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Ultimo - oder der triumphale Abgang

Wieviel Wahrheit erträgt, wieviel Wahrheit wagt ein Geist? (Nietzsche)

Günther Rühles merkwürdige Phantasmagorie
»Ein alter Mann wird älter«

Von Wolfram Schütte
 

Wenn ihn nicht die schnell voranschreitende Erblindung daran gehindert hätte, läge wohl längst der dritte, abschließende Band seiner monumentalen deutschen Theatergeschichte von 1887 bis 1995 mit mehr als 3000 Seiten bei S. Fischer vor. So aber wird das einzigartige Werk Fragment bleiben – wie die „Römische Geschichte“ des großen Historikers Mommsen, mit der er seine kulturhistorische Recherche, sich selbst tröstend, vergleicht.

Dafür ist nun überraschend in dem kleinen Berliner Alexander-Verlag „Ein merkwürdiges Tagebuch“ von dem 97jährigen Günther Rühle erschienen, das er vom Oktober 2020 bis zum April 2021 mit seinem „lebenslangen Zwei-Finger-System“ in den Computer eingegeben hatte. In den „gut 70 Jahren“ seiner journalistischen & literaturhistorischen Arbeit habe er auf diese Art „zigtausend Sätze von mindestens 900 km Länge“ getippt, memoriert der einstige Theaterkritiker der FAZ, deren Ressortleiter er auch gewesen ist, bevor er in Frankfurt am Main Intendant des Schauspielhauses wurde, das in seiner Ägide für zwei „Skandale“ sorgte: durch den öffentlichen Streit um R.W. Fassbinders „Die Stadt, der Müll und der Tod“ & das Chorische Theater Einar Schleefs, das als theatralisches Unikum heftig umstritten war.

Aber der nun Erblindende, der seit dem Tod seiner Ehefrau 2008, allein in seinem geräumigen Haus einer Kleinstadt des Vordertaunus lebt (alltäglich versorgt von den zwei aushäusigen Helfern, der jüdischen Cora & dem rumänischen Dumitru), ist sich zunehmend sicher, dass er die Buchstaben mit seinen Fingern nicht mehr trifft & mittlerweile eher zum „Hersteller von Wortsalat“ geworden ist. Mögen andere den gemeinten Text daraus fingern – was dann auch der Lektor Gerhard Ahrens getan hat. Als Herausgeber hat Ahrens aufs vorbildlichste den Text annotiert & das Buch mit einem Nachwort versehen, das auch unkundigen Lesern auf die Sprünge hülfe, um wahrzunehmen, mit wem sie es bei Rühle zu tun haben.

Der 1924 in Gießen geborene, in Weilburg a.d. Lahn aufgewachsene, zeitweilig in Bremen, dann aber vornehmlich in Frankfurt am Main lebende & journalistisch tätige Günther Rühle gehört zu jenen uneitlen Journalisten, die von ihrer privaten Existenz & Befindlichkeit vollständig absehen, weil sie in ihrem Beruf & dessen Herausforderungen oder Aufgaben ganz & gar aufgehen. Für diesen Typus Mensch stehen wahlweise die Klischees des „Preußischen Beamten“ oder des „calvinistischen Protestanten“ bereit. Nennen wir Rühle neudeutsch sachnäher einen „Workaholic“, der beruflich sein Leben lang glücklich & zufrieden war, wann immer er etwas zu tun hatte. (So hatte er nach seiner aktiven Zeitungszeit z.B. mit einer achtbändigen Werkausgabe für die geistige Rückkehr des emigrierten Alfred Kerr gesorgt).

Umso schlimmer traf es Günther Rühle, als er erkennen & akzeptieren musste, dass er nach den weitläufigen Recherchen der beiden ersten Bände seiner deutschen Theatergeschichte ausgerechnet den dritten nicht mehr realisieren wird können. Darin hätte er von der Teichoskopie des Historikers endlich zum Resümee des Zeitzeugen & intimen Kenners wechseln können. Er würde also weder das selbstgesteckte Ziel erreichen, noch den imaginierten kulturhistorischen „Auftrag“ erfüllen, der Nachwelt von den großen Momenten der deutschen Theatergeschichte zwischen 1966 & 1995 zu berichten.

Aus der Depression, die dem Einsamen in der Corona-Zeit von seiner Physis als ultimative Niederlage bereitet wurde, befreite er sich grandios nun mit seinem letzten & zugleich ersten Buch, das sich radikal nur ihm, seiner existentiellen & mentalen Situation zuwandte. Eine solitäre Selbsterforschung, bei der man ruhig von einem literarischen Ereignis sprechen kann, dem die Montaigne-Frage Que sais-je? zugrunde liegt.

„Nun ist es aus“, beginnen lakonisch die Aufzeichnungen am 10.Oktober 2020: „Vor acht Wochen ging Schreiben und Lesen gerade noch. Drei Untersuchungen, trockene Makula, Altersdegeneration. Man ist wie abgeschnitten von seinem Leben. Ich bin jetzt - fast plötzlich – ein Anderer. Ohne Zweck und Sinn. Wie einst, bevor man sich den Zweck beruflich zugelegt, dem auch einen Sinn zugelegt hat. Mein Zweck muss das Schreiben, der Sinn dessen Inhalt gewesen sein (…) So plötzlich außer Dienst, außer Funktion gestellt, lebt man nur noch für sich. Wird sich selbst das Ereignis des Tages.“

So begibt sich der geistig wache & immer intellektuell geschäftig gebliebene „Altersunternehmer“ mit 96 Jahren auf die Suche nach sich selbst, weil ihm anderes nicht übrig bleibt. Und siehe! Es war wohlgetan, dass der Mann, der sich sein Leben lang an dem Werk anderer kritisch & enthusiastisch abgearbeitet hatte, nun zum Ultimo seines Lebens mit radikalem Mut (auch der Verzweiflung) sich selbst beim Überleben des gelebten Lebens zuschaut.

Der Erzähler Rühle vertraut sich in Form von Tagesnotaten dem sprunghaften Lauf durch Sprach- & Gedanken-Labyrinthe an, wozu ihn das freie Assoziieren (ver)führt –z.B. beim „Blick ins Leere“ des Hauses nach seinem Tod: “Noch war Gemeinsamkeit, die Lebensordnung des letzten Bewohners, bald käme jemand, der das alles besah, alles auseinandernahm. Ich hörte die stummen Schmerzensschreie der Trennung. Das Klavier brüllte, der große Sessel, ja selbst der Küchenstuhl weinte. Wie ich so unsichtbar dastand, spürte ich, was ich dem allen war: der Sinngeber, der Zusammenhalt. Mein Dasein hatte Gemeinsamkeit bedeutet, Zusammenhang, Erfüllung in Zweck und Achtung, von Schönheit und Gestalt. Die Luft im Haus war nur Trauer. Ich war nicht mehr da. Man spürte es draußen auf der Straße. Die Leute blieben schon stehen und schickten ihre prüfenden Fragen: Was damit wohl wird?“

Ebenso nahe kommt er sich, wenn er sich beim eigenen Sterben zusieht, mehrfach wiederholt er den Satz. „Wie schön ist das Sterben, mild, sanft, schwebend. Ich genoss den Augenblick, sagte noch >Weiter so<“. Es war ein angenehmes Gefühl. Den Augenblick zu ahnen, in dem man von dannen geht, erst das >Nicht mehr< und dann das >Nichts< verwirklicht. Es wurde nichts draus.“ Schlimm sind „elende Stunden“ wie diese: „Manchmal wird man doch erschüttert von dem Jammer, der in einem wohnt. Das Alleinsein erdrückt, man ist überschüttet von den Erinnerungen, die ausgebrochen sind aus dem inneren Gefängnis, in das ich sie gesteckt und verborgen habe, vor lauter Arbeitswut. Man hielt sich fest und aufrecht mit der täglichen Schufterei und mit der, die man sich zusätzlich auflud. Ich hielt heute nicht mehr stand, vorhin hüpften plötzlich meine Schultern, es kam eine jehe Pression von innen. Es begann mit dem Weinen, das sich bis in die Augen drückte. Ich weinte trockene Tränen, als verdorre ich. Ich rief in den Raum das >Warum?<  Die Frage, die eine Antwort will, ohne dass man sie erwartet. Das >Warum< ist die Frage aller Fragen, begierig, dass die Antwort ausbleibt, damit das Begreifen der eigenen Verdorrung die Klage rechtfertigt, die einem aus dem Leib fährt. Es bellt der arme Hund in einem. Man könne, man wollte, man möchte sich das Messer zwischen die Rippen stoßen, das Herz erstechen und frisst dann doch weiter an den Resten des Lebens. Es schauderte mich, als ich nachfühlte, ob ich noch Ich bin. Trockene Tränen. Ich rief nach denen, die mich einst umlebten, und es kam niemand.“

Aber in den langen schlaflosen Nächten oder im Halbschlaf des Abends taucht er memorierend ab in die früheste Kindheit, zu den geliebten Eltern & Großeltern; ruft sich nie überwundene, sondern nur verdrängte psychische Verletzungen im Karriere-Clinch der FAZ-Redaktion in Erinnerung; gedenkt dankbar des Obergefreiten Rüggeberg, der zum Kriegsende hin an der Stelle des jungen Soldaten Rühle den verurteilten Fahnenflüchtigen exekutierte.

Während er bewundernd „Dichtung und Wahrheit“, gelesen von Gerd Westphal, als CD hört, bemerkt er, wie der alte Goethe sich bei der Darstellung des Jünglings in Sessenheim sprachlich & emotional verjüngt. „Ich belebe mich durch mich selbst“ stellt er auch für sich beim Erinnern der Kindheit in der „Handwerkerwelt“ Weilburgs fest. Zugleich fällt ihm aber auch ein, dass ein Leserbrief des einst allseits bekannten Rezitators Westphal ihm als Theaterkritiker bei den konservativen FAZ-Herausgebern nachhaltig schadete – ohnehin hielten diese Ton angebenden FAZ-Granden ihr liberaleres Feuilleton für eine “rote Zelle“. (Eine gleichlautende Einschätzung, die übrigens auch bei der politischen Redaktion der FR von deren Kulturteil verbreitet war.)

Andere thematische Komplexe, bei denen der 96jährige  Selbstbetrachter,-beobachter & -beschreiber verweilt,  sind die Überforderung durch die neuen elektronischen Medien, der „Epochenwechsel“, das Rätsel Bernhard Minetti oder wie er zu Einar Schleef kam (oder besser dieser zu ihm) & (worauf er zurecht stolz ist) sein Ahnen-& Enkeldienst für die erneute Vergegenwärtigung Alfred Kerrs.

Oder er macht sich die komische Rechnung auf: bei einer täglich fünfmaligen Entwässerung der „Biomaschine aus Fleisch und Wasser“ werde er bis zu seinem 100. Geburtstag noch 6000 Mal die Toilette aufgesucht haben. Öfters gibt er „wollüstigen Gedankenspielen der Selbstvernichtung“ nach &  er begibt sich in den aussichtslosen Kampf mit dem 5.Wecker, philosophiert über das Veraltern im Veraltern („Das Altern und Überaltern hat seine eigenen Erlebnisse“). Einmal macht sich sogar empathische Gedanken über die Enttäuschung zweier junger Fußballer, die beim unerwarteten 0:6 Untergang der Nationalmannschaft gegen Spanien nicht zur Entfaltung ihrer Talente gekommen waren.

Aber trotz zahlreicher, vielseitiger Anekdoten des alten Mannes, der älter wird (als er je gedacht & erwünscht hatte), in denen „die juxigen Züge in der Komik des Lebens“ hervortreten, aber auch deren fatale Kehrseiten zurecht breiten Raum einnehmen, sind die Träume und deren literarisch-erzählerische Integration in der Niederschrift das Herrlich-Einzigartige dieses Rühleschen Spätestenwerks!

Zu diesem veritablen literarisch-szenischen Surrealismus gehören nicht nur der wahnwitzige Traum von seinen stiefelnden Beinen in Griechenland oder der im Zimmer schwebende Alfred Kerr, sondern auch die zahlreichen Besuche von & Gespräche mit Toten wie dem Vater oder dem ungeliebten FAZ-Herausgeber Welter. Als er einmal vorm Radio eingedöst war, wachte er auf in der Gespenster-Runde von nahen & fernen Verwandten, die lebhaft kommunizierend um ihn am großen Esstisch versammelt sind, ohne dass er in der Stille des Hauses aber auch nur ein Wort vernommen hätte.

Die grotesk-komische  Zwischenwelt, die hier immer wieder von Rühle erzählerisch beschworen wird, erinnerte mich an die schockierenden Situationswechsel in Bunuel/Carrieres „Diskretem Charme der Bourgeoisie“; wie ja dieses merkwürdige Tagebuch der „Lebensmüdigkeit“ (Rühle) zu einem einzigartigen „stream of  consciousness“ des debütierenden Autors. im „ultimo momento“ verschmilzt; ebenso bewundernswert & berührend wie nachhaltig verstörend.

P.S. Zumindest für einen Leser Sechzigplus gleichen Buch & Lektüre metaphorisch gesprochen: einer hochalpinen Gratwanderung ohne bergsteigerische Erfahrung & Kenntnis.

Artikel online seit 14.10.21
 

Günther Rühle
Ein alter Mann wird älter
Ein merkwürdiges Tagebuch
Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Gerhard Ahrens
Alexander Verlag
230 Seiten
22,90 €
978-3-89581-576-8

Leseprobe

 

 

 


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