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Findlinge, gefunden

Ein buntes Florilegium aus J.J. Sprengs verwildertem deutschen Sprach-Garten

Von Wolfram Schütte
 

Sein Werk & dessen Schöpfer könnten eine apokryphe literarische Erfindung von Jorge Luis Borges sein. »Das allgemeine deutsche Glossarium« von Johann Jakob Spreng (1699-1768), einem Basler Gelehrten, Pfarrer, Dichter, Historiker (& Pedanten) – »eine schillernde, wenn auch nicht unumstrittene Persönlichkeit« – liegt mit seinen fast 100.000 Artikeln bislang aber nur in 20 Manuskriptbänden & Tausenden Umschlägen mit Artikel-Zetteln in der Basler Universitätsbibliothek vor. Sein Autor soll keine geringe Meinung von sich & seinen maßgeberischen Fähigkeiten gehabt haben, die deutsche Sprache aus dem mittelalterlichen-dialektalen Wildwuchs seiner Zeit heraus zu kupieren & dabei schulmeisterlich alterthümliche Wörter oder Redensarten zu verwerfen oder vergessene zu reanimieren, bzw. lateinische oder französische Lehnworte durch von ihm erfundene Synonyme zu ersetzen. So wollte er »Akademie« durch »Erzschule«, »Professor« durch »Hochlehrer« & »Studenten« durch »Zuchtsöhne« ersetzt haben. Zum Glück blieb das seine Grille.

An der Arkan-Existenz seines »Glossarium« hätte sich wohl auch nichts geändert, wäre nicht rund 250 Jahre später Sprengs Basler akademischem Kollegen, dem 1938 geborenen Schweizer Sprachforscher Heinrich Löffler, dieser ungehobene lexikalische Sprachschatz am Anfang des Neuhochdeutschen auf - & in die Hände gefallen & hätte der darob entzückte, mittlerweile längst emeritierte Gelehrte nicht eine Schar von Mitarbeitern gewonnen, die alle zusammen in mühevoller Transkriptionsarbeit die weitverstreuten Materialien des vergessenen Spreng(-Meisters)  & seiner obsessiven Sammlertätigkeit digital erfassten.

So fand das (natürlich) Fragment gebliebene ursprüngliche Manu-Skriptum seine kollektive Auferstehung zuerst in unserem fortgeschrittenstem Reproduktionsmedium & danach, nämlich erst Ende dieses Jahres, rückübersetzt ins Gutenbergzeitalter, sein monumentales Letternmausoleum in einer 7bändigen, 5000seitigen Buchausgabe für 500 €, herausgegeben von dem stolzen Scout Heinrich Löffler.

Noch bevor dieser sprachwissenschaftliche Schatz in toto das Licht der akademischen Welt erblickt & in Universitäts- oder anderen Spezialbibliotheken, endgültig kaserniert, dem Dunkel einer ungewissen Zukunft aufbewahrt wird, hat Nicolas Fink seine »Unerhörte Auswahl vergessener Wortschönheiten« daraus für uns Heutige separiert, Gabriel Schaffter ein kleines Vorwort dazu geschrieben, & (ebenso wichtig!) 2xGoldstein+Kaiss+Schöfer haben es »grafisch in Szene gesetzt«.

Die vier Grafiker haben schon einige Bücher des vor vier Jahren gegründeten Verlags unübersehbar gestaltet. Dieses jüngste setzt zwei sprachverwandte Vorläufer des Verlags fort: » Die Wunderkammer der deutschen Sprache« & »Eine ungemein eigensinnige Auswahl unbekannter Wortschönheiten aus dem Grimmschen Wörterbuch«. Das ist eine sehr schöne verlegerische Passion, die durch das Grafiker-Quartett erst recht Frucht bringend wird. Denn die Form, in der uns Lesern die Archivalien als kulturhistorische Kuriosa vor Augen gebracht werden, ist ebenso streng-schlüssig wie anmutig-verspielt.

Unter den Buchstaben von Aalkugel bis Zwitterzahl, denen barockisierende Buchstaben-Vignetten vorangestellt sind, hat der Herausgreifer Fink auf zweispaltigen Seiten zweifarbig jeweils rund 10 seiner ca. 3300 Findlinge unterschiedlicher Größe des »Allgemeinen deutschen Glossariums« versammelt. Dazwischen haben die Grafiker je nach Gusto unterschiedliche Reproduktionen verschiedenartiger schreibender oder ruhender Hände platziert: rote Zeichnungen zwischen lila Texten.

Ob die Farbwahl vom Symbolismus des katholischen Klerus infiziert wurde oder eher Augen schonend gedacht ist? Schauen wir mal nach, was Spreng z.B. über »Eselsbrücken« zu kommentieren hat: »werden die Register in den Büchern genennet, weil sich gewisse Scheingelehrte derselbigen mehr, als der Bücher selbsten, bedienen«. Der Basler Schriftgelehrte mokiert sich über einen auch heute noch oder vermehrt unter Akademikern auftretenden Typus, der Bücher gar nicht liest, sondern mithilfe des Registers nach Gesuchtem durchflöht. Vom heutigen metaphorischen Sinn der »Eselsbrücken« war man offenbar Mitte des 18.Jahrhunderts noch weit entfernt. Das Gleiche gilt, wenn wir schon mal dabei sind, für »Eselsohren«, ungeliebte Zeugnisse eines brutalistischen Buchlesers. Sie »wurden ehmals von den Slaven dem mercurio angedichtet, sein scharfes Gehöre darmit anzudeuten, als welcher die Schafwolle und das Gras wachsen hörte«.

Warum es die Slawen gewesen sein sollen, die dem Götterboten Merkur solch scharfes Gehör angedichtet hätten, weiß ich nicht. Aber naheliegend ist es schon, dass für seine Botengänge Merkur besonders gut hören musste, wer was von ihm wollte. Ebenso auch, dass man ihm die Feinheit der Eselsohren zusprach. Erhalten hat sich aus Sprengs Zeiten, die Metapher »das Gras wachsen hören«. Wobei ich aus Wikipedia erfahre, dass Spreng seine Erklärungen der Edda verdankt.

Wie man an der Schreibweise & Grammatik der Zitate bemerkt, hat Nikolas Fink nicht nur seine Fundstücke aus der Wortmetzerei des 18.Jahrhundert »ans Licht gebracht«, sondern gewissermaßen das sie umhüllende sprachliche »Erdreich« erhalten, wodurch das Stöbern in der Flora unseres heutigen Deutschs abenteuerlicher wird.

Unter dem »Angstmann« hat man sich »an einigen Orten« (in der Basler Umgebung) den Scharfrichter vorzustellen, an anderen heißt er poetischer »Rabenkoch«, weil er offenbar spezifischer: Gehängte den Raben »zurichtet«. Zu »Rabe« heißt es bei Spreng: »welcher der Verstorbenen nicht schonet, wird derowegen für das Sinnbild eines Lästerers gehalten. Weil aber der Rabe vornehmlich die Tier- und Galgenässer angreifet, so ist das Sinnbild zweydeutig und mißlich«.

Unter den zahlreichen Sprichwörtern, die das Buch aus der Vergangenheit bewahrt, ist »Weit beherret und nahe befreundet« in einer Feudalgesellschaft damals (wie auch heute) beherzigenswert: es »ist ein Rat der Alten, daß man sich weit von den Herren anbaue, damit man nicht immer dem Hofe dienen und frönen müsse, und daß man hingegen näher bey den Seinigen wohne, damit man Rat und Trost von ihnen haben, und ihnen geben könne«.  

Unter »fucken« versteht man »diebischer Weise zu sich stecken« und nicht das, was man als lautverschobene Vorform einer derart benannten sexuellen Tätigkeit zu kennen oder wieder zu erkennen meint, wohingegen das uns heute unbekannte Wort »fügeln« derselben Sache näherkommt, wie aus Sprengs Glossarium erkennbar: »vögeln, wird von den Vögeln in der Brunst gesagt, wenn sie das Weibchen treten. Ettliche tauben haben die art das sy nymer gefügelt werden vnd keusch beleiben. – Kein ay ist berhafftig dann allein die gefügelten ayr, das ist, der Sy (des Weibschens) ayr da der saum des Er (der Same des Hahns zuogemischt ist«.

Bleiben wir zum Ausklang dieser Appetizer aus den »unerhörten Wortschönheiten« noch einen Moment in eroticis. Eine Aktivität, wie »sich mit einander belieben«, bedeutet prosaisch »paaren« Und dazu erzählt uns Johann Jakob Spreng: »Wenn die Schwanen Junge zeugen wollen, findet sich das Männlein zu dem Weiblein, und beliebt sich mit ihm, bringet seinen Hals zu des Weibleins Halse, umfängt den mit seinem Halse, und zeucht dasselbige zu sich. Wenn sie sich aber beliebt haben, schlägt das Weiblein das Männlein mit den Flügeln weg, und jaget es von sich, hernach waschen und baden sie sich beide, ehe sie wieder essen«.

Sauber, sauber, die Schwäne; dass auch Tiere essen, versuchte der einst TV-populäre Fernsehstar Prof. Bernhard Grzimek in den Achtziger Jahren wieder populär zu machen. Wohl erfolglos.

Artikel online seit 02.06.21
 

Nicolas Fink (Hrsg.):
Eine unerhörte Auswahl vergessener Wortschönheiten aus Johann Jakob Sprengs gigantischem, im Archive gefundenen, seit 250 Jahren unveröffentlichten deutschen  Wörterbuch.
Vorwort von Gabriel Schaffter, Grafik von 2 x Goldstein + Kaiss + Schöfer,
Verlag Das kulturelle Gedächtnis, Berlin 2021
364 Seiten,
25,00 €
978-3-946990-47-5

 

 


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