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Die verrückte Gesellschaft und ihre Kritiker

»Mitmachen wollte ich nie.« (Leo Löwenthal)
Zu den Aufsätzen mit Briefen von Herbert Marcuse und Leo Löwenthal

Von Peter Kern
 

Briefwechsel gelten in der Buchbranche als Umsatzbringer, Biografisches läuft ebenfalls gut. Leo Löwenthal hat gegen die erste biografische Welle eine Art Wellenbrecher gesetzt. Wer seinen frühen Aufsatz über Die biographische Mode liest, genießt lebenslangen Immunschutz. Muss sich der zu Klampen Verlag den Vorwurf gefallen lassen, er wolle an der Mode partizipieren und liefere statt Theorie die kleine Münze? Diesen Vorwurf muss sich der Verlag wahrlich nicht machen lassen. Peter Erwin Jansen hat hier Herbert Marcuses nachgelassene Schriften herausgegeben, und was er in dem vorliegenden Buch über die intellektuelle Biografie der beiden schreibt, hat mit den heute gängigen Dönekes und Diskursen nichts zu tun.

Identität ist also nicht im Angebot. Als die Studentenbewegung perdu war und Marcuse im Frankfurter Institut für Sozialforschung einen Vortrag hielt, lud der ASTA zu einem Treffen im informellen Kreis ein. Man klagte sein Leid; man sei mit sich nicht mehr identisch, nun, nachdem die Revolte den Bach runtergegangen war. Marcuse konnte gar nicht begreifen, um was es geht. „Mit sich identisch ist man doch erst auf dem Sterbebett“, so sein von Hegel entliehener Kommentar. Auch die Erklärung fürs Scheitern ließ er nicht gelten: „Die Neue Linke ist nicht gescheitert, gescheitert sind ihre aus der Politik geflohenen Anhänger.“ Das Fliehen war damals epidemisch geworden.

Marcuses Eros and Civilization war, laut Daniel Cohn-Bendit, das am meisten gelesene Buch der vom Pariser Mai erfassten Studenten gewesen, der One Dimensional Man das bundesdeutsche Pendant. Der Autor war nicht bloß das Idol, er war der Theoretiker der Revolte. Seine analytischen Sätze klärten auf und feuerten an. Sein politischer Eros galt einer Gesellschaft, „die die verfügbaren technischen, materiellen und intellektuellen Ressourcen nicht verschwendet für Umweltzerstörung und unnötigen Konsum, sondern einsetzt für die Abschaffung von Armut, Entfremdung und Elend überall auf der Welt. Und weil diese Gesellschaft über Ressourcen verfügt, die größer denn je sind, und gleichzeitig mehr denn je Missbrauch und Verschwendung dieser Ressourcen begeht, nenne ich diese Gesellschaft verrückt – nicht aber die Menschen in ihr.“

Das Zitat entstammt einer Diskussion mit dem Kennedy-Berater Arthur M. Schlesinger und dem Schriftsteller Norman Mailer. Das Dokument, auf dem Höhepunkt des Vietnam-Kriegs entstanden und hier erstmals auf Deutsch publiziert, ist ein wirkliches Fundstück. Ein Schlagabtausch auf hohem Niveau, und der deutsche Professor geht als Sieger hervor. „Marcuse knocked us out“, so Mailer (der vom Boxen ja etwas verstand), gegenüber dem Autor.

Auch in Leo Löwenthal fand die Neue Linke einen Nestor, wenn auch etwas später. Wer Germanistik oder Literaturwissenschaft studierte, konnte von ihm das Jenseits der reinen Textimmanenz kennenlernen. Literarische Werke lassen sich mit den Mitteln der Gesellschaftsanalyse lesen? Das war neu. Der Literaturwissenschaft galt als gewiss: Werther geht an unerfüllter Liebe zu Grunde. Sein Leiden machte Löwenthal auch als das eines gesellschaftlich Deklassierten kenntlich. Er war ein literatursoziologischer Pionier und ein politischer Kopf dazu.

Sein Buch über rechtsradikale Agitationsmuster (Falsche Propheten auf Deutsch, gemeinsam mit Norbert Guterman geschrieben) gehört zum Besten, was es über die Stereotypen der Gattung Hasspredigt gibt. Jede Höcke- oder Weidel-Rede bestätigen die dortigen Befunde. Eine psychoanalytisch schürfende Hermeneutik hat sie hervorgefördert. Löwenthals Buch war eine der vier vom American Jewish Comittee finanzierten Studien des Instituts für Sozialforschung über das Vorurteil. Der Zweck dieser Studien war ein strikt politischer, waren sie doch veranlasst von dem unter den amerikanischen Arbeitern verbreiteten Antisemitismus. Die Frage war zu beantworten: Was ist zu tun, will man der Hetzpropaganda gegenarbeiten? Die deutschen Autoren machten dem jüdischen Komitee handfeste Vorschläge. So sollte ein Comic entstehen, eine leider unrealisiert gebliebene Idee.

Jansen ist es um den historischen Zusammenhang zu tun, in dem die Aufsätze, die Briefe und die Argumente stehen. Schlesinger attackiert Marcuse in obiger Diskussion als einen Illiberalen, dessen Repressive Toleranz unvereinbar sei mit der amerikanischen Gründungsurkunde, der Bill of Rights. Marcuse aber argumentiert vor dem Hintergrund der Weimarer Republik. Wenn diese „Hitler und seine Gruppierungen nicht so lange toleriert hätte, bis sie zu stark wurden, um sie zu verbieten, wäre uns der Zweite Weltkrieg und die Vernichtung von sechs Millionen Juden erspart geblieben.“

Der Autor zeigt uns die beiden als intellektuelle Väter der Neuen Linken und mehr noch als Antifaschisten. Man traut sich das Wort kaum mehr hinzuschreiben, ist damit doch das Zerrbild einer auf Aggression gepolten Widerständigkeit assoziiert, die in der zackigen Abkürzung Antifa ihren Ausdruck findet. Beide arbeiteten in den 40er Jahren in einer Forschergemeinschaft exilierter Sozialwissenschaftler. Als Angestellte der US-Regierung untersuchten sie die NS-Propaganda und machten der Regierung Vorschläge, wie diese Propaganda zu unterlaufen sei. Die sogenannten Feindanalysen hatten die deutsche Mentalität zum Gegenstand. Worauf beruhte die Zustimmung der Bevölkerung zu der Nazi-Partei? Es war ein nüchterner Opportunismus, orientiert am materiellen Eigeninteresse, so das Ergebnis.

Der Begriff der irrationalen Rationalität entsteht. Ein an Zweckrationalität gestähltes Handeln verlangt das Lösen von Fahrscheinen für die nach Auschwitz und die Gaskammer fahrenden Züge. Löwenthals Text Individuum und Terror ist in diesem Zusammenhang entstanden. Der Autor ist konfrontiert mit den Details der Vernichtungsmaschinerie, die die Individuen mit Nummern kennzeichnet. Wer keine Nummer hat, gilt als gleich der Vernichtung zuzuführende Ausschuss-Ware. Im bloß zweckrationalen Handeln danken moralische Kategorien zugunsten technologischer Wunderdinge ab. Das Nachleben des Nazismus war in den 50er und 60er Jahren nirgendwo greifbarer als in der Fetischisierung technischer Dinge. Im Jubel über die Siege der Silberpfeile und das überlegene Schuhwerk der Berner Fritz-Walter-Elf hallte der alte Jubel nach.

Wovon handeln die von Peter Erwin Jansen so sorgfältig kommentierten Briefe? Die Einwanderung der Eltern macht „furchtbare trouble“. Das nach den USA transferierte Institut für Sozialforschung wackelt an allen Ecken und Enden und die Jobsuche zehrt. Wer sich zehn Jahre durchschlagen muss, den wandelt Verzweiflung an, und der Freund muss ihn aufzurichten versuchen. Dann will kein amerikanischer Verlag das Manuskript nehmen, das einmal ein Bestseller wird. Dem One Dimensional Man war kein Erfolg an der Wiege gesungen. Löwenthal redigiert Marcuse, der schreibt für dessen Buch ein Vorwort. Ehen gehen in die Brüche, Freunde sterben, Ehefrauen auch; das Leben halt. Bis in die späten 40er Jahre sind die Freunde beim Sie geblieben. Dann sind sie mal das Leochen füreinander oder der liebe Herb. Wer die Kritische Theorie in ihrer zoologischen Ausprägung studiert, wird eine neue Gattung kennenlernen: „Lieber Marcuse, Warzenschwein…“

Die Freundschaft ist die Tugend der Heimatlosen, kommentiert Jansen einfühlsam. Die beiden brauchen ihre Freundschaft, um dem Konformitätsdruck zu widerstehen. „Wo die Gesellschaft zweifelhaft geworden, tauchte gleichzeitig mit dem Wunschbild Einsamkeit das der Freundschaft auf: nicht als Flucht, sondern als Ersatz der Gesellschaft, als ihre bessere Gartenform,“ heißt es beim das Exil teilenden Ernst Bloch. (in: Das Prinzip Hoffnung). Jokes müssen herhalten, um sich gegenseitig aufzurichten. Marcuse schreibt über die unzählbare Menge herrlicher Girls, die auf dem Campus der Columbia-Universität rumlaufen. „Das wäre was für Sie. Sie würden wahnsinnig werden.“ Mit dem Neustart des der New Yorker Uni angegliederten Instituts war viel utopische Hoffnung verbunden, wovon wenig konkret wurde.

Neben den Briefen sind es unveröffentlichte Primärtexte, die der Autor vorstellt. Er hat das Löwenthal-Archiv und private Kellerräume in Berkeley durchforstet und dort wahre Schätze gehoben, die er in diesem Buch präsentiert. Ein Radiobeitrag von Löwenthal mit dem Titel Der Schriftsteller als Rechtsanwalt stellt Emile Zola neben Voltaire. Für Jansens kommentierenden Text gilt: Philologie ist seine Sache nicht. Er macht die Kritische Theorie fruchtbar, statt sie zu historisieren. Er referiert sie nicht einfach, er wendet sie an. So ist die Modellierung menschlicher Bedürfnisse durch die von Facebook et altera organisierten peer groups sein Thema, eine Art buttom up -Manipulation, die das top down-Verfahren ergänzt. Die intrinsische Selbstmanipulation kommt zur extrinsischen Fremdmanipulation. Wem die Frankfurter Schule mehr ist als ein Ort, der dem aus der Politik Geflüchteten ein Refugium bietet, der hat an solchen Texten seine Freude.

Jansen arbeitet an der Rekonstruktion der Kritischen Theorie. Die Ideengeschichte, in die er die beiden einordnet, bietet wenig Neues. Bei ihm kommt aber zum Vorschein, was die akademische Version abgestumpft hat: Das geschliffene Werkzeug, das die Kritische Theorie ist, wenn man es anwendet. Man muss es im Gebrauch halten, damit es seine Qualität nicht verliert. Die Suche nach dem emanzipatorischen Subjekt kann weitergehen; es zu finden, ist nicht so aussichtslos wie ein Defätismus glauben lassen will. Es gibt die Sehnsucht nach einer richtigen Gesellschaft, auch wenn die Sucht nach identitären Gemeinschaften dieser Sehnsucht Hohn zu sprechen scheint.

1968 schien diese Sehnsucht vor ihrem Durchbruch zu stehen – so sieht es für den verklärenden Blick im Nachhinein aus. Marcuses Blick war durch den gelebten Augenblick nicht getrübt. Im August wird er in Berlin wie ein Messias empfangen, schreibt er. Ihn erfasst aber kein Größenwahn, sondern das Gefühl von “totale(m) Wahnsinn: Reporter und Photographen folgen mir…ein schlechter Witz des Weltgeistes“ Im selben Jahr bekommt der vermeintliche Guru Morddrohungen. Sein Freund versteckt Herbert und Inge Marcuse in seinem Ferienhaus nahe San Francisco. Der Ku Klux Klan trachtet nach dem Leben. Und noch ein übler Einfall des Weltgeistes: Der in Norwegen vor zehn Jahren ein Massaker verübende Irre (dessen Name die dortige Presse nie nennt), sieht in den „Kulturmarxisten“ Adorno und Marcuse die Verfechter einer die europäische Identität untergrabenden sexuellen Revolution.

In 68ff stand der Begriff der Utopie für reale, aber blockierte Möglichkeiten einer freien Gesellschaft. Heute ist es ein Bonbon-Begriff, der alles und nichts bedeutet. Die utopische Idee ist von einer Marke wie Tesla gekapert, die so dringliche „Kritik der Verhältnisse“ hat bei Friday for Future Unterschlupf gefunden. Könnte beides nicht zusammenkommen? Es wäre eine dialektische Aufhebung. Die Kritik würde an asketischer Zumutung verlieren, was sie an Attraktivität gewinnt. Und die Utopie käme nicht technokratisch-borniert daher, würde auf Konkretion aber nicht verzichten. Braucht es nicht die fortgeschrittensten Produktivkräfte, um die in den Seilen hängende Welt vor dem Kollaps zu retten?

Die vom Herausgeber ausgewählten Briefe bestätigen das aus alten Interviews abgezogene Bild, das man sich von Marcuse und Löwenthal machen konnte. Hedonistische Linke ist ja eine etwas zweifelhafte Etikettierung, und bei von Hitler Geflohenen erscheint sie kaum angemessen. Aber das Label passt und gerade für den einen, der Zur Kritik des Hedonismus geschrieben hat. Der andere, dem ein Interviewer (Helmut Dubiel), sein schönes Haus, sein gutes Essen, seine guten Weine, seine „individuell behaglichen Umstände“ vorhielt, äußert sich so: „Es tut mir in der Seele weh, dich auch in der Gesellschaft derer zu sehen, die das sagen: wie könnt ihr mit eurem Radikalismus euch ein gutes Leben gönnen, das Leben so genießen…Da sind wir immer anderer Meinung gewesen: Luxus ist etwas Gutes…Genießen macht gar nicht gemein. Genießen macht differenzierter, wenn man nicht gerade Opfer eines ungezügelten Hedonismus wird… So sollten die Menschen doch leben!...Ich würde direkt sagen, der Luxus ist die Vorwegnahme der Utopie.“

Im vorliegenden Briefwechsel kommt natürlich auch mal die privat interest story vor, das liegt in der Natur der Sache. Die ‚Dreiecksbeziehung‘ mit Adorno, dem Teddie, der zum Grizzly mutieren konnte und beileibe nicht bloß wegen psychologisch zu deutender Dinge wie Eifersucht, findet ihren Niederschlag. Es waren handfeste Kräche in der Sache, aber wen interessiert die Sache, wenn er den Blick durchs Schlüsselloch haben kann. Jansen interessiert sie.

Im Buch findet sich die folgende Stelle; Marcuse hat sein letztes Werk geschrieben und Löwenthal, der es redigiert, schreibt an ihn: „…Ich hoffe, daß vor allem sein dritter Teil zunächst die Leidenschaften unserer fehlgeleiteten radikalen Jugend wütend macht und sie dann reinigt.“ Es geht um das Schlusskapitel von Konterrevolution und Revolte. Die realen Verhältnisse haben sich Mitte der 70er Jahre als so hartleibig erwiesen, das emanzipatorische Subjekt als so gut versteckt, dass etwas Neues verlangt ist: Es sei entscheidend, heißt es bei Marcuse an die Adresse der radikalen Generation gerichtet, dass sie „weder ‚aussteigt‘ noch sich anpaßt, sondern lernt, sich nach einer Niederlage zu reorganisieren…und mit der neuen Sinnlichkeit eine neue Rationalität zu entwickeln…“ Was soll man dem hinzufügen?

Artikel online seit 08.11.21
 

Peter Erwin Jansen
Über Herbert den Greisen und Leo den Weisen
Aufsätze mit Briefen von Herbert Marcuse und Leo Löwenthal
zu Klampen Verlag
284 Seiten
28,00 Euro
9783866747906

 

 


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