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Kein Wort bleibt auf dem anderen

Helena Adlers neuer Roman
»Fretten«
dreht noch mehr
an der Schraube der Expressivität

Von Lothar Struck
 

Vor zwei Jahren wurde Helena Adler einem breiten Publikum mit ihrem furiosen Debut "Die Infantin trägt den Scheitel links" bekannt. Mit "Fretten" liegt nun der zweite Roman vor, der im Vergleich zum Erstling noch mehr an der Schraube der Expressivität, der Wut aber auch der Zärtlichkeit dreht, etwas, was man kaum für möglich gehalten hat. Aber gemach.

Zu Beginn wird die Vokabel "fretten" erklärt: "sich abmühen, sich plagen […] sich wund reiben". Wie schon in der "Infantin" sind die 21 Kapitel des neuen Romans überschrieben mit Titeln von Kunstwerken; zumeist Gemälden (deren Anschauen zur Lektüre lohnend ist), aber auch eine Performance und zwei Installationen der Autorin, die man nur erahnen kann. Auch inhaltlich könnte "Fretten" eine Fortschreibung des Erstlings sein; es gibt angedeutete Parallelen zur Eltern- und Großelterngeschichte, die aber nicht mehr weiter ausgeführt werden. Die "Infantin" endet mit dem Abschied von Kindheit und Jugend; sie legte "ihre Waffen nieder" und stillte ihr Kind. Und die Ich-Erzählerin aus "Fretten" stellt ab Mitte des Romans die Geburt und die Betreuung ihres Sohnes in den Mittelpunkt. Dann nimmt das richtig Fahrt auf.

Zunächst jedoch wird die Kindheit als "irdisches Paradies" erzählt, ein bukolisches Idyll mit imaginierten warmen Dämpfen; eine "weiche Welt" im "Blumenversteck" des verwilderten Großelterngartens mit Blick auf die Berge, die ein "unendliches Meer" "inszenierten". Jeder Tag "roch nach Abenteuer". Noch war es da, das "Urvertrauen" und eine strotzende Lebensgier erfüllte sie. Es gab den "Duft unserer Weizenfelder" (das Olfaktorische spielt in diesem Buch eine wichtige Rolle) und die "Abendsonne stichelt goldgelb in die Alpensavanne" während die Schatten ein Bild lieferten, "als würde das Land mit Erdöl geflutet."

Es sind Evokationen aus den "Gefilde[n] der Seligen" und ich frage mich, wann ich zuletzt derart zauberhaftes gelesen habe (das ist lange her). Aber das ist nur die eine Seite. Daneben, gleichzeitig, gab es auch das Lebens in der harten, "brutalen Welt" der Eltern, diese Kadaver- und Verwesungsgerüche – eine Metapher für Unverständnis und Borniertheit -  und am liebsten war die Erzählerin mit sich alleine, beim Zeichnen von Bestiarien mit den "Monstern der Nacht" und später wurde die "Sprache der Phrasendrescher" (vulgo: Familie) "zerhäckselt".

Es wächst das Unverständnis und führt zu einer grandiosen Elternbeschimpfung ("Ihr Nichtsdahinter"). Schließlich eine neue Aufgehobenheit: Freunde ("Nighthawks" ist hierzu das Symbolbild; freilich ein ganz anderes Zusammensein), ein Haufen "Nichtiger", schwermütig und rebellisch, resignativ und "unverwüstlich" und nicht nur "Schwadronade" trinkend. Sie sind die "Kinder der Toten" (und das ist erst der Beginn der Referenzen!), tragen Schmetterlingsnamen und einer von ihnen, der Sohn des Fleischers, hat Striemen auf dem Rücken und wird zum Heiland. Man plünderte die Fleischerei, brach in Villen ein, nahm ein Bild mit, zündete eine leerstehende Brauerei an. "Unsere Bahn ist eine schiefe Bahn, aber sie fährt". Es gab Selbstmorde und die Erzählerin zog die Handbremse, lag endlich mit einem Blinddarmdurchbruch im Krankenhaus bevor es zur Kunstakademie ging.

Und dann ist auch schon das Kind da und von nun an wechselt die Sprache; die Bahn fährt nicht nur, sie stürzt und rattert über ein Kopfsteinpflaster aus Alliterationen, Reimwitzen, Klangspielen, Kalauern, Verballhornungen. Kein Wort bleibt auf dem anderen. Eine "Beute beutelt", das ungeborene Kind ist "Uranus im Uterus" und die Scham ist "unterm Schaum". Die Hebamme ist nicht nur ein "Seeungeheuer", nein, auch eine "Menopausenmedusa". Der eigene Körper wird zum Kadaver der "Abrakadaver […] neues Leben hervorzaubert". Wenn man der Gebärenden im "Landpomeranzenlazarett" eine Orange gibt, ist das "Fruchtfleisch für das Frischfleisch". Die Geburt ist eine "Kaskade im Kaukasus". Der Blasensprung ist "hirnrissig" und Eierstöcke "stocken". Schließlich ist er da, der "Wildfang. Wirbelwind. Wildes Kind". Und für einen Moment überfällt sie Demut, bevor dann das "Geschwader der Verwandten" Besuche abstattet für das Kind "einer Scheinheiligen, einer zweifelnden Heidin, einer zornigen Bauerstochter".

Als das Kind im "Lungenentzündungslüftchen" krank wird entstehen bei der Mutter "Panik, Pein und Plage"; sein permanenter Husten ist "Atemnot durch die Nacht". Die Operation des Kindes an den Mandeln wird zum Bollwerk Mutter/Kind gegen den Rest der (Klinik-)Welt inszeniert.

So mancher Reim ist schlichtweg Pein; er hemmt die Rezeption, schiebt sich wie ein aufdringlicher Werbespot in einen Film, kollidiert mit dem Erzählgegenstand, zieht die Stimmung herunter ins karikaturhafte. Irgendwann kapituliert man, überliest so etwas wie "lieber kurzer Prozess als Eiterabszess" oder die Schilderung des "Harnbeutelharnisch" im Krankenhaus, aber ertappt sich gleichzeitig dabei, in seiner Alltagssprache ähnliche Konstruktionen zu finden und zu erfinden, aber, und das muss man anerkennen: man scheitert und produziert nur Stilblüten; die Autorin gewinnt. So gerne man die Allusionen herausschält, so notwendig erscheinen einem Streichungen etlicher Alliterationen.

Warum dieser Pointendurst? Da ist doch diese Liebe der Erzählerin zu ihrem Kind (und vice versa), diese Körperlichkeit, wie man sie in den klaren Momenten, wenn der Reimkeim in einem Kapitel nicht wild aufgeblüht ist, sinnlich und auch ein bisschen bedrohlich erfährt. Da ist diese existenzielle Wucht, die diese Mutter mit ihrem Kind verbindet, davon erzählt, dass "alles Leben eine Demaskierung der Vergänglichkeit" ist und dann, in diesen dichten Momenten, bewundert man den surrealen Realismus, die "Flashbacks" aus der eigenen Kindheit, die im Angesicht des Kindes wiederkommen (merke: Unterschied "Flashback" und "Erinnerung"), diese Mischung aus Verzweiflung und Sehnsucht nach der Imagination der kurzen Idyllenzeiten. Dann diese Sprachwucht, wenn die Erzählerin selber eine Operation zu überstehen hat, die Vorstellung als Leiche nicht aus der Narkose mehr aufzuwachen, aber rasch geht die Polonaise wieder weiter und droht so vieles unter dem mutterwitzelnden Mutterboden, der da aufgehäuft wird, zu begraben.

Gegen Ende dann wahrlich finstere Augenblicke. Todessehnsucht? Lebensangst? Oder eher Angst vor dem Überdruss? Die Erzählerin nimmt Bezug auf den Suizid Ernst Ludwig Kirchners. "Echte Kunst ist existenziell", steht da plötzlich. Die Furcht, zu verschwinden. Aber das Kind als Anker, vertreibt die "Versuchung", steht für eine Perspektive, entfacht Lebenstrotz. Helena Adler ist eine grandiose Sprachartistin, die epische Momente erschaffen kann, aber heuer zuweilen einen Salto zu viel schlägt auf dem Drahtseil. "Fretten" sollte, nein: muss man trotzdem lesen. Denn hier pocht das Herz der Welt.

Artikel online seit 14.10.22
 

Helena Adler
Fretten
Jung und Jung
192 Seiten
22,00
978-3-99027-271-8

 

 


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