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Entdinglichte Welt?

Byung-Chul Han schießt mit seinem Essay weit über das Ziel hinaus

Von Jürgen Nielsen-Sikora
 

Byung-Chul Hans Essay über die Umbrüche der Lebenswelt (so der Untertitel) fokussiert das Zeitalter der »Undinge«, von denen Vilém Flusser schon vor geraumer Zeit sagte, dass sie die Dinge verdrängten. Zu diesen Undingen zählt Han die Infosphäre, Big Data, die gesamte digitale Kommunikation. Sicherte die Welt der Dinge Stabilität, Kontinuität, Ordnung und Orientierung, so sorgen die immateriellen Undinge für Unruhe, Chaos, Kontingenz und – Überwachung.

Die Digitalisierung der Welt raube den Dingen die Materialität, dahingegen schöben sich die Undinge, so Han, vor die Dinge, vermüllten sie und ließen sie unsichtbar werden. Das Bewusstsein für Materialität sei inzwischen verloren gegangen: Wir verhielten uns zusehends gleichgültig gegenüber den Dingen, hätten keine Zeit mehr für die Wahrheit, keine Zeit mehr zu verweilen. Auch die Sphäre des Handelns, wie sie Hannah Arendt einst beschrieben hat, schrumpfe. Die Folgen: Andersheit, Geheimnis, Beziehungen, Nähe und Stille lösten sich auf. Und statt um den Besitz von Dingen gehe es vorrangig um Zugang und totale Verfügbarkeit.

Vom Verlag als »Minima Moralia der Informationsgesellschaft« angekündigt, wird jedoch nicht so recht deutlich, inwiefern die Aphorismen Adornos, die im Angesicht des Terrors im faschistischen Deutschland entstanden sind, mit Hans Reflexionen zu vergleichen sind. Allenthalben die leise Ahnung von Formen eines guten und richtigen Lebens, die Han in ein kurzes Plädoyer für eine Ontologie der Materie packt, weisen eventuell in diese Richtung.

Grundsätzlich aber überspitzt Hans Essay maßlos. Ohne Zweifel wuchert das Universum der Undinge, das heißt der digitalen Daten, und wächst ins Bodenlose. Und auch hat dies Rückstrahlwirkung auf die materielle Welt. Vom Verschwinden der Dinge kann jedoch keine Rede sein. So wie der Geist die Materie braucht, um zu existieren, benötigen die Undinge die Dinge, um sich mitzuteilen: Keine Infosphäre ohne Technologien, die von Menschenhand geschaffen sind. Aber auch die Wertschätzung der Dinge gerade in einer Zeit, in der so vieles zum Stillstand gekommen ist wie 2020/21, hat meines Erachtens eher zugenommen.

Schon in »Trost der Dinge« (2010) hat Daniel Miller gezeigt, wie wichtig die Dingwelt nach wie vor ist. Für Miller ist es ein Mythos, in dieser Welt gäben sich zusehends isolierte Individuen hemmungslos dem Konsum hin. Der britische Anthropologe hinterfragt diesen Mythos, indem er die Bewohner einer einzigen Londoner Straße aufsucht und sie zu den Dingen, die sie in ihrer Wohnung aufbewahren, interviewt. Obwohl die Menschen nicht gerne über ihr Leben Auskunft geben, sind sie dennoch bereit, über die Dinge, mit denen sie leben, zu berichten. Da ist jemand, der mehr als 15.000 Schallplatten besitzt, weil die Musik all seine emotionalen Schattierungen zum Ausdruck bringe. Und da gibt es auch billige Spielfiguren aus dem Fast-Food-Restaurant, mit denen eine Mutter ihren Kindern ihre Liebe zum Ausdruck bringen möchte.

Bücher, Bilder, Briefe, Schallplatten, Spiele, Fotoalben, Kalender, Comics, Münzen, Modelleisenbahnen, Plakate, Puppen, Orden, Orangen-, Zucker- und Schokoladenpapier, Blechspielzeug und Autogrammkarten, Schneekugeln, Schweizer Uhren und vieles mehr: Die schier endlose Multiplikation des Selbst in den Dingen, mit denen wir uns umgeben, gerät doch eher immer mehr in den Fokus der Aufmerksamkeit – trotz Digitalisierung, oder vielleicht sogar gerade deshalb!?

Wie Xavier de Maistre in seinem Lehnstuhl am Ende des 18. Jahrhunderts reisten wir während des Lockdowns im Zimmer umher und zum Schreibtisch, betrachteten die Bilder an der Wand, blickten in den Spiegel, schweiften mit in Gedanken durch die Welt altgriechischer Philosophen oder amerikanischer Romanciers und kehrten nach imaginären Spaziergängen wieder zurück zum geliebten Haustier (vielleicht einem Hund namens »Rosine«) zurück.

Entdinglichte Welt? Mitnichten! Ein bisschen weniger Effekthascherei, etwas weniger Dramatik wäre angebracht. Muss jeder Satz wirklich eine große These sein? Liest dann möglicherweise niemand mehr über die doch eher triviale Feststellung, dass wir in einer Informationsgesellschaft leben, in der die Digitalisierung weiter voranschreitet? Wie dem auch sei: Auf die Dinge werden wir auf absehbare Zeit nicht verzichten müssen.

Artikel online seit 21.06.21
 

Byung-Chul Han
Undinge
Umbrüche der Lebenswelt
Ullstein Verlag
128 Seiten
22,00 €
9783550201257

 

 


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