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Das Brot der Erinnerung

Bogdan Wojdowski
rekonstruiert mit seinem Roman »Brot für die Toten«
die Hölle des Warschauer Ghettos und ruft die Vielfalt des vernichteter
jüdischen Welt wieder ins Leben.


Von Jürgen Nielsen-Sikora

 

Bogdan Wojdowskis Roman »Brot für die Toten« erschien im Original bereits vor einem halben Jahrhundert, im Jahre 1971. Die drei Jahre später von Henry Bereska besorgte Übertragung ins Deutsche ist nun in einer nicht nur typografisch beeindruckenden Neuausgabe im Wallstein Verlag erschienen.

Ort der Handlung ist das Warschauer Ghetto. Die Stadt Warschau war bis zum Zweiten Weltkrieg das pulsierende Zentrum des jüdischen sozialen, kulturellen, politischen und religiösen Lebens in Europa. Im Spätsommer 1940 begann die Ghettoisierung der Juden durch die Nationalsozialisten, die Teile der Stadt als Sammellager nutzten. Das Ghetto umfasste gut drei Quadratkilometer, von einer etwa drei Meter hohen und 18 Kilometer langen Mauer mit Stacheldraht umzäunt. Zu den Bewohnern des Ghettos zählten u.a. Bronisław Geremek, Janusz Korczak, Marcel Reich-Ranicki, Halina Birenbaum – und Bogdan Wojdowski selbst, der 1930 in Warschau als David Wojdowski geboren wurde. Seit Ende 1940 lebte er mit seiner Familie im Ghetto, im Sommer 1942 gelang ihm – auf Anweisung seines Großvaters – die Flucht. Nach dem Krieg machte er zunächst Abitur und studierte dann Polnische Philologie.

Im Ghetto herrschten damals katastrophale sanitäre Bedingungen, die Bewohner litten an Hunger (das Brot ist – wie in vielen Kriegsromanen – ein Symbol dafür) oder starben an Typhus und Tuberkulose, weil Medikamente fehlten. Ihre Körper und Kleider waren verlaust, sie waren Opfer von Gewalt und Zwangsarbeit. Verbitterung, Verzweiflung und soziale Konflikte waren aufgrund der Überfüllung des Ghettos an der Tagesordnung.
Viele Kinder riskierten ihr Leben, um Nahrungsmittel durch kleine Maueröffnungen ins Ghetto zu schmuggeln.
Im Sommer 1942 erfolgte die Auflösung des ursprünglichen Lagers im Zuge der »Aktion Reinhardt«, die Fläche wurde massiv verkleinert, das »Restghetto« bestand aus noch etwa 60.000 Juden. Im Zuge der »Aktion Reinhardt« deportierten die Nationalsozialisten die Juden vor allem ins Vernichtungslager Treblinka, wo auch Wojdowskis Eltern ermordet wurden.

Im Frühjahr 1943 kam es im Warschauer Ghetto zum Aufstand. Den Tod vor Augen (»Ein Jude stirbt nicht, ein Jude krepiert)«, bewaffnete sich die Bevölkerung und leistete Widerstand gegen die SS-Einheiten und ihre Helfer. Der Aufstand wurde im Mai von der SS blutig niedergeschlagen, das Ghetto vollständig niedergebrannt und die Überreste des ehemaligen jüdischen Wohnbezirks zerstört.

Wojdowskis Alter Ego, der zehnjährige Junge David, ist die Hauptfigur des Romans, der das Leben von Davids Familie, seinen Freunde und Bekannten im Ghetto schildert: »Jene, die sogleich hatten sterben sollen, waren tot, jene, die erst sterben würden, lebten noch und warteten auf ihre letzte Stunde. Vom Hunger aus den finsteren, ungeheizten Schlupflöchern vertrieben, liefen sie nachts durch die verödeten Straßen und riefen, tobten, klapperten ungestraft mit ihren leeren Blechnäpfen. Sie verloren unterwegs ihre Läuse und ihre Fetzen. Dürre Gerippe, in schlotternden Lumpen dahintaumelnd, sanken mit schaurigem Gewinsel auf die Erde. Ihre Schreie, ihre wirren Klagen hallten an die Fenster. Am Morgen darauf deckten die Hausmeister Papier über die Leichen. Die Seuche grassierte in den Mauern …«

Immer wieder kursiert der Name Madagaskar unter den Menschen im Ghetto als Symbol der Hoffnung: Die afrikanische Insel galt eine Zeitlang als mögliches jüdisches Siedlungsgebiet. Zionistische Gruppierungen bekundeten ebenfalls ihr Interesse. Doch anstatt nach Madagaskar übersiedeln zu können, sahen sich die Warschauer Juden schon bald mit den Ausmaßen des Holocaust im Ghetto konfrontiert: »Sie treiben die Menschen nackt in ausgehobene Gruben und schießen ihnen in den Rücken. Dann schaufeln sie die Gruben zu, und Blut fließt über das Feld wie Schlamm. Blut schwappt aus diesen Gräbern. Die Verwundeten ersticken darin wie Vieh.« Und die Schergen machen sich auch darüber noch lustig: »Komisch, was?«, sagt einer zynisch. »Woran die Menschen so denken, wenn sie in den Tod gehen … Jaja, sagte ein anderer lachend, in zwei Stunden fährt die ganze Bagage … nach Madagaskar!«

Im Nachwort deutet Lothar Quinkenstein die Bedeutung des Romans mit den Worten: »Indem Wojdowski konsequent dem Terror die Kontinuität jüdischen Denkens entgegenstellt, widersetzt er sich der erklärten Absicht der Besatzer, alles Jüdische auszulöschen … Mit den Stimmen der Menschen, denen Wojdowski das stickele brojt der Erinnerung reicht, bringt er zum Sprechen, was nach der Ideologie der Barbaren nicht mehr hätte existieren sollen – die jüdische Ethik, deren Quelle in der fortwährenden Vergegenwärtigung liegt.«

Wojdowski, von den Erfahrungen im Warschauer Ghetto traumatisiert, unternahm bereits 1979 einen ersten Selbstmordversuch und verbrachte eine Zeitlang danach in der Psychiatrie. 1994 nahm er sich in Warschau endgültig das Leben. »Brot für die Toten« ist die bleibende Erinnerung an die Jahre des Warschauer Ghettos. Es lässt die Toten wieder lebendig werden.

Artikel online seit 03.09.21
 

Bogdan Wojdowski
Brot für die Toten
Roman
Herausgegeben von Sascha Feuchert
, Lothar Quinkenstein, Ewa Czerwiakowski.
Aus dem Polnischen übersetzt von Henryk Bereska
Reihe: Bibliothek der polnischen Holocaustliteratur; Bd. 1
462 S., geb.,
24,00 €
978-3-8353-3817-3

 


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