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Chinas eindimensionale Gesellschaft

Wolfgang Müllers freundlicher Blick auf die Weltmacht China
wirft viele Fragen auf.

Von Peter Kern
 

Die Kommunistische Partei China feiert ihr hundertjähriges Bestehen, Mao Tse-tung hat vor bald 50 Jahren den damaligen US-Präsidenten Nixon empfangen. Der soll ihn gefragt haben: Was halten Sie von der Französischen Revolution. Maos überlieferte Antwort: Es sei für ein historisches Urteil noch zu früh. Chinas KP denkt in großen historischen Zusammenhängen, schrieben beeindruckte Kommentatoren. Das Land gab Rätsel auf; eines davon betraf die Frage, ob sich der Typus einer asiatischen Demokratie herausbildet, die das Beiwort sozialistisch wirklich verdient. An der Lösung dieses Rätsels war eine sich neu nennende Linke brennend interessiert. Die Neue Linke hat sich dann rasch transformiert. Sie hat sich konträr zur ersten Natur entwickelt. Dort wird aus einer Larve ein Schmetterling; hier verpuppte sich der Schmetterling wieder zur undifferenzierten Larve.

Die asiatische sozialistische Demokratie sollte das Versprechen der bürgerlichen einlösen; das war einmal die Hoffnung. Was die KP in China von den mit der Französischen Revolution freigesetzten Bürgerrechten hält, weiß man mittlerweile. Die Freiheit des Einzelnen, sein Recht zu koalieren, seinen Interessen einen organisierten Ausdruck zu verleihen, in einer kritischen Öffentlichkeit frei zu sprechen und sich von einer unabhängigen Justiz geschützt zu wissen, diese Freiheitsrechte gelten der KP als bürgerlich und verzichtbar. Der Autor des zu besprechenden Buchs nimmt daran keinen Anstoß. Der Kategorie Freiheit hält er die Kategorie Gleichheit entgegen. Aber auch bei der Gleichheit wird er in der Klassengesellschaft China nicht recht fündig. Nirgendwo ist der Zuwachs an Milliardären so groß wie dort. (Porsche verkauft in keiner Stadt so viele Panamera wie in Peking).

Die Geschichte der KPCh ist in ihren Anfängen wahrlich heroisch. Über den japanischen Imperialismus zu obsiegen, den Agrarfeudalismus wegzufegen, sich von der Kuomintang im Bürgerkrieg nicht massakrieren zu lassen, mit dem Zaren in der Sowjetunion nicht anzuecken, dazu brauchte es Maos Bauernschläue. Josef Stalin war ja keineswegs begeistert von der chinesischen Revolution; dem ‚Sozialismus in einem Landkam absoluter Vorrang zu.  

Der Autor des Buchs nimmt Partei für die chinesische Revolution und hebt ihre Erfolge zurecht hervor. Die Elendsjahre der 70er Jahre liegen weit zurück. Nach der von Mao angezettelten Kulturrevolution lebten 600 Mio. Chinesen an der Armutsgrenze. Es gibt keinen Analphabetismus mehr; die Lebenserwartung der Chinesen hat sich seit der Staatsgründung verdoppelt; Strom, Gas und sauberes Wasser für Küche und Bad, Kühlschrank und Fernsehgerät stehen noch den Bewohnern des letzten chinesischen Kaffs zur Verfügung. (Im Unterschied zur Lage in Indien). Wenn seine Claque immer wieder hervorhebt, es sei der Kapitalismus, der die Verelendung beseitige, dann rechnet sie in ihre Statistiken die Erfolge Chinas mit ein.

Hat die Apologie nicht recht? Vom Kapitalismus ausgebeutet zu werden, ist schlimm, von ihm nicht ausgebeutet zu werden, ist schlimmer, Deng Xiaoping hat’s einmal gesagt. Das Rätsel China, das dem Buch den Titel gibt, scheint dem Autor in diesem Punkt gelöst. Der chinesische Staat, identisch mit der Partei, hat die Ökonomie weiterhin in der Hand, auch wenn nur noch 40 Prozent der Produktionsmittel verstaatlicht sind. Der Privatwirtschaft diktiert die Partei die Regeln. Das Politbüro sagt zum Beispiel dem Herrn Diess vom VW-Konzern, wo er seine nächste Fabrik zu platzieren hat. Eine Fabrik liegt jetzt unglücklicherweise in der Region der Uiguren.

Der Autor sympathisiert mit der Haltung eines von ihm zitierten Apologeten. Die Freiheit des Individuums habe zurückzutreten vor dem Recht auf sauberes Wasser und elektrischen Strom. Nur die 600 Millionen First-Class-Konsumenten in Nordamerika und Europa würden dies nicht verstehen, der Rest der Welt verstünde dies sehr wohl. Die Bürgerrechte sind demnach ein eurozentristisches Vorurteil. Universalistische Geltung? Von wegen! „Im westlichen Denken ist es unvorstellbar, dass andere Länder und Kulturkreise nicht so ticken und so werden wollen wie wir.“

Schon im Vorwort verpasst Wolfgang Müller den Verteidigern der Grundrechte eine Ohrfeige. Er wettert gegen den „oberflächlichen Menschenrechtsdiskurs über China, der geprägt ist von einer weitgehenden Unkenntnis über das gesellschaftliche Leben und von der Vorstellung einer totalen Überwachung und Kontrolle im Land. Dieser Menschenrechtsdiskurs geht eine gefährliche Verbindung mit der Angst vor dem wirtschaftlichen und politischen Erstarken der Volksrepublik ein. Das Ergebnis ist ein eindimensionales Bild, in dem ganz China mit der KP gleichgesetzt wird.“

Ja, die Oberfläche und das Wesen. Um das Wesen einer Gesellschaft zu begreifen, sollte man sich das Innere ihrer Gefängnisse anschauen, dort ist Wesensschau zu haben, lautet eine alte, linke Erkenntnis. Im Guardian vom 12.01.21 berichtete Gulbahar Haitiwaji über ihre Erfahrung in einem chinesischen Umerziehungslager für Uiguren, in das man sie 2016 steckte: "Wir mussten leugnen, wer wir waren. Wir sollten auf unsere Traditionen, unsere Überzeugungen spucken, unsere Sprache, unsere eigenen Leute. Nach dem Lager sind wir nicht mehr wir selbst, sondern Schatten, unsere Seelen sind tot. Ich wurde gezwungen zu glauben, dass meine Lieben, mein Mann und meine Tochter Terroristen waren. Ich war so weit weg, so allein, so erschöpft und entfremdet, dass ich es fast geglaubt hätte. Mein Mann Kerim, meine Töchter Gulhumar und Gulnigar - ich habe Ihre 'Verbrechen' angeprangert. Ich bat die Kommunistische Partei um Vergebung für Gräueltaten, die weder sie noch ich begangen haben.“

Da ist er wieder, der Gulag. Die ZEIT vom 10.12.20 zitiert ein australisches Institut, das eine Karte vorgelegt hat, darauf verzeichnet 380 Lager und Gefängnisse, die in den vergangenen Jahren neu gebaut wurden. Wer in diesem Winkel der Weltgeschichte spazieren geht, kommt kilometerweit an Gefängnismauern entlang. Gleich zehn Gefängnisse stehen nebeneinander, und der Bedarf ist noch nicht gedeckt. Direkt neben einem großen Komplex ziehen Kräne die Wachtürme für ein neues Gefängnis hoch.

Dass die alte Linke jeden Kredit verlor, den sie sich im Widerstand gegen die Nazis erworben hatte, hing an den Moskauer Prozessen und an den stalinistischen Lagern. Sollte es jemals wieder eine Neue Linke geben, wird der Abscheu gegen den chinesischen Gulag Teil ihres Gründungsaktes sein. Die Assoziation freier Produzenten, von der Marx sprach, in den Zwangsarbeitslagern ist diese Utopie zur Unkenntlichkeit verzerrt.

Für den Autor sind dies Subtilitäten. Was für ihn zählt sind die Bruttoregister an Erfolgen. Alle listet er auf. Wo die CEO’s der Westkonzerne das Fracksausen bekommen, schwillt seine Brust. Überall ist die KP mit ihrem Modell auf dem Weg zur Weltspitze, in der Telekommunikation, im Maschinenbau, beim nächsten Quantensprung des Cloud Computing, bei der Künstlichen Intelligenz, beim elektrifizierten Auto sowieso. Sozialismus ist Elektrifizierung plus Sowjetmacht, so Lenin am Anfang der UdSSR-Industrialisierung. Kommunismus ist elektrisches Fahren plus Parteimacht, echot der Autor.

Was stutzig macht, ist folgendes: Der Autor hat einmal als politischer Sekretär einer deutschen Gewerkschaft sein Geld verdient. Das Recht auf Koalition, auf freien gewerkschaftlichen Zusammenschluss, müsste Teil seines Berufsethos sein. Die Partei tritt dieses Recht ja mit Füßen. Wer einmal ein in China agierendes deutsches Unternehmen besuchen konnte, hat den Katzentisch gesehen, an dem der Vertreter des Allchinesischen Gewerkschaftsbundes Platz nehmen durfte. Der Platzhirsch vor Ort war der Bürgermeister, in eins Vorsitzender der regionalen Parteigliederung und Chef der Polizei. Bei ihm war von Seiten der deutschen Vorstände zu antichambrieren, von ihm bekamen sie alles: Das billige Bauland, die billigen Wanderarbeiter, die Buslinie zur Fabrik. Die an den Bändern montierenden Arbeiterinnen und Arbeiter hätten eine Gewerkschaft gut gebrauchen können, allein schon um die Bandgeschwindigkeit nach unten zu regulieren.

Das Recht zu koalieren, ist Teil der Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen. Deren Unterorganisation, die International Labour Organisation (ILO), hält dieses Recht in den sog. Kernarbeitsnormen fest. Diese Norm hat die Volksrepublik nicht unterzeichnet und sie denkt auch nicht daran, dies künftig zu tun. Diese Norm sei „systemsprengend“; das Wort musste sich Reinhard Bütikofer anhören, als er, der Abgeordnete des Europaparlaments, mit den chinesischen Funktionären über das geplante europäisch-chinesische Investitionsabkommens sprach. Herr Bütikofer, der grüne Vorsitzende der Delegation für die Beziehungen zur Volksrepublik China, wird diese Gespräche nicht fortsetzen können. Die Herren in Peking verweigern ihm die Einreise, nachdem das Europaparlament vier für die Unterdrückung der Uiguren verantwortliche Provinzkader auf eine Boykottliste gesetzt hat.

Das Organisationsmonopol lässt sich die KP nicht nehmen, und der ehemalige Gewerkschafter nickt dazu. Überhaupt nickt er zu vielem, und wo er ein wenig Kritik durchscheinen lässt, nimmt er diese gleich wieder zurück. Im Englischen gibt es den schönen Ausdruck Whataboutism. Wenn einer feststellt, das Vorgehen der Pekinger Regierung im südchinesischen Meer sei nicht gerade gentlemen like, kommt gleich der Hinweis auf die Kolonialisten der USA. Haben die USA einmal im südchinesischen Meer als Kolonialmacht agiert? Egal, der Schurke muss an den Pranger.

Des Autors Whataboutism ist eine einzige Weißwäsche. Die digitale Überwachung kombiniert mit den Algorithmen für die Gesichtserkennung? Kaum mehr als eine bessere Schufa! Sie diene einem eigentlich vernünftigem Sozialkreditsystem. Wer seine Rechnungen nicht bezahlt hat, Drogen konsumiert und ständig bei Rot über die Ampel geht, verliert sein Recht auf einen Kredit oder auf ein Bahnticket. Beim „System für gesellschaftliche Vertrauenswürdigkeit“ ginge es darum, Produktfälschung, Internetbetrug, Umweltkriminalität und die Nichtbezahlung von Wanderarbeitern zu verhindern. Außerdem treffe es auf hohe Zustimmung.  

Der Algorithmus findet projektweise in Schulen Anwendung; das belustigt den Autor eher. Der Unlust, der Langeweile, der verdrückten Wut kommt der Direktor bei seinen Schülern auf die Schliche. Straftaten ließen sich so verhindern. (Man denkt an den jungen Törleß von Musil; der könnte sich in einer solchen Schule also sicher fühlen). Techno-Diktatur, hochmoderner Überwachungsstaat, das seien bloß Schablonen, meint der Autor. Auf zwei Chinesen kommt im Reich der Mitte eine Überwachungskamera. Ist die Assoziation mit der brave new world erst statthaft, wenn es 1,4 Milliarden Kameras gibt, statt 700 Millionen? ‚Scharfes Auge‘ heißt übrigens das Überwachungssystem. Der US-Konzern Cisco hat die zugehörige Software verkauft.

Mit dem Verweis auf den US-Konzern und aufs Silicon Valley, wo Gesichtserkennung längst ein alter Hut sei, entledigt sich Wolfgang Müller eines Grauens, das ihn gar nicht beschleicht. Und so hält er sich jede Kritik vom Leib. Als wäre zum Beispiel das chronisch unterentwickelte Recht eine Kleinigkeit. Big Data kompensiere den Mangel und auch den bei der Polizei (Nur 1,4 Polizisten auf 1000 Chinesen). Mit Big Data lässt sich demnach die zivilisatorische Stufe des kodifizierten Rechts überspringen. Wen der Algorithmus überführt, der wird gleich verknackt.

In dem Buch, das vorgibt, den Rätseln Chinas auf die Spur zu kommen, wird etwas talmudistisch darüber nachgedacht, was den Gegenstand kennzeichne: Staatskapitalismus, sozialistische Marktwirtschaft, konfuzianischer Erziehungsstaat, Sozialismus chinesischer Prägung. In der dreieinhalbstündigen Rede Xi Jinping auf dem letzten Parteitag kam das Wort Sozialismus über siebzigmal vor; der Autor hat mitgezählt. Vielleicht verhält es sich ganz anders, und Herbert Marcuse mit seiner Eindimensionalen Gesellschaft hält die weiterführende Kategorie bereit. Als die von den Studenten angeführten Proteste der Hongkonger Bevölkerung gegen das ihnen aufgedrückte sogenannte Sicherheitsgesetz auf dem Höhepunkt waren, fragten westliche Journalisten im gegenüberliegenden Shenzhen junge Leute nach ihrer Meinung. Eine Chinesin: „Früher fand ich, die Hongkonger seien sehr modisch gekleidet…Aber jetzt kommen sie mir altmodisch vor und die Architektur ihrer Häuser auch.“ Ihr Freund: „Das wichtigste Ziel ist doch ein besseres Leben. Freiheit ist nur ein Mittel, kein Zweck an sich.“ (FAZ, 5.7.19).

Die eingangs wiedergegebene Anekdote wird in einer zweiten Version erzählt: Die Dolmetschung hat nicht funktioniert. Nixons Frage bezog Mao auf den Mai 68, nicht auf die Französische Revolution. Dass etliche Akteure der Pariser Revolte ihn in dem Suchen nach Anlehnung später verehrten, hat er wohl huldvoll zur Kenntnis genommen.

Artikel online seit 09.05.21
 

Wolfgang Müller
Die Rätsel Chinas

Wiederaufstieg einer Weltmacht
Digitale Diktatur, Staatskapitalismus oder sozialistische Marktwirtschaft
VSA-Verlag Hamburg
157 Seiten
14,80
978-3-96488-053-6

 

 


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