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Der weibliche Sisyphos oder
Aufrechter Gang mit Ungehorsam

Anne Weber erzählt von einer Heldin & demonstriert
dabei ihre literarische Arbeit

Von Wolfram Schütte
 

Jedes Buch ist die komplexe Inszenierung des Textes: vom Schutzumschlag bis zum Satzspiegel etc.. Nur ist uns das alles gewöhnlich nicht bewusst, wenn wir ein Buch sehen, es in die Hand nehmen, oder es lesen. Es gibt sogar eine elaborierte philologische Exegetik für die Form der Textpräsentation im & als Buch, die sich in der Gutenberggalaxis im Lauf der Zeit dafür entwickelt hat.

Ich komme darauf, weil ich jetzt vom Schutzumschlag eines eben erschienenen Buchs irritiert wurde. Seine Einbandgestaltung stammt von Pauline Altmann - eine Information, die man gewöhnlich weder als Leser noch als Rezensent wahrnimmt. Der Schutzumschlag ist in hellem Rot, dem in Mattgold die Umrisse eines weiblichen Gesichts unterlegt sind, das man allerdings nur bei intensivem Blickkontakt erkennt. Auffällig ist dagegen ein schwarzer Text in Versalien, der alle Aufmerksamkeit auf sich zieht – nicht zuletzt durch ein ungewöhnliches Wort & seinen Zeilenbruch. Der Text lautet:

„ANNETTE,

EIN

HELDINNEN-

EPOS“.

Lange faszinierte mich die Idee, dass hier erstmals nur der Buchtitel (ohne Autorennnamen) auf dem Schutzumschlag zu lesen sein würde – was durchaus verständlich gewesen wäre, weil „Heldinnen-Epos“ ja auffällig, um nicht zu sagen provozierend genug wäre (z.B. für ein feministisches Manifest). Denn das Epos war ja seit der Odyssee vornehmlich, wenn nicht gar einzig männlichen Helden vorbehalten – so dass die Annonce eines Heldinnen-Epos Aufsehen erregend genug wäre, selbst wenn es sich, wie sich zeigen wird, um nur eine Heldin handelt.

Aber erst, als ich mich dieser Annahme optisch versichern wollte & den Schutzumschlag genauestens durchforschte, bemerkte ich, dass am linken oberen Rand, in einer wesentlich kleineren Schrift & in Braun der Name Anne Weber stand. Er war umso schwerer zu entdecken, als  Braun auf  Rot zu kontrastarm ist, um für unser Auge auf Anhieb signalhaft zu wirken.

Ganz offensichtlich haben hierbei die Autorin & der Verlag (Matthes & Seitz) die Designerin um genau diese Gestaltung des Schutzumschlags gebeten. Er ist speziell für feministische Leserinnen attraktiv; zugleich scheint die Autorin damit demonstrativ  annoncieren zu wollen, dass sie hinter „Annette“, der Heldin eines Epos, zurücktrete (aus bewunderndem Respekt vor der von ihr „besungenen“ Annette?).

Nach den versteckten Informationen des Schutzumschlags fällt als weitere Abweichung vom gewöhnlichen Buch der linksbündige Flattersatz des Textes auf. Dessen  unterschiedlich langen Zeilen folgen womöglich einem Sprach- oder Sprechrhythmus, den ich aber nicht näher erkennen kann – wohl aber, dass der reimlose Prosa-Text durch die Wahl der Worte & deren Positionierung im Satz gestaltet ist.

Die 1964 in Offenbach geborene Autorin Anne Weber lebt seit 1983 in  Paris. Sie ist meines Wissens die einzige unter unseren Schriftstellern & Schriftstellerinnen, die bilingual ist (wie der englisch & französisch schreibende Samuel Beckett es war). Anne Weber hat das runde Dutzend ihrer bisherigen Prosawerke sei´s in Deutsch, sei´s in Französisch niedergeschrieben & dann selbst in die jeweils andere Sprache übersetzt. Daneben hat Weber – wohl auch zum Lebensunterhalt – zahlreiche Bücher aus dem Französischen ins Deutsche et vice versa übertragen. Eine ganz außergewöhnliche Schriftstellerin also & eine Literatin durch und durch.

Das ist ihre Heldin, die 1923 in der Bretagne geborene Anne Beaumanoir, gewiss nicht; obwohl sie vor einem Jahr den ersten Teil ihrer „Erinnerungen“ in Berlin vorgestellt hatte, deren Übersetzung  in einem kleinen Verlag damals erschienen war, der in 2020 den Rest in einem zweiten Band vorlegen will.

Zeitlich dazwischen erschien nun Anne Webers „Heldinnenepos“. An dessen Ende teilt die deutsche Autorin mit, wann & wie sie, offenbar als Podiumsmitglied einer Diskussionsrunde zu einem deutschen Dokumentarfilm, an einem Novembernachmittag in dem Provence-Örtchen „Dieulefit“ (Gott hat´s gemacht) zum ersten Mal ihrer Heldin begegnete: “Am Ende dürfen die im Publikum auch mal was sagen. Annette ergreift das Wort, wie es so heißt, das Wort greift über, dehnt sich aus, und eine, die dort oben sitzt, so eine dieser großen ernsten Deutschen, schaut Annette an, als hätte sie gemerkt, dass sie am besten mal die Klappe hält“. Danach geht man/frau in ein Restaurant zum gemeinsamen Abendessen: „ (…) Annette isst Entenbrust mit großem Appetit. Und neben ihr die große Deutsche? Ohne sich was dabei zu denken, zumal es da bei calamares auch nichts weiter zu denken gibt, isst sie an diesem Abend: Tintenfisch“.

So genau müsste/wollte man´s ja gar nicht wissen, so verschwurbelt auch nicht, denkt man sich. Die Autorin beschreibt dann ihr Staunen über die fünfundneunzigjährige Selbsterzählerin an ihrer Seite: „Sie schaut die alte Frau mit allen ihren Augen an und denkt: Dich gibt´s? Dich gibt´s wirklich? (Annette sagt du zu ihr von Anfang an, und sie denkt gleich im Du zurück.) Fast mehr, als sie hört, sieht sie sie sprechen, so lebhaft und so freundlich mit einer Fremden, aber was heißt schon fremd, das ist es eben, kein Mensch ist einem anderen fremd, aber nur wenige benehmen sich auch so. Zudem ist da die Sprache, die sie spricht oder auch halb verschluckt mitunter, bisschen Argot, bisschen was sehr Persönlich-Umgangssprachliches, alles in allem hört es sich auf jeden Fall sehr anders an, als sonst Ärzte mehr oder weniger unwillkürlich sprechen“. Die Pensionärin in Dieulefit  war ja schließlich von Beruf Ärztin (Neurologin) gewesen war. „Vor ihrem Tintenfisch sitzt eine“, fährt Anne Weber über sich mitteilend fort, „die in diesem Augenblick was erlebt, was wohl in anderen Zusammenhängen coup de foudre oder: vom Liebesblitz getroffen hieße“.

Hätte die verliebte Autorin jedoch die darauf folgende gequälte Reflexion über den Tintenfisch & was sich daraus metaphorisch machen lässt, besser unterlassen & auch für ihr Staunen eine weniger redundant-komische Formulierung gefunden, als dass sie „mit allen ihren Augen“ die immer noch lebhafte Annette bewundernd anschaue! (Es gibt leider noch manchen stilistischen Ausrutscher im Bemühen um poetische Überhöhung oder um ironischen Sprachwitz in dem Text.)

Die Bemerkungen über die Spezifika der Sprache ihrer Heldin sollen den journalistischen, flapsig-sprachspielerischen Ton wohl „erklären“, in dem das Buch generell lässig geschrieben ist: denkbar weit entfernt vom Hohen Ton, mit dem die Epen der Vergangenheit für sich einnehmen wollten; jedoch stilistisch ganz in der Nähe des New Journalism, wie ihn „TransAtlantik“ einst gepflegt hat: also – wie bereits aus den obigen Zitaten ersichtlich – als Reportage-Erzählung mit vielfachen Abschweifungen. Diese Abschweifungen bringen die Autorin, ihre Erklärungen & Reflexionen über die evozierte Person, deren  Leben & Zeit ins literarische Spiel, als das „Annette, ein Heldinnenepos“ zumindest für seine Autorin, unübersehbar auch gewesen ist.

D.h .das „Annetten-Epos“  wird  nicht  gradlinig oder direkt erzählt (wie zu erwarten gewesen wäre), sondern eingebettet in die gedanken-& kenntnisreiche Suada der enthusiastisch sich mit ihrem französischen Vorbild einer souveränen weiblichen Aktivistin identifizierenden deutschen Autorin, wodurch der anzunehmenden Unkenntnis über die Vierziger bis Achtziger Jahre heutiger Leser(innen) immerhin öfters von  Weber historisch auf die Sprünge geholfen wird.

Es wäre jedoch nicht unverständlich, wenn manche Leser(innen) in dieser Weberschen Aneignung & literarischen Durchformung des gelebten Lebens von Mme Beaumanoir eher Autorinnen-Eitelkeit sähen als deren entschiedenen Evokationswillen. Umso mehr als Anne Weber öfters französische Begriffe einflicht, die sie sogleich übersetzt. Wurden sie von Anne Beaumanoir gesprächsweise oder in ihrem Erinnerungsbuch an diesen Stellen gebraucht oder soll man über die Bilingualität der Autorin staunen? Zwei, drei Mal weist Weber Passagen als Zitate Annettes aus: jedoch nicht auf  Französisch, was ja noch Sinn machen würde, sondern nur auf Deutsch. Eh alors?

Die Erzählung, in der sowohl das abenteuerliche Leben der in einem bretonischen Fischerdorf geborenen & heute in der Provence lebenden Anne Beaumanoir beschworen, als auch  von der Erzählerin Anne Weber kommentiert & reflektiert wird, folgt offenbar vollständig den Äußerungen der Heldin: „Grundlage für diese Buch“, annotiert Weber auf der allerletzten Seite, „sind sowohl Begegnungen mit Anne Beaumanoir und ihre mündlichen Erzählungen als auch ihr (…) im Jahr 2000 erschienenes Erinnerungsbuch“.   

Kurzum: was hier mit „Annette, ein Heldenepos“ vorliegt, ist die literarische Hommage einer deutschen Autorin an eine buchstäblich tatkräftige französische Revolutionärin des 20.Jahrhunderts! Eine andere „Ästhetik des Widerstands“ (Peter Weiss)? Allerdings „feministisch“, will sagen: unter weiblicher Perspektive.

 „Annette“ ist nicht nur die mädchenhafte kommunistische Resistance-Kämpferin gegen die deutschen Besatzer gewesen, sondern auch in den Fünfziger Jahren als promovierte Ärztin in Marseille insgeheim für die FLN im klandestinen Kampf gegen den französischen Staat unterwegs gewesen. Nach ihrer Flucht aus Frankreich, wo der Verhafteten eine langjährige Gefängnisstrafe drohte, wurde sie sogar Mitglied der ersten algerischen Regierung, bevor sie sich nach Genf absetzte, um den mörderischen  Konflikten unter der algerischen Nomenklatura zu entgehen. Diese mutige politische Aktivistin war aber auch dreifache Mutter, wiewohl sie aufgrund ihrer Flucht, die Kinder in der Obhut ihres Mannes in Frankreich zurücklassen musste.

Anne Weber stellt dieses ungewöhnliche Frauenleben aus den Wirren, Widersprüchen & Utopien des 20.Jahrhunderts in eindrucksvollen Episoden aus dem Leben Mme Beaumanoirs uns vor staunende Augen.  Die gefahrvollste war wahrscheinlich jene, in der Annette mit ihrem Kombattanten & Liebhaber Roland gegen die Partei-& Resistance-Disziplin verstieß, als sie aus spontaner Hilfsbereitschaft & auf hochriskante Weise drei in Paris versteckte jüdische Kinder vor der drohenden Verhaftung auf eigene Faust rettete.(Deshalb wurde Sie  in Jad Vashem zu einer der „Gerechten unter den Völkern“ erklärt.)  

Während die Zwanzigjährige damals einem fremden Baby zum Überleben verhalf, ließ sie das Kind, das sie selbst erwartete, abtreiben: „Sein kleines Leben, seine krumme, winzige Gestalt überlässt sie, die sie an keinen Gott und auch an keine Engel glaubt, einer der Frauen, die seit jeher den Himmel mit Letzteren bevölkern“, kommentiert Weber auf Jelineksche Weise kalauernd.

Zur Strafe wurden das Liebespaar von der PC (“das ist weder der personal computer noch die political correctness, die er heute meint, sondern eine Partei, die seit September 39 verboten ist“) getrennt & nach Südfrankreich beordert. Während Annette als „U-Boot“ in der ihr zugewiesenen Widerstands-Gruppe die gaullistischen Mitkämpfer ausspionieren sollte, wurde Robert mit anderen Maquisards von „willigen“ bäuerlichen „Helfern“ der Deutschen verhaftet & ermordet.

Weil diese „Legende“ aus den Erinnerungen ihrer 1924 geborenen Heldin geschöpft wurde, umfasst das Epos von Annettes Ethik des Widerstands & ihrer lebenslangen Suche nach einer gerechten Gesellschaft die heroische Geschichte der Französischen Linken & deren irreparablen Beschädigungen & Enttäuschungen der letzten Jahrzehnte. Wenn Anne Weber ihre ikonische Revolutionärin immer wieder motiviert sieht durch die Lektüre der Romane André Malrauxs, so erblickt sie ihre unvergleichliche Heldin zuletzt in der Camusschen Metapher des Sisyphos: “Der Kampf, das andauernde Plagen und Bemühen hin zu großen Höhen, reicht aus, ein Menschenherz zu füllen“.




Artikel online seit 15.04.20
 

Anne Weber
Annette,
ein Heldinnenepos
Matthes & Seitz, Berlin 2020
208 Seiten
22,00 €
978-3-95757-845-7

Leseprobe



 

 


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