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»Und der Februar tritt über die Ufer.«

Vom Mitschwimmen als Mitdenken. Über Rüdiger Görners Essay
»Romantik.
Ein europäisches Ereignis
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Von Wolfgang Bock
 

Übergänge
Die Romantik ist bekanntlich die Epoche, die in Deutschland literaturhistorisch an die Weimarer Klassik anschließt. Aber die Trennung ist künstlich: der spätere Klassiker Goethe, der 1749 geboren wird und 1832 stirbt, gehört beiden Stilepochen an, während der Romantiker Novalis erst 1772 zur Welt kommt und bereits 1801 das Zeitliche segnet. Zur Epoche der Frühromantik zählt genauso gut die revolutionäre Zeit der Französischen Revolution wie die der napoleonischen Kriege, der Restauration und des Nationalismus danach. Für Hegel war „romantisch“ daher nicht zu Unrecht synonym mit „modern“ und für Heinrich Heine dessen Philosophie ebenso wie die der Schlegels und der Romantischen Schule insgesamt Gegenstand eines großen Spottes.

Angesichts der vielen unverstandenen deutschen AutorInnen gerät hierzulande leicht aus dem Blick, dass die Romantik eine paneuropäische Bewegung ist, die von Frankreich bis Russland und von Italien bis Dänemark, Schweden und Norwegen reicht. Und sie umfasst die Poesie, die Musik und die bildenden Künste sowie die Wissenschaften. Insofern tut es gut, hier einmal mithilfe eines kundigen Literaten wie Rüdiger Görner den Blick auf diese noch weitgehend unbekannte europäische Epoche zu fokussieren. Zeitenferne, lehrt der Psychologe und Philosoph Ludwig Klages im Anschluss an seinen Lehrer Carl Gustav Carus, vergegenständlichen wir wie Raumesferne. Bereits 1990 hatte der Suhrkamp-Verlag den Band des brasilianischen Literaturwissenschaftlers Luiz Costa Lima über das Imaginär übersetzt und herausgegeben. Dieser hatte sich aus südamerikanischer Perspektive neben der deutschen auch mit der französischen und der englischen Romantik beschäftigt.[1]

So fern, so nah
Eine solche internationale Perspektive auf die Epoche der Moderne in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird bei Görner insbesondere aus deutsch-britischer Sicht gegeben. Der Autor lehrt deutsche und vergleichende Literatur an der Londoner Universität. Sein Projekt ist sinnvoll und nötig, denn die verschiedenen europäischen Länder haben durchaus verschiedene Zugänge zur Romantik hervorgebracht, die in Europa insgesamt ernsthaft in den Blick zu nehmen bislang von nationalen Fesseln zurückgehalten worden sind. Vornehmlich von den Vertretern der deutschen Romantik wissen wir, dass sie sich entsprechenden Illusionen der Reaktion dort hingaben, wo die Franzosen beispielsweise vom revolutionären Elan der Aufklärung angetrieben wurden. So ist von Friedrich Schlegel die Entwicklung von seiner avantgardistischen Einstellung hin zum stockkonservativen europäischen Modell nach Metternich bekannt.

Symphilisophische Meermusik
Görner erstellt einen übersichtlichen und aktualisierten Blick auf die Romantik aus solcher europäischen Perspektive. In seinem lebendig geschrieben Buch widmet er sich in zehn Kapiteln verschiedenen Aspekten ihrer Kunst und Wissenschaft. Görner nimmt die Idee des Symphilosophierens, von den Schlegelbrüdern und ihren berühmten Frauen wie Karoline Schlegel-Schelling, Dorothea Schlegel, Bettina von Arnim, aber auch Hegel, Hölderlin, Schleiermacher und Novalis in der romantischen Konstellation in Jena entwickelt, wörtlich und überträgt sie auf seine eigenen vielfältigen Kenntnisse: „Behandele ein Phänomen wie viele und Viele wie Eines“ ist dabei sein Leitspruch. Er beginnt nach der Ouvertüre im ersten Kapitel hauptsächlich wieder mit den Zugängen aus England, das von 1814 bis 1866 im Königreich Hannover ein Brückenkopf auf dem Kontinent besaß. Zu Beginn werden alle späteren Motive bereits einmal so rasch angespielt, dass es den Leser – und Hörer im übertragenen Sinne – schwindelt: aus den Zugeständnissen an den hermeneutischen Zirkel, der das Gesamtbild umreißen will, um das Detail zu würdigen, erwächst rasch ein Strudel an Namen, Ereignissen und Inhalten. Denn diese „Überblicksdarstellung“ ist bereits gespickt mit tausend Details. Sie ist als eine lebendige große Nacherzählung angelegt, die die Leserin und den Leser mitnimmt in die Mitte dieses Stroms und ihm auch die bisher verborgenen Seitenarme zeigt.

Vom Fortschrittsglauben und den Monstren des Ichs
Die Romantiker besaßen eine Vorliebe für das internationale Mittelalter und den Barock. Von dessen metaphysischer Stimmungslage wurde geschrieben, dass sie einem Menschen entspräche, der – an das Treibholz eines Wracks sich klammernd – im Fluss auf einen Wasserfall zutreibe. Von dieser Angst vor der Katastrophe der Menschen der frühen Neuzeit aber bleibt in der Frühromantik des jungen 19. Jahrhundert zunächst die Sehnsucht nach einer Ganzheit auch in der Kritik; in der Spätromantik entsteht daraus der bekannte Hang zu den Gespenstern und Monstern, der dann ungerechtfertigter Weise für die ganze Romantik einstehen soll. Der Strom als Vorfluter des weiten Meeres und das allegorische Trümmerstück als der zerschlagene Rest des früheren Kunstsymbols finden sich auch in der Romantik. Aber der Wassersturz als großes und fatales Telos der Geschichte ist in weite Ferne gerückt. Seine ältere Apokalyptik wandert nach der Reaktion der Befreiungskriege bald in die Fortschrittsvorstellung der sich anbahnenden Industrialisierung, der Kanalbautechnik und der Eisenbahnen ein. Diese lässt zugleich die Börsen wie die bürgerliche Öffentlichkeit anschwellen, bevor die Reise in das Deltaland des unifizierenden Meeres der Moderne übergeht.

Auch in Görners Darstellung herrscht ein großes Fluten vor, so nah bringt er seinen Lesern diese poetische Bewegung der Romantik. Irgendwann gibt denn auch der Rezensent den Halt seines Floßes auf, das auf den Namen „Trennschärfe“ gehört hatte, und schwimmt mit dem halben Rettungsring, auf dem noch „Trennsch…“ steht, einfach mit. Der Erzählstrom Görners führt ihn, wenn auch nicht in das Meer des seligen Vergessens, so doch zu schönen Stunden des einfachen und staunenden Lesens.

Schnappende Ungeheuer
Die Ungeheuer der See der Spätromantik aber, wie der Riesenkrake in Victor Hugos Arbeiter des Meeres oder der Walfisch in Hermann Melvilles Moby Dick, bleiben unter den Schwimmern. Sie tauchen nur noch dann und wann einmal auf. Ansonsten gehen sie aus der äußeren Welt in die inneren Schrecken der Zähmung selbst über. Das Ich, vom Philosophen Fichte frisch aus der Taufe gehoben, zersetzt sich bald wieder in der Literatur. Für diese Auflösung geben dann Mary Shelleys Frankenstein oder Bram Stockers Dracula bis Buffy im Banne der Dämonen bis heute die entsprechenden Allegorien ab. Nicht umsonst hatten bereits E.T.A Hoffmann, der Gespensterhoffmann – mit „holistischem Zugang“ auch zu den naturwissenschaftlichen Phänomenen – zusammen mit Gustav Carus und seiner Schrift Psyche schon alle Motive der Psychoanalyse wie Unbewusstes, Spiegelungen, Splitterungen und Spaltungen des Ichs und der Anderen vorweggenommen. Beides dient als unerschöpfliche Quelle für spätere Seelenforscher wie Ludwig Klages und Sigmund Freud und ihre Studien und Beispiele.

Romantische Resakralisierungen
Bei all dem freien Treiben und Schwimmen im aufgemischten Strom der Trümmerstücke von Tradition und Moderne dennoch nach einem Rettungsanker oder wenigstens nach einer stehbaren Sandbank suchend, erwartet sich der Leser nach diesem furiosen Eingang eine Linderung der erzählerischen Gewalt in den folgenden konkreter angekündigten Einzelkapiteln. Görner wendet sich darin den verschiedenen Kunstgattungen zu: den romantischen Prinzipien des Spiegels und der Spaltungen, des Fragments und dem zerfallenen Ganzen in den Romanen und ihren Übersetzungen (beispielhaft Schlegels Lucinde und Hoffmanns Die Elixiere des Teufels), der Lyrik, dem Ballett, den Wissenschaften und der bildenden Künste ebenso wie der Musik und der Religion. Das Kapitel über die Religion aber lässt diese vermissen; es steht einerseits unter der blendenden Sonne von Habermas‘ nachmetaphysischem Denken, andererseits behandelt Görner an dieser Stelle die englischen Romantiker und ihre Kunstkritik. Danach kommt er zwar zu Heinrich Heines Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland und damit auf den „pantheistischen Instinkt“, den die Deutschen nach Heine selbst nicht begreifen. Aber auch für Görner enden die romantischen Resakralisierungen in der Kunst: Er verbindet die britischen lake poets Wordsworth und Coleridge mit Anette Droste-Hülshoff in der produktiven Imagination einer Kunstreligion. Das ist kein Wunder, denn die Theologie der Romantik wäre der Zweifel und die Angst vor dem Schrecken im Fortschritt selbst. Sie müsste sich zwischen Sören Kierkegaard, Karl-Joris Husmanns und Friedrich Nietzsche aufspannen lassen. Für die letzten beiden aber ist die Romantik, wie für das Bürgertum am Ende des 19. Jahrhundert insgesamt, freilich bereits historisch geworden und wird so zur rhetorischen Spielmarke.

Polyphones Erzählen und (k)ein Ende
Kenntnisreich spricht Görner die wichtigsten säkularen Motive, die wichtigsten AutorInnen und die interessantesten Werke wie in einem Pluriversum an („pluralektisch, nicht dialektisch“) und wirbelt sie in seiner Darstellung immer neu und immer interessant durcheinander. Aber auch Görner kann kein organisches Ende finden. Bei ihm geht die grüne Reise so unendlich weiter wie das berühmte „unendliche Gespräch“ der Romantiker.

Das abschließende Kapitel will offiziell der rhetorisch-hermeneutischen Frage, wie die historischen Texte für uns heute zu verstehen seien, folgen. Das wird für Görner zur Gretchenfrage: typisch für seinen ausufernden Stil liefert er nicht eine Antwort, sondern derer vier: zunächst thematisiert er das hermeneutische Verstehen selbst, indem er auf Schleiermacher und auf Schlegels Überlegungen zur Unverständlichkeit seiner Fragmente im Athenäum und im Lucinde-Roman zurückkommt. Das zweite Ende bildet ein Rekurs auf Mary Shelleys Frankenstein-Roman als Zerrbild der romantischen Wissenschaft und Umkehrung des Narziss-Mythos im Monstrum, das vor seinem eigenen Bild erschrickt. Das dritte Finale dann widmet sich der Einsamkeit von Caspar David Friedrichs Gemälde vom Mönch am Meer, um schließlich mit einer Aprèslude à la Bruckner die ganze Sache faktisch für beendet zu erklären: „…und der Februar tritt über die Ufer“, heißt es bei André Heller.

Mit anderen Worten, Görner drückt sich um einen Schluss, dieser ist in diesem Universum schlicht nicht vorgesehen. Am Ende ist das Buch doch einfach zu Ende. Das proteische Verwehen, das permanent die Gestalt wechseln will, und den ewigen Wandel preist, besitzt so zugleich etwas von seinem Gegenteil, nämlich dem 16.- Tonnengewicht, mit dem die neoromantischen Komiker und Witzstrategen von Monty Python’s Flying Circus ihre Sketsche einfach abbrechen. Die Antwort auf die Fragen nach der Gegenwärtigkeit hatte Görner damit, erkennt der Rezensent, bereits mit seiner Schreibweise vom ersten Satz an als Binnenverschränkung selbst beantwortet: Wir leben immer noch in dieser romantischen Epoche der Moderne; ja sie hat noch nicht einmal wirklich begonnen. Und die vom Kritiker geforderte Distanzierung und Differenzierung seines Gegenstands leistet Görner weniger in einer eigenen Überlegung zu Methodik (die, nebenbei, an Hölderlins Überlegungen zur Zäsur bei Sophokles König Ödipus anknüpfen könnte) als vielmehr ebenfalls bereits implizit.

Tand, Tand, Ist das Gebilde von Menschenhand
Das 19. Jahrhundert ist ein verspiegeltes. Exemplarisch schaut das Individuum wie Sören Kierkegaard aus seiner Stube durch den Spion-Spiegel auf die Straße und beschreibt, was es sieht, als ganze Welt. Es ist sein eigenes Interieur, das sich in dieser Deutung vervielfältigt. In Görners Buch ist der meistgenannte Autor E. T. A Hoffmann, der Meister dieses Spiegelkabinetts um sich selbst. Als dessen Wiedergänger oder der einer seiner Romanfiguren könnte man auch Görner bezeichnen, wenn man sich vorstellt, dass der Autor schließlich in sein eigenes Buch so verweht eingeht, wie der chinesische Maler in sein eigenes Bild. Am Ende aber wird auch klar: Görner hat nicht nur seine Leser mitgenommen auf einer Kreuzfahrt durch die Tiefen und Untiefen des romantischen Stromes, sondern er hat sie zugleich auch das Schwimmen in den Begriffen des romantischen Mediums des 19. Jahrhunderts gelehrt. Diese Kunst hilft immer noch, auch wenn heute die großen Schiffe der Hermeneutik ebenso zerbrochen sind wie die Träume der Reiseindustrie angesichts der Klimakrise. Im Land der Romantik heißt dieses Schwimmenlernen nach Görner: Lesenlernen. Was den Strom antreibt, erfahren die Leser in diesem Buche nicht. Womöglich gilt hier auch Karl Marx umgekehrtes Wort aus der Deutschen Ideologie, wonach das Lesen von der Wassergefahr noch lange nicht bedeute, tatsächlich auch schwimmen zu können. Allein aber die Anleitung dazu geliefert zu haben, ist verdienstvoll. Am Ende, und das ist die eigentliche Botschaft der Romantik, müssen sich die Leser ohnehin sowohl über die Romantik und Europa als auch über alles andere ihre eigenen Gedanken machen und selbst zu schreiben beginnen.

[1] Luiz Costa Lima, Die Kontrolle des Imaginären: Vernunft und Imagination in der Moderne, Frankfurt am Main 1990

Artikel online seit 28.12.21
 

Rüdiger Görner
Romantik
Ein europäisches Ereignis
Reclam
384 Seiten, 15 Farbabb.
26,00 €
978-3-15-011325-7

Leseprobe

 

 


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