Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik

 

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Keine Macht für niemand

In seiner spannenden Arbeit »Gewaltkritik« untersucht Wolfgang Bock
Politik, Populismus und Parlamentarismus bei Walter Benjamin,
Carl Schmitt, Georges Sorel und Giorgio Agamben.


Von Peter Kern
 

Das vorliegende Buch steht in der Tradition der philosophischen Kritiken, die das Geschäft des Trennens, des Unterscheidens betreiben. Der Gegenstand wird näher bestimmt, indem er begrifflich auseinanderlegt wird. Das Buch handelt von der gesetzgebenden und der das Gesetz exekutierenden Gewalt. Was vermag sie, wo liegen ihre Grenzen? Eine wichtige Unterscheidung lässt sich im Deutschen gar nicht vornehmen, im Französischen dagegen schon: la force und le violence. Die Macht der Regierung, die Gegenmacht der Gesellschaftsmajorität könnte eine Annäherung an diese Begriffsunterscheidung sein. Um ein aktuelles, tagespolitisches Bild zu nehmen: Lukaschenko und seine schwarzen Schergen auf der einen, der Protest der Straße und Dzmitry Stachouski auf der anderen Seite. Der war siebzehn, als er in Minsk Ende Mai aus dem obersten Stock des Polizeipräsidiums in den Tod sprang, um der Quälerei durch die staatlich Macht zu entkommen.

Das Buch hebt an mit Reflexionen über den Ausnahmezustand. Laut Carl Schmitt ist derjenige im Besitz der Macht, der den Ausnahmezustand dekreditieren kann. Das ist zweifellos der Diktator in Belarus. Seine Macht zu brechen, gelingt der Straße nicht, weil die Blendgranaten, das Tränengas und die Knüppelgarde stärker sind als der Protest. Auf ihn eingeschworene 2000 Milizionäre reichen aus, um neun Millionen Staatsbürger in Schach zu halten. Die Miliz ist maskiert; die Protestierenden fotografieren deren Mitglieder. Eine die Fotos auswertende Software soll die Gesichter hinter den Masken kenntlich machen. Lukaschenkos Schergen ist mit der Zukunft gedroht: „Wir wissen, wer du bist und wo du wohnst und wir werden dich zur Rechenschaft ziehen, wenn es mit deinem Herrn einmal vorbei ist.“ Mit dem Herrn wird es wohl nicht so schnell vorbei sein, weil sich nicht abzeichnet, was seine Macht brechen könnte: Streiks in den großen Betrieben, am besten ein Generalstreik.

Der Generalstreik ist das in einem frühen Text von Walter Benjamin erhoffte Mittel, um la force zu brechen. Mit den beiden Autoren sind die zwei wichtigsten Protagonisten in Wolfgang Bocks Buch benannt. Die beiden haben ihren Gegenstand gemeinsam, sie zitieren sich wechselseitig, und vielleicht haben sie sich sogar wirklich geschätzt. Benjamin hat den späteren Staatstheoretiker der Nazis geschätzt, der das Recht aus der Macht ableitet und einen geschriebenen Vertrag, eine Verfassung, für eine jüdische Idee hält? Schmitt war es ernst mit der Würdigung des jüdischen linken Intellektuellen, der ihm eins seiner Bücher mit einem ziemlich devoten Brief geschickt hat? Er hat ihn gewürdigt in den 50er Jahren; da hat ihn diese Würdigung nicht nur nichts kostete, sondern sie sollte ihm einen Ertrag einbringen: „Ich, ein Antisemit? Meine besten Freunde sind Juden.“  

Für Carl Schmitt verkörpert der Herrscher den Volkswillen, der Umweg über die parlamentarische Repräsentanz gilt ihm als Zeichen von Schwäche. Seine Parlamentarismus-Kritik schlägt früh in die Sympathie für das Rutenbündel um, in den Lobpreis des faschistischen Prinzips. Er attackiert die Weimarer Verfassung, und als sie der Vergangenheit angehört, organisiert er die Säuberungsaktion auf dem juristischen Feld. „Das Judentum in der Rechtswissenschaft“ auszujäten, (so der Titel einer von ihm geleiteten Tagung des NS-Reichswahrer-Bundes), sieht er als seine Aufgabe an. Er verteidigt das Ermächtigungsgesetz der Nazis, und als Hitlers SS die Röhm-Strasser-Leute umbringt, sieht der Chefjurist des Führers darin einen Akt, womit der das Recht schützt. Die Gewalt setze das, was als Gesetz gilt, nicht umgekehrt, eine Dezision, die noch jeden strammen Rechten bis auf den heutigen Tag elektrisiert. Er liefert eine juristische Begründung der Nürnberger Rassegesetze. Dem streng gläubigen Katholiken schwebt eigentlich eine Theokratie vor, eine Einheit aus Staat, Kirche und Gesetz. Weil die unter den Neuheiden nicht zu haben ist, gibt er sich mit dem Führer zufrieden und umkränzt ihn mit einer charismatischen Aura.

Schmitts Texte sind völlig durchgearbeitet, die Sätze aufs Feinste ziseliert. Sie kommen apodiktisch und knapp daher, etwa so wie ein Befehl oder ein Erlass; der Autor verweist darauf. Kein Wunder, der Staatstheoretiker und Machtphilosoph hat sich als mit dem Weltgeist auf Du und Du verstanden. „Die Philosophen sind dabei den Herren näher“, schreibt Hegel in seiner Geschichte der Philosophie, „sie lesen oder schreiben diese Kabinettsordres gleich im Original…“

Benjamin will den Herren nicht näher sein, aber er hängt einer ähnlichen Parlamentarismus-Kritik an wie Schmitt. Was ähnlich ist, ist aber nicht gleich. Der junge Benjamin kommt aus der Jugendbewegung und deren Horizont hat er noch nicht hinter sich gelassen. Man beklagt den endlosen Parteienstreit, sieht im Parlamentarismus eine Vorderbühne, während im Hintergrund der Lobbyismus das eigentliche Geschäft betreibt. Die Jugendbewegten und mit ihnen Benjamin sehen in der parlamentarischen Debatte eine Entwertung der Sprache. Dem Parlament und dem das Palaver begleitenden Straßenkampf wollen sie die offene Aussprache, die Unterredung, entgegenstellen. Das klingt wie ein früher Jargon der Eigentlichkeit. Im Parlamentarismus, schreibt der Autor, sehen Benjamin wie auch Schmitt nur dessen Schwächen.

Wo aber Schmitt der Diktatur das Wort redet, denkt Benjamin anarchistisch. Er schreibt von einer „Entsetzung des Rechts samt den Gewalten…zuletzt also der Staatsgewalt.“ Benjamin will eine höhere Form der Gerechtigkeit freisetzen, eine weitergehende als die in der bürgerlichen Gesellschaft realisierte, in der sich die Individuen nur als Gleiche begegnen, soweit sie Privateigentümer sind. Das höhere, menschlichere Recht misst sich daran, ob es dem letzten in der Gesellschaft zugutekommt, dem, der gar nichts besitzt, dem Bettler. Schmitt hält es mit den Päpsten, Kaisern und Führern, Benjamin mit denen ohne Papiere. Das ist der Unterschied ums Ganze, so Bock.

Die Menschen guten Willens müssen ihr Bestes geben, damit eine solche Gesellschaft einmal entsteht. Das ihnen dabei zur Verfügung stehende Mittel ist, so Benjamin, der Generalstreik. Kommt er zustande, bündelt er eine Kraft, die eine höhere, göttliche Gerechtigkeit herbeizitiert. Zwei Pole schließen sich gleichsam zusammen. Bock referiert, was Benjamin Messianismus nennt, weder mit der Skepsis des Agnostikers noch mit dem Überschwang eines Theologen.

Teile seines Buchs sind aus einem Uni-Vortrag hervorgegangen, und die Rückfragen der Studierenden haben an der Verfertigung der Bockschen Gedanken ihren Anteil. Die schwedischen Studentinnen und Studenten provozieren mit ihren klugen Fragen ein munteres Ping Pong. „Muss man religiös sein, um Benjamin zu verstehen“. Oder: „Wird uns der Messias erst retten, wenn wir durch seine Hand tot sind?“ Die Macht, die die Welt gerecht einrichtet, ist nicht von dieser Welt? Der Autor gibt wieder, was bei Benjamin zu lesen ist. Es geht dem Benjamin darum, die Geschichte als Abfolge von Gewalttaten und Katastrophen zu unterbrechen. Der Messianismus ist eine Umschreibung von Politik, aber eine, die mit Vokation arbeitet, mit Anrufung, nicht mit Organisation. Den Namen bringt Benjamin ins Spiel; die messianisch erstrittene Welt wäre eine, in der die Dinge mit ihrem richtigen Namen benannt werden.

Die messianische Kraft – Benjamin nennt sie die ‚waltende Macht‘ – wirft jede Menge Fragen auf. Hört Gott, wenn die Geschundenen nach ihm rufen? Gibt es ihn überhaupt? Wird seine Sache geführt, wenn die irdischen Kräfte ihre gerechte Sache betreiben? Wäre es nicht besser, eine profane Organisation zu schaffen, als auf die himmlische Unterstützung zu hoffen? Das Kontinuum der Herrschaft soll unterbrochen werden; darum geht es Benjamin, und die zurückliegende, gescheiterte Novemberrevolution lässt diese Hoffnung nicht als völlig verblasen erscheinen. Wir schreiben das Jahr 1921; die Debatte zwischen Lenin und Luxemburg hat stattgefunden; in Geschichte und Klassenbewusstsein versucht wenig später Georg Lukács ein Resümee, wonach die messianische Kraft der kommunistischen Partei inkarniert ist. Benjamin inkarniert sie in nichts. Sein intellektuelles Umfeld bilden nicht Lenin und Luxemburg, sondern Buber und Rosenzweig (und Kierkegaard, wie Wolfgang Bocks Buch zeigt).

Der von Benjamin propagierte Generalstreik muss organisiert sein; eine Organisation braucht Mitglieder; benötigt wird ein Programm und das zu drucken kostet Geld; es müssen also Mitgliedsbeiträge her, und es muss einen Kassierer geben. Im messianischen Überschwang geht einiges unter. Dem Messianismus fehlt das organisatorische Wissen, das dem Gedanken zur Wirklichkeit verhelfen kann. Walter Benjamin ist kein politischer Mensch in der Art seines Bruders Georg, dem Mitglied der Kommunistischen Partei. Beide, der Intellektuelle und das Parteimitglied, waren, um es vornehm auszudrücken, in unterschiedlichen Epistemen unterwegs. Den Nazis galten die Theorie des einen und die Praxis des anderen als gleich gefährlich. Den Georg brachten sie im KZ Mauthausen um, den Walter trieben sie in Port Bou in den Suizid.

Walter Benjamin nimmt keine ästhetische Haltung der Welt gegenüber ein, aber wie eine politische einzunehmen wäre, weiß er nicht. Der Vorwurf ist natürlich wohlfeil, angesichts der linken Weimarer Parteien, die bis unter die Decke mit Dogmatismus verstopft waren, wie Wolfgang Bock schreibt. Der von Benjamin sehr geschätzte Lukács hat Partei genommen und sich als Partisan innerhalb der Kommunistischen Partei zu bewegen versucht. Er wurde zum Widerruf gezwungen, musste seinen Intellekt opfern, brauchte Wagenladungen voller Glück, um in der Welt der Stalinschen Inquisition zu überleben. In diesem Kosmos wurde die Hegelsche Dialektik laut Lukács so übersetzt: Denunziation, Gegendenunziation, Liquidation.

Benjamins Rede vom Messianismus, lernt man bei Bock, ist so verrätselt, weil sich darin eine politische Not ausspricht. Der Messianismus wird zum Platzhalter des revolutionären Subjekts, das in der Katastrophe des 20. Jahrhunderts zum Mythos verblasst. In der Verrätselung liegt vielleicht ein Grund für die in Intervallen auftauchende Benjamin-Mode. Eigentlich wollen die Benjaminianer es gar nicht so genau wissen, und an der Auflösung des Rätsels arbeiten. Man trägt einen gewissen radical chic, der zu nichts verpflichtet. „Immer radikal, nie konsequent“, nannte Benjamin diese Haltung, mit der er sich, etwas selbstanklägerisch gestimmt, in einem Brief an seinen Freund Gershom Scholem selbst charakterisierte.

Liest man die der Sozialdemokratie geltenden vernichtenden Sätze, ohne den zeitlichen Index im Hinterkopf zu haben, kommt das ewige Wer hat uns verraten dabei heraus. Die Sätze gehören in das von Eric Hobsbawm so bezeichnete Zeitalter der Extreme. Die reformistische SPD galt Benjamin als Teil des repressiven Staatsapparats. An der verhängnisvollen Sozialfaschismus-Parole hielt er noch in seinem letzten Text, den Geschichtsphilosophischen Thesen, fest. 1940 hatte die KPD davon längst Abschied genommen und die Volksfront propagiert. Was die Nazis vielleicht hätte verhindern können, die Zusammenarbeit der linken Parteien und der Richtungsgewerkschaften, richtete gegen den Faschismus gar nichts mehr aus; die Arbeiterbewegung war zerschlagen. Der Antikommunismus der SPD, der Ultra-Radikalismus der KPD, die Lähmung der politisch zersplitterten Gewerkschaften, alles spielte der NSDAP in die Karten.

Rezipiert man Benjamins Abrechnung mit der Sozialdemokratie gleichsam entkernt und geschichtslos, dann schaut man gegenwärtig tatenlos zu, wie eine SPD über die Klippen geschoben wird, die eh schon im tiefen Fall begriffen ist. Ist es klug, eine Partei des Sozialstaats mit einem Rest-Sensorium für soziale Gerechtigkeit mit Nichtbeachtung zu bestrafen? Soll man es mit Nietzsches „Was fällt, das soll man stoßen“, halten? Auch zu solchen Gedanken verführt das vorliegende Buch.

Es verführt überhaupt zu vielen Ausflügen in interessante Seitentäler. Dem Leser wird nie langweilig. Man erfährt etwas aus der Vergangenheit und lernt für die Gegenwart. Wer weiß schon, dass die Nazis die Samurai-Tradition studierten, um sie für die Ertüchtigung der SS fruchtbar zu machen? Interessant, was Bock über die nationalsozialistische Psychotherapie schreibt, die einen Expansionstrieb entdeckt und dem jüdischen, sexbesessenen Freudianismus entgegengesetzt hat. Dass zu dem Beraterstab des Herrn Trump Leute gehören, die eine angelsächsische Schmitt-Renaissance voranbringen, und aus einer ursprünglich linken Theoriezeitschrift (Telos) hervorgegangen sind, weiß Wolfgang Bock zu berichten.  

Es ist der Erzählstil, den er mit Benjamin gemeinsam hat. Er hat seinen Spaß dabei, den humorlosesten aller Gegenaufklärer, Carl Schmitt, durch den Kakau zu ziehen. Es hat einen Anklang an die alten Manta-Witze, wenn er von Schmitts rhetorischem Rennboliden als von einem Silberpfeil schreibt. („Was fragt der Manta-Fahrer den Pfarrer, wenn der Sarg seines Kumpels ins Grab gelassen wird? Könnte man den nicht tiefer legen?“) An mehreren Stellen kommen die großen Aufklärer von Monty Pythons Flying Circus zu ihrem Auftritt. Wissen und Witz nehmen Tuchfühlung auf. Es ist keine in Paragrafen gegebene Kritik der Gewalt, die der Autor geschrieben hat.

Was unterhaltsam und amüsant ist, will aber keinen Klamauk veranstalten, sondern folgt einer Theorie. Mit seinen allegorischen Bildern (auch der Manta wäre so eins) knüpft Wolfgang Bock an die Unterscheidung zwischen Lehre und Erzählung an; beide sollen sich wechselseitig erhellen. Es ist eine Unterscheidung, die Kafka den jüdischen Erzählungen und Benjamin dem Kafka entnimmt. Mit seinen dialektischen Bildern expliziert Benjamin, was er sagen will und Bock macht das auch. Die erzählten Geschichten und die Jokes dienen der Theorie nicht bloß als Mittel, um etwas zu verdeutlichen, sondern das Anschauliche folgt einer Eigenlogik. Was das Schreiben in dialektischen Bildern ausmacht, verdeutlicht Bock mit dem Bild der Uhr. Sie ist die Zeit, und der Chronometer stellt sie zugleich dar. Die Idee basiert auf einer konkreten Form, schreibt Bock, und so dialektisch geht es in seinem Buch zu.

Der Messianismus in Bocks Fassung ist das Prinzip, ein aufgeklärtes, mit allen Mitteln gewaschenes politisches Vermögen stark zu machen, um den gegenwärtigen Dunkelmännern und -frauen den Weg zu verstellen. Man muss die Giftstoffe der Neuen Rechten kennen, um ein Vakzin zu entwickeln. Der Stichwortgeber der Rechten ist wieder Carl Schmitt. Was er schreibt, könnte von Frau Weidel und Herrn Höcke stammen. Die Parlamente sind „zu dem ziemlich verachteten Geschäft einer ziemlich verachteten Klasse von Menschen geworden.“ Das hört man heute aus allen Kanälen; eine Querfront von Pseudolinks und Hardcore-Rechts bedient solche Töne. Das System der Checks and Balances ist ihnen verhasst; es soll wieder eine einzige Macht geben. Der nationalistische Mythos hebt erneut die Flügel. Die „Empfindlichkeit für das Verschiedensein an sich“ (Carl Schmitt) gibt ihm Auftrieb.

Artikel online seit 01.06.21
 

Wolfgang Bock
Gewaltkritik
Politik, Populismus und Parlamentarismus bei Walter Benjamin, Carl Schmitt, Georges Sorel und Giorgio Agamben.
Königshausen & Neumann
416 Seiten
49,80
978-3-8260-7291-8

 

 


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