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Der protestantische Hase

Wolfgang Bocks Essay »Kunst und Angst« über Søren Kierkegaard,
den Film The Square und zum Verhältnis von Moderne, Melancholie und Gewalt

Von Peter Kern

 

Wer seine morgendliche Zeitungslektüre beendet und sich der Lektüre dieses Buchs zugewandt hat, muss einen gewaltigen gedanklichen Sprung hinlegen. Er hat vielleicht gerade über den Koalitionsvertrag gelesen, der den Titel trägt Mehr Fortschritt wagen. Dann liest er in diesem Buch über Kierkegaards Jetztzeit, die jeglichen Fortschritt alt aussehen lässt. Klar, das eine ist Politik, das andere Theologie; man soll die Sphären nicht vermengen. Soll man nicht? Einmal las man’s ja anders.

Wolfgang Bock schreibt über den ganz unzeitgemäßen Philosophen Kierkegaard ein Buch. Warum macht er das? Weil er ihn keineswegs für unzeitgemäß hält, trotz des Sermons von Ursünde und Erbschuld. Der protestantische Kosmos des dänischen Pastors will doch so gar nicht zur Gegenwart passen. Kierkegaard und die permissive Gesellschaft, das scheint wie Wasser und Feuer. Eine Zeit, in der die Ultrarechten der AfD eine lesbische Frau mit eingetragener Partnerschaft zur Vorsitzenden machen, wäre dem Theologen als Zeitalter der vollendeten Sündhaftigkeit erschienen und vermutlich weniger aus politischen als aus moralischen Gründen. Kierkegaard hat dem Lotterleben des ästhetischen Lebensentwurfs einmal die Leibfeindschaft des sublimierenden Asketen gegenübergestellt. Mit einem solchen Ideal macht man sich eher lächerlich als interessant; umgekehrt wird heutzutage ein marktgängiger Schuh daraus.

In den Pfuhl aus Schuld und Angst soll der Mensch mit beiden Beinen reinspringen, das hat Kierkegaard gelehrt; so würde der Mensch seine Freiheit bewähren. Man muss sich also entscheiden, ein Angsthase zu sein, daraus erwächst die Freiheit. Das ist eine wenig witzige Zumutung und nicht die einzige, die Kierkegaard abverlangt. Der Urtext des Existentialismus riecht ja nicht nach Sartre und Quartier Latin sondern nach Luther und Wittenberg. Nur wer sich der von der Ursünde Adams herrührenden Angst stelle, dringe zum Eigentlichen durch. Wer Angst und Schuldgefühl verweigere, sei dagegen seinsvergessen. Man kommt ins Grübeln. Ist das die Mode von gestern oder die von morgen?

Wolfgang Bock schreibt über einen Untoten und einen autoritären Denker. Die Sache mit der Ursünde ist für den Menschen zu hoch; eine vernünftige Begründung dafür gibt es nicht. Die könne es auch gar nicht geben, das müsse als Tatsache hingenommen werden, so Kierkegaard. Die Angst sei ein Existential, mit dem ein Gott sich den Menschen mitteile, und der Glaube überwinde die Angst. Aber der Glaube sei zugleich eine von Gott gewährte Gnade. Wem Gott die Gnade nicht erweist, der hat also geloost, wie die jungen Leute sagen.

Kierkegaard hält es mit der Gnadenwahl. Demnach ist jeder Mensch verworfen oder gerettet durch den unerforschlichen göttlichen Ratschluss. Bevor der Mensch in die sündige Welt eintrete, sei schon vorherbestimmt, wie er sie einmal verlassen werde. Nur wenigen komme die Gnade zu, sie als Auserwählte zu verlassen. Bock benutzt ein schönes Bild. Es ist wie beim Handtuchkrieg auf Mallorca; die schönen Plätze sind immer schon belegt.

Woher dann aber meine Schuld, wenn ich sowieso nichts ändern kann? Wer vorherbestimmt ist, kann keinen freien Willen haben. Er ist durch den gnädigen Gott zu den wenigen Seligen oder durch den zornigen zu den vielen Verdammten vorherbestimmt. So absurd ist die Welt, wird ein unbefangener Leser fragen. Willkommen im Club, wird Kierkegaard antworten. In seiner Theologie hängt der Mensch in einer einzigen, unverschuldeten Schuldenfalle, so der Autor.

Die Erbsünde könne nicht abgeleitet werden; sie sei außerhalb verstehender Vernunft. Sie komme mit einem Sprung in die Welt. Demnach hat die Welt einen Sprung in der Schüssel, und indem die Vernunft vor dem Dogma ihr Haupt beugt, akzeptiert sie den Sprung in der eigenen Schüssel. Den fürs Opfer des Intellekts ausgesetzten Preis nennt der Freiheitsprediger Selbstigkeit. Auf solchen Preis verzichtet man gern. Bock nimmt den Standpunkt der Vernunftkritik gegen Kierkegaard ein. Er zitiert Kurt Flasch: „Ein Gott, der so wahllos straft und grundlos vernichtet…wird zum Ungeheuer.“

Kierkegaards Existentialismus macht viel Wind. Die Individuen kommen zu ihrem Recht nicht, weder als vernunftbegabte noch mit ihrer Libido. Man solle sich ja nicht vom Gesetz des Fleisches und der Triebe unterkriegen lassen, lautet die Gardinenpredigt. Warum eigentlich nicht, wenn man die Seligkeit, die einem zukommt, nicht verspielen und die Sünde durch Wohlverhalten nicht loswerden kann? Der Protestantismus in Kierkegaards von Bock entschlüsselter Version hat den zerknirschten, autoritären Verhältnissen gut angepassten Menschen zum Zweck.

Musik, Dichtung, Film und Malerei sind dem philosophierenden Protestanten bloße Medien der Verführung. Auf den ersten Blick scheint dies ein weiterer Beleg für die These einer völlig unzeitgemäßen Philosophie. Heutzutage muss schon ein Laptop einen kulturellen Touch haben, damit er gut verkäuflich ist. Bock entfaltet seine Lesart des Kierkegaard anhand des Films The Square. Dieser Film ist ihm das Medium seiner theoretischen Reflexion. Der Film wurde in Cannes vor wenigen Jahren mit der Goldenen Palme prämiert. Er bebildert Spitzen gegen die Autonomie der Kunst und gegen die vom Kunstbetrieb lebenden Menschen. Das einfache Leben gegen die überkandidelte Kunst, das, so Bock, könnte von Kierkegaard sein. Und der hat es ja auch mit der Ironie. Dass die Kunstkritik im Kino verhandelt wird, einem der Kunst verwandten Ort, ist eine ironische Pointe.

Bei Kierkegaard steht die religiöse Sphäre weit über der des ästhetischen Genusses. Der Film macht ordentlich Kunst-Bashing; aber die Religion in den Himmel zu heben, das traut sich sein Regisseur nicht. Damit lässt sich ja kein Blumentopf, geschweige denn eine Goldene Palme gewinnen. Der Film geißelt also die falsche Versprechung des Kunstwerks, ohne den Trost der positiven Religion zu bieten. Der Kinogänger Kierkegaard hätte dem Regisseur fehlenden Ernst vorgehalten.

Kierkegaard, lässt sich aus dem Bockschen Buch folgern, steht am Anfang der Misere, die die Kirchen aktuell durchleben. In der Tradition des Nominalismus stehend, trauen sie sich nur noch, den Glauben an Gott als einen irrationalen Akt auszugeben. So sehr sind die heutigen Theologen von der technisch-naturwissenschaftlichen Weltsicht imponiert. Der Mensch solle glauben, weil es absurd sei. Das klingt ein bisschen nach Abenteuer, aber auf dem Abenteuerspielplatz der Kulturindustrie ist woanders mehr zu holen. Eine existentialistisch verhunzte Theologie laboriert an einem Problem, das Kant hellsichtig vorausgesehen hat. „Denn eine Religion, die der Vernunft unbedenklich den Krieg ankündigt, wird es auf die Dauer gegen sie nicht aushalten.“

Was fehlt ist ein Sprung aus einer Welt, die der Religion als allgemeinem Trost- und Rechtfertigungsgrund (Marx) gar nicht mehr bedarf, obwohl diese Welt keineswegs heil ist. Nun kommt die dialektische Pointe in Bocks story book: Denn für diesen Sprung kann er den Kierkegaard gut gebrauchen. Bock redet dem handgreiflichen politischen Eingriff das Wort. Das politisch gewendete, gleichsam existentielle Sensorium des Einzelnen, der sich mit den anderen Einzelnen so lange zusammentut, bis eine kritische Masse entsteht, soll dem Eingriff die Hand führen. Es braucht Individuen mit einem funktionierenden moralischen Korsett und einem ebensolchen Klasseninstinkt. Bock schließt sich dem Existentialismus des Walter Benjamin an, den er im Schlusskapitel ausführlich würdigt.

Mit der Kategorie des Sprungs hat sich Benjamin einer Kierkegaardschen Kategorie bemächtigt, die ein viertel Jahrhundert später unter dem verdinglichten Begriff des subjektiven Faktors Urstände feiert. Die tätige Moral der politisch Handelnden ist gefordert; von einer per Bewegungsgesetz gesteuerten Geschichtsmechanik ist nichts zu erwarten, so eine damalige Erkenntnis. „Wir sind nicht die Idioten der Geschichte“, hat Rudi Dutschke einmal gesagt.

Es gab frühe, vernunftfreundliche Bilder von Gott, die kamen ohne das Dogma der Erbsünde aus und der menschliche Leib galt ihnen nicht als mit Sünde kontaminiert, erfährt der Leser von Bock. Die diesen Gemeinden anhingen, wurden von der entstehenden Orthodoxie weggeboxt. Die Theologen sollten Bocks Buch gründlich lesen. Er fördert die Leichen aus dem Keller hoch, aber ohne die ordentliche Bestattung der Scheintoten geht nichts zum Besseren. Was wäre das Bessere? Eine Religion, die dem Menschen ein Wahrheitsvermögen zuspricht und ihm das Opfer seines Verstandes nicht abverlangt. Dass beides zusammengeht, Vernunft und eine als Offenbarung begriffene Natur, hat Karl Heinz Haag gezeigt.

Artikel online seit 19.12.21
 

Wolfgang Bock
Kunst und Angst
Ein Essay über
Søren
Kierkegaard und den Film The Square
Zum Verhältnis von Moderne, Melancholie und Gewalt
Königshausen & Neumann
220 Seiten
39,80 €
978-3-8260-7415-8

 


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