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Wiederauferstehungen

Michael Helmings
inspirierende Reise zu und mit fünf vergessenen
Autoren Osteuropas
»Bye Bye Babel«

Von Lothar Struck

 

Wie leicht übersieht man in der Masse ein Buch wie "Bye Bye Babel". Noch dazu, wenn es in einem kleinen Verlag erschienen ist ("catware.net Verlag"). Aber spätestens beim Untertitel wird man neugierig: "Reise zu fünf vergessenen Autoren Osteuropas".

Das Autorenbild zeigt einen träumerisch daherschauernden Mann mit sanft geneigtem Kopf, der einen Spiegel vor seinem Ohr hält auf dem etwas undefinierbares zu sehen ist. Der Mann heißt Michael Helming und wenn man ein bisschen nachschaut, ist er vielseitig tätig, als Dramaturg, Schriftsteller, Essayist, Mitherausgeber (z. B. von "Lichtwolf", der "Zeitschrift trotz Philosophie"). Kurz beschleicht einem der Gedanke, die fünf vergessenen Autoren seien hübsch gebastelte Fakes, um den Literaturbetrieb ein wenig zu veralbern. Aber ein paar Klicks genügen, um festzustellen, dass es diese Schriftsteller tatsächlich gegeben hat und Helming schon in der Vergangenheit Bücher über vergessene Autoren geschrieben hat.

Die fünf Essays im aktuellen Buch sind zwar alle schon einmal irgendwo erschienen, aber es ist zu loben, dass sie nun in dieser Form gebündelt veröffentlicht werden. Der Titel des Buches bezieht auf Isaak Babel, bei dem exemplarisch der "Zyklus von Erfolg, Vergessenwerden und Wiederentdeckung" erläutert wird und der als Ausgangspunkt für die anderen Entdeckungen fungiert. Babel, der 1940 von Stalins Schergen ermordet wurde und damit auch für fast zwanzig Jahre seine Bücher in der Versenkung verschwanden, wird heute mindestens in seiner Heimatstadt Odessa gefeiert wie der Nationaldichter der Ukraine, wie Helming anhand der Denkmäler in seinem Vorwort (welches keines sein möchte) beschreibt. Es gibt also, so die Botschaft, immer noch Hoffnung.

Der erste Text erzählt vom Besuch in Zlín im heutigen Tschechien, eine Stadt, die einst vor allem durch die Bat'a-Schuhfabrik bekannt war und das in den 1930er Jahren gebaute Bat'a-Hochhaus, welches nicht nur den Stararchitekten Le Corbusier begeisterte sondern auch im Mittelpunkt bei Egon Erwin Kischs Besuch 1947 gestanden haben soll und heute als Verwaltungszentrum dient. In dieser Fabrik arbeitete seit 1926 der bekennende Kommunist Svatopluk Turek (1900-1972) als Plakatmaler. 1933, kurz nach seinem Ausscheiden dort, verfasste er so etwas wie einen Enthüllungsroman über die sozialen Schieflagen in diesem Betrieb und die merkwürdigen Allüren ihres Gründers. Die Charaktere waren kaum fiktionalisiert und mit dem Titel "Botostroj" (übersetzt: "Die Schuhmaschine") wusste jeder, dass Bat'a gemeint ist. Der Roman war natürlich ein Dorn im Auge – des Unternehmens wie auch der Stadtoberen. Schließlich erreichte man gerichtlich ein Verbot. Das war allerdings das kleinere Problem von Turek, denn kurz darauf marschierten die Nazis in das Land ein und er musste sich verstecken. Glücklicherweise überlebte er.

In den 1950er Jahren schließlich wurde er zunächst in der Tschechoslowakei und dann in den anderen, sozialistischen Ländern wieder aufgelegt. In der DDR erschien "Die Schuhmaschine" 1953 mit dem Titel "Der Chef". Der Nachfolgeroman, in dem die Verstaatlichung des Unternehmens erzählt wurde, erschien dann 1955 ("Ohne Chef"). Helming ordnet diesen Roman zwar als sozialistischen Realismus ein, betrachtet ihn jedoch dennoch als lesenswert, unter anderem weil der Autor dort "unwissentlich" zur Vorsicht mahne: "Jedem noch so vertrauten System sollte auf gewisse Weise misstraut werden, andernfalls kann es über Nacht in Unmenschlichkeit abdriften".

Weiter geht es mit Hermann Ungar (1893-1929), geboren in Boskovice im heutigen Tschechien. Er war der Sohn eines jüdischen Spirituosenfabrikanten. Außer dass er an einem Blinddarmdurchbruch gestorben ist und später im Prager Außenministerium tätig war, gibt es keine weiteren persönlichen Daten von Helming über ihn. Ungar war Weltkriegsteilnehmer und promovierter Jurist. Sein Schreiben geschah eher nebenberuflich. Die Angaben zum Umfang seines Gesamtwerks variieren. 1989 gab es eine Ausgabe mit 500 Seiten. Anfang der 2000er Jahre gab es beim Igel-Verlag eine dreibändige Werkausgabe mit rund 1000 Seiten Umfang. 

Ungars Roman "Die Verstümmelten" von 1923, seinerzeit hoch gelobt von Thomas Mann, nennt Helming in einem Atemzug mit Kafkas "Schloss" oder dem "Process". Man kann in dieser Geschichte um den zwanghaften Bankbeamten Franz Polzer, seinem virilen Freund Karl Fanta, dem praktisch bei lebendigem Leibe die Extremitäten abfaulen, die dann amputiert werden müssen und der verstohlen-triebhaften Witwe Klara Porges, so Helming, "den Seelennebel förmlich zwischen den Zeilen aufsteigen sehen". Das Buch ist tatsächlich große Literatur. Die Skurrilität der Figuren wirkt nie ausgestellt, sondern zieht den Leser in einen Strudel aus Faszination, Ekel und Erschütterung in den Bann. Der Vergleich mit Kafka – den Helming vornimmt, weil er in Prag all die Kafka-Touristen wahrnimmt, während Ungar vollkommen unbekannt ist – ist allerdings kühn. Denn Ungars "Die Verstümmelten" fehlt das in für den heutigen Leser immer noch mögliche Identifikationspotential mit den Hauptfiguren. Wer es nicht gedruckt im Antiquariat erwerben möchte, kann "Die Verstümmelten" bei einem großen Onlinehändler als E-Book erhalten.

Helming hat die Angewohnheit, die Gräber seiner Autoren aufzusuchen; sozusagen die einzige Begegnungsmöglichkeit mit einem verstorbenen Schriftsteller. Bei Ungar gestaltet sich das sehr schwierig, nicht zuletzt weil der Friedhof Malvazinsky in Prag, auf dem er bestattet sein soll, nicht nur einem Labyrinth mit etlichen total verwilderten Grabsteinen ähnelt, sondern es zwecks Suche einer bestimmten Grabstätte kein vernünftiges Kartenmaterial gibt. Als er fast schon aufgeben wollte, entdeckt er dann doch noch unter urwaldähnlichem Bewuchs den Grabstein (der auch abgebildet ist).

Auch den böhmischen Avantgardisten Richard Weiner (1884-1937), der "phantasmagorische Sonderfall" (Helming), nähert er sich durch den Besuch der Grabstätte, zumal Weiner häufig den Tod als "Initiator der Erzählung" bemüht hatte. Er war nicht nur Schriftsteller, sondern auch Journalist, lebte zeitweise in Paris, wurde dann zum Ersten Weltkrieg eingezogen, wobei er aus den überlieferten Briefen "'voller Verachtung und Haß'" über diesen Krieg spricht, wie man in einer 2005 erschienen Monographie nachschlagen kann. 1915 erleidet Weiner einen Nervenzusammenbruch an der Front. Er schreibt nun Erzählungen voller "düsterer Faszination", in denen er mit Orakeln versucht, dem Unfassbaren eine Form zu geben. Helming hat erfahren, dass Weiner zwischen 1912 und 1936 auch über 3000 Feuilletons verfasst haben soll; ein Vielschreiber, den man bergen müsste wie ein Wrack auf dem Meeresgrund und vermutlich reich beschenkt würde. Alleine: Wer macht's?

Der größte Unbekannte in diesem Buch ist der 1925 in einem heute nicht mehr existierenden Dorf im "Amtsbezirk Gawaiten" (heute im Oblast Kaliningrad) geborene Hans Olschewski, der 1968 in Göttingen verstarb. Einen Roman gibt es von ihm, "Der Absturz" von 1961 (Fischer-Verlag), eine apokalyptisch grundierte Geschichte eines bizarren Bootsausflugs in den letzten Tagen des Krieges 1945. Der Roman ist schon damals so gut wie gar nicht rezipiert worden; es gibt eine winzige "Spiegel"-Notiz darüber. Helming sucht nach Spuren, aber außer den akademischen Aufzeichnungen (Olschewski war promoviert, Lektor und anschließend Assistent am Germanistischen Institut in Köln), findet er nichts brauchbares. Ob jener "Heinz Olschewski" in der Teilnehmerliste der Gruppe 47 tatsächlich Hans Olschewski war, vermag er nicht zu sagen.

Der letzte der Verwehten dieses Buches ist Oscar Walter Cisek (1897-1966), ein "hellhöriger Beobachter" und "sorgfältiger Chronist" mit der Besonderheit, seine Figuren auf allerunterschiedlichste Weise lächeln oder lachen zu lassen. Geboren in Bukarest als Spross einer "Kaufmannsfamilie mit migrantischen Wurzeln", machte Cisek trotz diverser politischen Unruhen sein Abitur und veröffentlichte früh kleine Erzählungen, ging für kurze Zeit nach München als Student und wechselte mit noch mit einmal 30 Jahren in den diplomatischen Staatsdient. Parallel hat er geschrieben, fast nur auf deutsch, selten in rumänisch. 1929 erhält Cisek eine "ehrenvolle Erwähnung" im Rahmen des Kleist-Preises. Der größte Erfolg ist sein 1937 erschienener Roman "Der Strom ohne Ende", den Helming nahezu hymnisch lobt.

Cisek bleibt scheinbar durch alle Regierungen hinweg bis 1946/47 im Staatsdienst tätig, zum Schluss als Generalkonsul Rumäniens in Bern. Dann dreht sich der Wind, er wird entlassen und landet sogar für anderthalb Jahre im Gefängnis. Nach Stalins Tod wird er rehabilitiert und beginnt neue Schreibprojekte. 1963 reist in die DDR, ist "korrespondierendes Mitglied der Deutschen Akademie der Künste". Cisek war auch als Kunstkritiker und exzellenter Kenner des Expressionismus bekannt; seine Aufsätze wurden lange zitiert und geschätzt.
Abschließend wandelt Helming dann noch lustvoll in einem nicht als Nachwort deklarierten Nachwort auf den Spuren der zahlreichen Ortswechsel im Leben von Alexander Puschkin. Wie und warum das so ist, sollte man sich erlesen.

Zu Beginn heißt es vom Autor, er wolle mit diesem auch bereits in anderen Büchern praktizierten "Wiederauferstehungen" alter Erzählungen "Literatur über Literatur von einem Leser für Leser" schreiben. Man muss eindeutig feststellen, dass ihm das mit der Mischung aus Reisebericht, Archivrecherche und Literaturenthusiasmus vorzüglich gelungen ist. Die Lektüre ist Bildung im besten Sinne, kurzweilig, unterhaltsam und instruktiv.

Und jetzt entschuldigen Sie mich. Ich muss in die Antiquariate.


Artikel online seit 18.11.21
 

Michael Helming
Bye Bye Babel
Eine Reise zu und mit fünf vergessenen Autoren Osteuropas: Svatopluk Turek, Hermann Ungar, Richard Weiner, Hans Olschewski und Oscar Walter Cisek.
Catware.net Verlag
128 Seiten, 8 Abbildungen
9,80 €
978-3-941921-726

 


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