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Die verlorene Ehre des Ersten Offiziers

Joseph Conrads »Lord Jim« neu von Michael Walter übersetzt.

Von Wolfram Schütte
 

Etwa in der Mitte seines 1900 erschienenen Romans hält »Lord Jim« auf einem Einbaum »Einzug in das Land, das er (…) mit dem Ruhm seiner Tugenden füllen sollte.« Auf der Flußfahrt zum fiktiven Patusan, wo er sowohl sein spätes Glück – Anerkennung, Freundschaft & Liebe in einem »Zuhause« - als auch seinen Tod finden sollte, »verlor er an der ersten Biegung das Meer aus dem Blick mit den nimmermüden  Wellen, die sich immerzu heben, senken und vergehen, um sich erneut zu heben – Inbild der sich mühenden Menschheit -, und er sah vor sich den unbewegten, tief im Boden verwurzelten Urwald, emporstrebend zum Sonnenlicht, immerwährend in der schattenhaften Macht seiner Tradition, wie das Leben selbst«.

So offen wie hier hat der außerordentliche englischsprachige Schriftsteller die metaphorisch-symbolische Bedeutung der bevorzugten Handlungsorte seiner meisten Romane & Erzählungen selten benannt. Meer & Dschungel sind beide das Äußerste souveräner Natur, in der & mit der der Mensch – vornehmlich der europäische Mann – sich messen, deren er »Herr werden« muss, bzw. unter deren Dominanz er seine Pflicht tun soll.

Im Grunde ist das gesamte »maritime« Oeuvre des landflüchtigen Polen & englischen Handelsflotten-Kapitäns ein grandioser erzählerischer Vorgriff für das unausgesprochene Nachwort, das ihm mit Albert Camus' Mythos vom Sisyphos geschrieben wurde – allerdings ohne Camus' Exaltation zu der Behauptung, man müsse sich den ewigen Steinwälzer auch noch als »glücklich« vorstellen ob der Absurdität der menschlichen Existenz. Deshalb ist Joseph Conrads vierter Roman ein existenzialistischer Roman avant la lettre.

 »Lord Jim« - möglicherweise Joseph Conrads literarisch gewagtester Roman sowohl seines Oeuvres als auch im Vergleich mit Henry James, dem amerikanischen Zeitgenossen & Conrad-Förderer -, exponiert in seinem ersten Teil das immobile widersprüchlich-komplexe Porträt des rätselhaften Titelhelden, den er im gleich umfangreichen zweiten Teil des Romans dann als übergroßen Helden in Bewegung setzt.

Selbst wenn die Karl-May-Lektüre Jahrzehnte zurückliegt, stellt sich bei Lord Jims friedensstiftendem Wirken in der malaiischen Welt & seiner engen Freundschaft mit Dain Waris, dem gleichaltrigen Sohn des alten Clanchefs Doramin, die Erinnerung an Old Shatterhand & Winnetou wie auch an die paternalistische Dominanz des allseits bewunderten Europäers in diesen Männer-Liebes-Verhältnissen ein. (Es verwundert auch nicht, dass Thomas Mann besonders diesen frühen Roman Conrads schätzte.)

Die literarische Größe von »Lord Jim« beruht auf seinem ersten Teil & dessen erzählerischem Raffinement. Joseph Conrads nachnamenlose Titel-Person, über die & deren Charakter sich eine Vielzahl von Personen (auch er selbst & der Erzähler Marlow) den Kopf zerbrechen, ist der Sohn eines englischen Pastorenpaars. Er wurde von den abenteuerlichen Erzählungen des englischen  See-Schriftstellers Frederick Marriyat (»Captain Hornblower«) zum Karrierewunsch auf dem Meer verführt - wie Emma Bovary von ihrer Sehnsucht nach romantischer Liebesleidenschaft in ihr prekäres Doppelleben & finanzielles Verderben in der französischen Provinz.

Lord Jim wird von Conrad bewusst als ein durchschnittlicher Mensch & ehrenhafter Charakter konzipiert, der aber durchaus widersprüchlich ist: sowohl idealistisch-romantisch als auch pragmatisch-zupackend. In seiner 17 Jahre später publizierten »Anmerkung« spricht der Romancier davon, er habe >das Existenzgefühl< eines »schlichten und empfindsamen Menschen« darstellen wollen   

Kapitän Marlow, der in der skizzenhaft beschworenen Erzählsituation der immer wieder unterbrochenen Rahmenhandlung einem Kreis gleichgesinnter Seeleute von dem allseits bekannten »Lord Jim« erzählt, nennt ihn refrainartig immer mal wieder »einen von uns«. Er will damit seinen problematisch-prekären »Helden«, dem er als älterer Freund fast väterlich zugeneigt ist & mehrfach aus der Patsche hilft, vor dem naheliegenden Verdacht der Exzentrik oder der sturen Eigenwilligkeit bewahren. Was immer er tut oder getan hat, soll das heißen, er ist dennoch immer einer von uns ehrenhaften Seeleuten. Bedenkt das bei Eurem Urteil über diesen jungen Manns, der sich »wegen der Kleinigkeit eines unbedachten Sprungs« sein Leben lang schämte & davor geflohen ist – bis in den hintersten Winkel der Welt.

Marlows  Kenntnisse von dem Leben des jungen Manns bezieht er zum Teil aus dem mehrfachen Kontakt mit der Titelfigur, die er über die Jahre immer wieder in den asiatischen Häfen trifft (& der ihm allein einmal das Malheur seines Lebens gebeichtet hat) – oder aus Berichten anderer Seeleute - also mehr oder weniger vom Hörensagen.

Joseph Conrads künstlerischer Ehrgeiz ist es, sowohl die Person als auch die Eindrücke oder Resonanzen bei allen, die mit ihr zu tun hatten, jeweils möglichst exakt & vollständig wiederzugeben. Dabei wechselt der Autor je nach Erzähler den Stil, immerhin sind ja nur Jim & Marlow englische Muttersprachler, alle andren sprechen ein Kommunikations-Englisch wie ihnen der Schnabel gewachsen ist.

Der vielfach ausgezeichnete Michael Walter hat bei seiner Übersetzung auf solche sprachlichen Nuancierungen sein Augenmerk gerichtet. Um den kolloquialen Stil des Romans zu akzentuieren, geht Walter gelegentlich etwas zu weit (indem er durch Modewörter & Begriffe unserer Zeit eine sprachliche Nähe des mehr als ein Jahrhundert alten Buchs suggeriert).  

Durch diese Sprach-Stil-Wechsel entsteht ein farbiges Mosaik unterschiedlichster Sprech-, Artikulationsweisen & Ansichten, in deren kaleidoskopischem Licht oder Zwielicht sein »Lord Jim« buchstäblich (verschwommen) erscheint. Bis zuletzt bleibt dadurch der Titelheld verwischt - wie auf einem der unscharfen Bilder des Dresdner Malers Gerhard Richter. Der Verlag hat diese Diffusität zum Motiv für seinen Schutzumschlag gemacht.

Die Nähe dieser a-chronologischen Conradschen Erzählweise zur Montage im Film ist verblüffend, auch weil die Titel-Figur im Roman nur von außen präsent ist, ihre Handlungs- & Verhaltensmotive aber verborgen bleiben, so dass der Leser zu den zahlreichen Informanten  als letzter nachdenklich hinzutritt & sich seine Gedanken über Leben, Versagen, Flucht & Erlösung Lord Jims macht, ja machen muss.

Überhaupt muss hier mit Bedachtsamkeit gelesen werden. Sonst könnte einem leicht der springende Punkt entgehen, weshalb der Roman erzählt & der für manche wohl einfältige, für andere allzu egozentrische Held so oft rätselhaft erscheint – wie ein Don Quijote der verlorenen Ehre.

Auf seinem ersten Kommando als Erster Offizier hat der stolze junge Engländer versagt. Statt »beherzt« auf dem maroden Dampfer »Patna« mit 800 Mekka-Pilgern das Kommando zu übernehmen, nachdem der Kapitän & andere Offiziere  aufgrund einer Havarie auf hoher See & dem vermeintlich drohenden Untergang zu entkommen suchten, war der irritierte junge Offizier zu den heimlich Flüchtigen ins Rettungsboot gesprungen.

Jedoch die führerlose »Patna« ging nicht unter, sondern erreichte Land – so dass ein Seegericht über den ebenso kriminellen wie unehrenhafte Vorfall befand. Während sich die älteren Angeklagten aus dem Staub gemacht hatten, stellte sich einzig Jim dem Urteil, das ihn sein gerade erworbenes Offizierspatent kostete & ihn zum unsteten Leben einer verachteten Person am Existenzlimit in den Häfen des Indischen Ozeans verdammte. »Es war«, könnte man mit dem Schlusssatz von Kafkas »Proces« über den Gescheiterten sagen, »als sollte die Scham ihn überleben« – hätte er nicht in einem abgelegenen Winkel des Malaiischen Archipels doch noch am Ende & durch Marlows Hilfe »zu Ruhm, Liebe und Erfolg« in seinem von Grund auf ihm verpfuscht scheinenden Lebens gefunden.

Marlow, der wie Conrad dem Pathos gegenüber nicht zimperlich ist, resümiert Lord Jims  gesuchten Sühne-Tod durch die Hand des Vaters seines besten Freundes: »Er geht von uns (…)  im Grunde unerforschlich, vergessen, ohne Vergebung und über die Maßen romantisch«.

Es bleibt einer Nebenfigur überlassen - dem Gewürz-Händler & Schmetterlingssammler Stein, dem einzigen sympathischen Deutschen in Conrads Oeuvre –, das Conradsche Credo der menschlichen Lebenstapferkeit zu formulieren: »Man muss in das zerstörerische Element«, i.e. das unabsehbare Leben »eintauchen.« Und dann: «den Traum verfolgen, wieder und immer wieder, den Traum verfolgen - und das - ewig- usque ad finem«.

P.S. Es könnte sein, dass die einzigen kursiv gesetzten Wörter in »Lord Jim« (usque ad finem) ein fernes Echo in Thomas Manns »Zauberberg« auslösten. In dessen »Schneekapitel« stehen die einzigen kursiv gesetzten Wörter des »Zauberbergs«: »Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken«. In beiden Fällen, übrigens etwa an der gleichen Stelle, der Mittelachse der Romane, prononcieren die Autoren durch die Kursivierung, was ihnen als empirische Personen über das Fiktionale hinaus als kategorische Lebenshaltung wichtig zu sagen ist.

Artikel online seit 25.06.22
 

Joseph Conrad
Lord Jim
Roman
Aus dem Englischen von Michael Walter
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Daniel Göske
Hanser-Verlag
München 2022
639 Seiten
36,00 €
978-3-446-27265-1

Leseprobe

 

 


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