, sondern auch zu einem jüdischen Expressionismus geführt.[3] Damit ist Türckes Konstruktion mehr als nur verwandt.

Die Nichtwahrnehmung dieser Angst begleitet alle Projekte, die den Eigensinn der Natur und ihren Widerstand gegenüber dem menschlichen Zugriff hinweg eskamotieren wollen. Dazu zählen nicht allein Kants eigene Idee einer Transzendenz dadurch, dass der Mensch auch selbst Ding an sich sei oder die Transzendenzphilosophie der Neukantianer der Marburger oder Freiburger Schule: Immer dort, wo statt eines Verhältnisses von Perzeption und Apperzeption eine einfache Setzung als Definition stattfindet, wird der andere, notwendig unsichtbare Pol ausgeblendet. Das ist auch dann der Fall, wenn es um polyvalente Formen geht, die aus der Restriktion eines Dualismus herausfallen wie ein Gender-Drittes, was nicht mit einem dritten Geschlecht verwechselt werden darf.

Identität ist Identitär

Regressiv ist für Türcke dabei nicht so sehr das Ansinnen einer Neufassung der Welt, sondern vielmehr, dass dieses unter dem Vorzeichen einer Identität passiert. Hier soll etwas mit sich selbst identisch sein, auch wenn diese Identität dann divers ausfällt. Identität aber ist eine Kategorie für Dreiecke und für eine Logik. Schon Arthur Schopenhauer erläutert, dass eine Logik in einem Monolog greife, für einen Dialog aber die Dialektik zuständig wäre – bei Schopenhauer freilich in einer sophistischen Praxis, die ohne Wahrheit auskommt und dagegen auf Geltung pocht. Der springende Punkt der Gender-Diskussion ist für Türcke daher die Wahnidee eines Identitätskonzepts, das aufgestellt wird, um anschließend zu versuchen, damit identisch zu sein. Türcke sieht hier einen Solipsismus am Werk, das Ansinnen einer Kreation aus dem Nichts.

Hinter dem punkähnlichen Trotz, mit dem solche Positionen von ihren Aktivist*innen vorgetragen werden, stehe der Impuls, die eigene Verleugnung glauben zu wollen. Man treffe es überall dort an, wo das Gegenüber per Definition seine ihm eigene Widerständigkeit – Natur, Trieb, Geschlecht, Heterogenität – eingebüßt habe und nun Objekt eines selbst gesetzten Machbarkeitswahns werde. Was die neuen Identitätsdiskurse auszeichne, sei ein radikaler Voluntarismus: auch die widerspenstigen »Ich sage, wer ich bin!« oder »I am what I am« sind Parolen, die sich gegen Zuschreibungen sexistischer oder rassistische Art wenden. Sie pochen auf eine autonome Selbstdefinition, die sich gerade gegen die Natur und die Natürlichkeit richte. Dennoch gilt auch hier eine Dialektik der Autonomie. Die zeigt sich in Sätzen wie: »Ich bin schön« oder »Ich bin klug« daran, dass es sich um performative Selbstwidersprüche handelt: es wird simuliert, dass man im Namen einer höheren Macht, mindestens aber eines Gegenübers spricht. Dagegen erinnert Türcke an die romantische Tradition, wonach man das, worüber man spricht, gerade nicht hat.

Die hypostasierte Praxis der Selbstdefinition

So geht es Türcke im Wesentlichen um die Tabus des identitären Denkens, dass in der Hypostasierung des Selbstsetzens nichts anderes mehr zulässt. Und wenn die Wirklichkeit sich sträubt, wird sie wie im Prokrustesbett ihrem idealistischen Konzept buchstäblich angepasst. Das Geschlecht ist vermeintlich vollständig sozial, aber immer noch muss dann die geschmähte biologische Sphäre herhalten, um diese Definition ganz wahrzumachen: Warum werden, fragt Türcke, Hormongaben verabreicht oder chirurgische Eingriffe auf einer Ebene der biologischen Natur als Mann oder Frau oder divers durchgeführt, die doch angeblich per se sozial konstruiert sei? Diese Tendenzen reihen sich unheilvoll in den Hang zum radikalen Konstruktivismus ein. Mit dem Verweis, dass das alles mit dem neoliberalen Kapitalismus vereinbar ist, fast Türcke seine Kritik darin zusammen, dass die Genderkritik mit ihrem Betroffenheits-Dispositiv die anderen politischen Diskurse ausblende:

»Wer mit der Konstruktion, Umwandlung, Abgrenzung, Aufrechterhaltung seiner eigenen Geschlechtsidentität befasst ist, hat alle Hände voll zu tun und kaum noch einen Blick dafür, wie die umfassende Macht tickt, zu deren Konditionen alle Geschlechter sich ihren Lebensunterhalt verdienen. Wenn diese Macht, der globale Kapitalismus, in ihren Hightech-Zentren gelernt hat, Geschlechtervielfalt zu propagieren, so deswegen, weil ihr alle Geschlechter egal sind. Arbeitskräfte nimmt sie vornehmlich unter dem geschlechtslosen Drang nach Kostenersparnis und wirtschaftlichem Wachstum wahr. Jede neue Maschine, die Arbeitskräfte ersetzt und den Grad von Naturbeherrschung erhöht, verheißt Wachstum, und jedes Wachstum ermöglicht wiederum technischen Fortschritt. Er macht Neues machbar. Das muß er freilich auch tun, sonst stagniert die Wachstumsschraube und mit ihr das ganze System. Je mehr aber machbar wird, desto notwendiger die Suggestion, daß über kurz oder lang alles machbar sein wird. Im Wachstumszwang steckt selbst schon die Doktrin des radikalen Konstruktivismus: Natur ist lediglich ein Konstrukt und im Prinzip unbegrenzt formbar. (S. 217)«

Das ist unmittelbar nachvollziehbar. Wenn jetzt nur noch people of color über Rassismus reden dürfen, Juden über Antisemitismus und Menschen aus den Metropolen keine Holzperlenkette aus dem Senegal tragen dürfen, so ist das eine Spielart eines neuen kulturellen Rassismus, in wessen Namen auch immer. Jeder für sich und Gott gegen alle.

Gegenthese: Of Gods and Monsters

Das ist die These, die Türcke im ersten Teil seines Buches in einem luziden Diskurs zum Naturbegriff entwickelt und im zweiten Teil dann zum Begriff Gender fortführt. Hier zeigt er eine Herkunft des Begriffs aus dem amerikanischen Pragmatismus und Behaviorismus und dem technischen Fortschritt der medizinischen Chirurgie und Hormontherapie. Er stellt ihn in den Kontext seiner eigenen Arbeiten aus den letzten 20 Jahren: Erregte Gesellschaft, Verlust der Reflexion auf die Angst als Grundstock der Zivilisation, digitale Erregungsregime.

So wie Türcke recht damit hat, dass er diese gesellschaftlichen Phänomene in den Kontext eines neoliberalen und informellen Kapitalismus stellt, so entgeht ihm doch auch der andere Charakter der Widerständigkeit, die darin eingelegt ist. Michel Foucaults Diskursbegriff, den er ebenso wie Jacques Derridas Dekonstruktion oder Gilles Deleuzes Rhizom hier zu kurz fasst, lässt sich mithilfe von Habermas Diskurs der Moderne, der hier anscheinend Pate stehen soll, nicht verstehen. Denn hier handelt es sich auch um Motive einer Mikropolitik, die in der ersten Person und aus der Perspektive eines Opfers, das sich in der Mehrheitsgesellschaft nicht wiederfindet, geschrieben sind. Dass diese Kritik sich in Formen äußert, die die Habermas Schule, zu der Türcke ansonsten nicht zählt, nicht vorhergesehen hat und die sie nicht mag, ändert nichts daran, dass diese Positionen existieren. Giorgio Agamben setzt beispielsweise darauf, dass der Herrschaftsdiskurs, der mit dem Handy verbunden ist, nicht die wirkliche kommunikative Funktion eines heterogenen Austausches behindern könne. Da mag man skeptisch sein, aber man muss den freiheitlichen Impuls der Selbstdefinition in der säkularen Welt anerkennen, auch wenn er sich schräg äußert. Queerness ist immer noch etwas anderes als die Querfront der identitären Reichsbürger.

Trouble mit dem Gender-trouble: Gender ist nicht Sexualität

Judith Butler will aktuell mit ihrer Einladung zum Spiel der Umcodierung von Zeichen der Männlichkeit und Weiblichkeit eine Re-Signifizierung und Re-Kontextualisierung betreiben, eine Politik der sexuellen Diskontinuität. Das stößt bei Türcke mit Recht auf Widerstand, der dagegen die Jahrmillionen der Chromosomensatzentwicklung in der Evolution setzen will. Aber doch hat Judith Butler auch recht: Bereits die Begrifflichkeit der Wissenschaft ist nicht neutral, sondern von der Norm und ihrer Rückwärts- und Vorwärtsprojektion getragen.

Das kann man am Beispiel der vermeintlich sachlichen biologischen Fachbegriffe in der künstlichen Befruchtung, »homologe Insemination« und »heterologe Insemination«, zeigen: Erstere bezeichnet die Befruchtung der Eizellen einer Frau durch das Sperma des Ehemannes, letztere durch fremdes Sperma. So wandert das Institut der Ehe in die vermeintlich neutrale Wissenschaft der Biologie ein. Dort hat sich aber bereits seit langem die Theologie eingenistet, nämlich im Begriff der Sexualität. Sex entsteht auf der Basis der Brechung des 6. Gebots: »Du sollst nicht Ehebrechen.« Neutral und positivistisch von Sexualität zu sprechen, ist daher aus immanenten Gründen kaum mehr möglich. Die Ursünde, die Türcke für die Evolution und die Psychoanalyse als condition humaine in die Genealogie hineinschreiben will, stammt genau daher, nämlich von Augustinus. Wo überhaupt gevögelt wird, ist die sündige Menschenstadt, wo angemessen gezeugt und die Lust dabei missbilligend und notwendig in Kauf genommen wird (»Dieu le veut«), die rechte Stadt der Engel und des Gottes. Trotzdem heißt, wo angeblich die Libido im Mittelpunkt steht (die übrigens auch auf Augustinus zurückgeht), Sexualität deswegen immer noch so, weil sie generell gegen das 6. Gebot verstößt, wo es überhaupt um Lust geht. Die negative Metaphysik auch der wissenschaftlichen Sexualität ist und bleibt die Sünde; sobald man das Wort in den Mund nimmt, hat man sie mit dabei. Das auszublenden gleicht der psychoanalytischen Abwehrform der Verleugnung ebenso wie der Heideggers Seinsvergessenheit. Da ist auch die deutsche Sprache sehr genau; auch in Geschlecht kommt der Begriff von schlecht.

Alle Begriffe der Naturwissenschaft, könnte man mit Carl Schmitt sagen, der diesen Zusammenhang für die Rechtswissenschaft reklamiert, stammen aus säkularisierten theologischen Zusammenhängen. Gender aber ist, wenn man den Begriff aus der Anthropologie herleitet, etwas anderes als Sexualität: nämlich eine profunde Aufteilung der Welt in einen nicht kompletten und gegenläufigen Dualismus, der nicht in einem dritten Motiv aufgeht. Wenn sich das Mischungsverhältnis ändert, so bleibt es doch gemischt wie links und rechts. Darum besteht die Diversität in der Aufteilung. Das steht auch hinter der Aufteilung in zwei Geschlechter, die Duden und Illich mit dem französischen Strukturalismus bei Robert Hertz, Marcel Mauss, Claude Levi-Strauss und anderen verbinden. Das geht verloren, wenn Gender umstandslos im psychoanalytischen Diskurs, den auch Judith Butler bevorzugt, mit Sexualität gleichgesetzt wird.

Mit und gegen die Natur: Avantgardismus

Die Naturwissenschaft aber ist auch das Erzeugnis einer zweiten, sozialen Natur und sie unterliegt damit gesellschaftlichen Veränderungen, die als Programm vorwärts oder rückwärts in die Geschichte projiziert werden. Sie lässt sich so wenig von der Politik trennen wie die Ökonomie. Das zeigt sich heute in der Pandemie umso mehr. Historisch gewordene Natur ist – vor allen Dingen, wenn die Entwicklung weit vor der geschichtlichen Zeit liegen soll – kein Argument, jedenfalls kein hinreichendes. Notwendig, aber nicht hinreichend, urteilt die Aussagenlogik hier nicht zu Unrecht. Wenn Christoph Türcke schreibt: »Die radikale Dekonstruktion aller vorgegebenen Geschlechtsidentität mündet in eine hemmungslose (Selbst) Schöpfungstheologie«[4] – so provoziert das die Frage: Ja, aber was ist daran denn jetzt so schlimm? Wer nicht aus der theologischen Welt stammt, den schreckt das weniger. In einer säkularen Welt der Selbstbestimmung ist es sogar ein wichtiger Ausgangspunkt für Souveränität und Autonomie als immanenter Ausdruck einer prinzipiell gebrochenen Identität. Die erste Generation der Frankfurter Schule schreckte das auch weniger. Die Lebensverlängerung mithilfe von Medizin oder der Lustgewinn mithilfe von erotischen Techniken, ja der Ausdruck der Kunst gerade auf dem höchsten Stand der Technik, lagen durchaus auch dann noch im Umkreis ihrer Wünsche, wenn sie sich wie Adorno gegen die politische und ästhetische Avantgarde positionierten.[5]

Gegen die Natur
: Was bei Türcke weitgehend ausgeschlossen ist, ist der ästhetische Diskurs der Kunstautonomie der Moderne. Das ist interessant, denn der ebnet den Weg auch in die digitale Welt und in die des Designs. Schon Karl-Joris Huysmans lässt in Wider die Natur 1884 seinen Helden Des Esseintes gerade Dinge machen, die gegen den Strich sind. Und wenn Türcke berichtet, dass der Realityshow-Star Jazz Jennings seine Umwandlung zur Frau in den sozialen Medien mit einer »Penis-Farewell-Party« feiert (S. 215), so macht Jennings nur das nach, was Huysmans schwuler Held ebenfalls mit einer schwarzen Feier seiner Impotenz feiert: ein melancholisches Essen, bei dem alle Bestandteile von der Suppe bis zum Dessert schwarz sein müssen. Der Dandy des Esseintes macht ohnehin alles anders als der christliche Ethiker B in Kierkegaards Entweder-Oder: er hintertreibt die Ehe seiner Freunde, fördert die Kriminalität der Jugend, schläft am Tag und arbeitet in der Nacht; anstatt zu reisen, bleibt er zu Hause. Er ist ein Mann der Kunst ebenso wie der Künstlichkeit. Und öffnet damit ein anderes Dispositiv als das des radikalen Protestantismus bei Søren Kierkegaard, wo die Kunst nur die unterste Stelle besetzt, die nächsten Erkenntnisstufen aber die Moral und die Theologie einnehmen. Davon hallt noch etwas bei Türcke nach.

Sympathy für the Devil

Huysmans dagegen ist damit nicht allein. Er ist einer der Kronzeugen nicht nur von Michel Houellebecqs Unterwerfung, sondern auch der Surrealisten. Diese zogen sich in die Passagen zurück und rauchten, sie mieden die frische Luft und die Sonne. Sieg über die Sonne lautet der Titel einer futuristischen russischen Oper von 1913, die auch das Bauhaus inspirierte. Es ist diese Art von hochambivalenter Provokation, zu der, wie Walter Benjamin genau bemerkt, nicht nur bei dem Lyriker Baudelaire der Antisemitismus gehört. Wenn man das Phänomen verstehen will, dann muss man unterscheiden: nicht zu denunzieren ist daran der Impuls zur Souveränität, der freilich in einen absoluten Voluntarismus übergeht. Dagegen ist es wichtig, das Selbstbestimmungsrecht zu verstehen und den Impuls zur Autonomie aufzunehmen, auch wenn er falsche Wege geht – theologisch ist das die Notwendigkeit des Auszugs aus dem Paradies.

Was also wäre so schlimm daran, dass die Leute ihr Geschlecht auch im Pass selbst bestimmen könnten? Kann es denn schlimmer werden als im Flughafen vor der Passkontrolle zu stehen und dem ausgeliefert zu sein und mit den Angaben im Pass identisch zu sein? Solange es diese Art von Grenzen gibt und diese Art von Gewalt des Staates über das Individuum, so lange mögen die Selbstbestimmungsbewegungen zwar hilflos und auch von den Methoden durchzogen sein, gegen die sie sich wenden. Aber der Impuls zur Autonomie, den Kant unterstützt, bleibt wichtig. Die Mitglieder der Genderbewegung sind die neuen Helden einer philosophischen Anthropologie. Sie sagen, wie Georg Büchners Woyzeck: »Aber, Herr Doctor, wenn einem die Natur kommt.« Auch, wenn diese Natur eben nun transgender ist. Zumindest fühlen Sie sich so und treten auch so auf. Sie haben darin recht, dass die Natur wie das Subjekt (und die Moderne) doch auch Projekte sind (»Mais nous sommes projets« sagt Sartre). Wie der Materialismus auch nicht pure Materie ist, sondern ebenfalls Konzept wie auch der Realismus. Es sind proaktive Versuche, eine neue Welt zu entwerfen. Die Natur ist dann eine Spielmarke, von der Jean Baudrillard sogar sagt, sie sei eine chienne, die mit jedem mitgehe. Anscheinend ist sie sogar so nichts Letztes wie die Wahrheit, die darunter zu einer Rüsche am Kleid wird: Teil eines Diskurses.

Eine immanente Reformkritik und ein Trolltraum

Freilich gibt es daran auch Kritik innerhalb des Diskurses. Michel Foucault beispielsweise befürwortet eine Mikropolitik, er wehrte sich aber insgesamt sehr gegen Reformbewegungen wie die in der Psychiatrie und des Gefängniswesens des 19. Jahrhunderts. Die waren ihm noch verhasster als das Ancien Regime. Und in der Tat sind Vergesellschaftungsformen wie »Gegen eine zu frühe Festlegung der sexuellen Identität« auch hochgefährlich, wie Christoph Türcke richtig sagt: nicht wegen der frühen Eindeutigkeit, sondern wegen des Gewichts, dass hier auf eine vermeintliche Identität gelegt wird. Wandelbarkeit kommt in solchen Definitionen gar nicht vor, die gesetzte Grenze bereits in der Setzung überschritten. Darin sind die Dinge so stillgestellt, wie das Ziel fest vor Augen ist. Darauf also weist Christoph Türcke in seiner Streitschrift richtig hin.

In der Wirklichkeit aber sind die Dinge in einem dialektischen Fluss. So wie in dem bösen und schönen Film Gräns (Border, von Ali Abbasi, Schweden 2018): Hier entwickelt die Trollfrau zu ihrem eigenen Erstaunen im Geschlechtsakt einen Penis, während der Trollmann Eier legt und im Geschlechtsakt eine Vagina zeigt. Das ist ein böser Traum, aber nicht alles am Schlechten bleibt schlecht. Das gilt zuallererst für das Geschlecht, das im Deutschen generisches Neutrum, Genus, ist.

[1] Jahrhundert der Frauen; zuletzt aufgerufen am 7.4.2021.

[2] Barbara Duden, Ivan Illich, Genus: Zu einer historischen Kritik der Gleichheit (1983), München: Beck 1995.

[3] Vgl. Joanna Nowottny, »Kierkegaard ist ein Jude«. Jüdische Kierkegaard-Lektüren in Literatur und Philosophie, Göttingen: Wallstein 2018.

[4] S. 215.

[5] Im Gegenteil wird Ihnen das heute unter die Nase gerieben. Stewart Jeffreys Buch Grand Hotel Abgrund (Stuttgart: Klett Cotta 2018) lässt sich auf den Vorwurf reduzieren, dass Herbert Marcuse eine Art von Pornokönig gewesen sei. Im Übrigen ist das keine gute Gesellschaft für den Genderdiskurs: Bis auf wenige Frauen in der sogenannten zweiten Reihe (z.B. Gretel Adorno, Monika Plessmann, Hilde Weiß und Else Frenkel-Brunswik) und in der zweiten und dritten Generation (z.B. Silvia Bovenschen, Regina Becker-Schmidt, Barbara Sichtermann) bestand die Frankfurter Schule nur aus Männern. Das Busenattentat auf Adorno, an dessen Folgen er vermutlich gestorben ist, wurde nach einer anderen Vermutung durch seine Verführungsversuche von Angela Davis ausgelöst. Aber das ist eine andere Geschichte.

Artikel online seit 08.04.21
 

Christoph Türcke
Natur und Gender
Kritik eines Machbarkeitswahns
C.H. Beck Verlag
233 Seiten
22,00 €
978-3-406-75729-7

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