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Ein milder Moby Dick in Südengland

John Ironmongers Kolportageroman
»Der Wal und das Ende der Welt«

Von Wolfgang Bock

Das Meer und die ewigen Gezeiten in Cornwall
Wenn die ansonsten von Pragmatismus getragene englische Populärkultur einmal tiefsinnig werden will, besinnt sie sich auf die lokalpatriotischen angelsächsischen Wurzeln: bei König Artus, Ivanhoe, Robin Hood und den Rittern der Kokosnuß geht es mit den Kelten und den Angelsachsen historisch immer wieder gegen die Normannen. Neuerdings aber auch mit der Dorfidylle von Küstenorten aus Cornwall gegen London und die neoliberalistischen Auswüchse des globalen Kapitalismus. Die idyllische Dorfgemeinschaft und das Leben am Meer mit den Fischern und den übrigen urigen Einwohnern, gern auch aus dem Empire multikulturell angereichert, wird aufgeboten, um die wildgewordenen Städter zu heilen.

Portwenn und St. Piran als Wiedergänger von Port Isaak
Das Küstenstädtchen Port Isaak (im Film: Portwenn) mit seinem malerischen Hafen und den ansteigenden Gässchen bildet die entsprechende Kulisse in den Serienfilmen über Doc Martin, die seit 2013 in mehreren Staffeln laufen. Der hoch spezialisierte und gut bezahlte Herzchirurg Martin, der kein Blut sehen kann, nimmt dort eine Stelle als einfacher Hausarzt an. Er heilt nicht nur die Wehwehchen der Dorfbewohner, sondern gesundet vor allem selbst von dem hypertrophen städtischen Leben.

Im Film Fisherman's FriendsVom Kutter in die Charts (GB 2019, nach einer wahren Begebenheit) erkennt der zufällig ebenfalls in Port Isaak (diesmal mit echtem Namen) gestrandete alerte Musikproduzent Danny, ebenfalls aus London, wie schön die lokalen Fischer hier im Kirchenchor ihre Shantys singen. Er verliebt sich in die Dorfschönheit, die zudem das Herz auf dem rechten Fleck hat. Er überzeugt seine skeptischen und zynischen Kollegen, den A-cappella-Chor der Fischer zu managen und heilt dabei auch nebenbei wieder seine eigene wunde urbane Seele.

Gerät mit dem globalen Kapitalismus die Zeit wieder einmal aus den Angeln, so ist ein heimatliches Wundenlecken mit Salzwasser angesagt – handelt es sich nun um Fernsehserien, Filme oder entsprechende Romane; die Geschichten sind ohnehin ununterscheidbar. In der unzerstörbaren Dorfgemeinschaft, gebildet aus Charakteren des 19. Jahrhunderts, wie man sie bei Charles Dickens, Jane Austen oder Emily Brontë oder bereits als Typen bei Conan Doyle und Agatha Christie findet, soll der soziale Sinn des gesellschaftlichen Miteinanders wiederentdeckt werden. Im Meer und der Fischerei und in der Schaf- und Rinderzucht ist der vorindustrielle Horizont der Inselnation abgesteckt. Das Meer und das Leben an der Küste geben im Rhythmus der Gezeiten gleichermaßen das Leben und den Tod.

Die böse Krise und der liebe Leviathan
Dieses Rezept geht auch in dem Roman Der Wal und das Ende der Welt von John Ironmonger auf. Der Autor verzahnt hier Felder seiner früheren beruflichen Tätigkeiten als Biologe und IT-Spezialist in einer Metaphysik, die das Leben, das die Stämme Englands einst zusammenschweißte, in einer neuen Mythenerzählung wieder aufnimmt: die angelsächsische Herkunft und das gute rurale Leben. Das Ganze wird von weiteren Referenzen durchzogen: In seinem Roman kommt zusätzlich noch eine alttestamentarische Seite ins Spiel, wie sonst eher bei den durch die Pilgerväter in Amerika geprägten pragmatistischen Gründungserzählungen, in der bedeutungsschwanger auf die Geschichte von Jonas und dem Wal und irgendwie auch auf Thomas Hobbes Leviathan angespielt wird. Melvilles Moby Dick ist damit im Hintergrund des Romans ebenso von Ferne präsent, wie Spuren der Traumwelt Dylan Thomas Hörbild Unter dem Milchwald des walisischen Fischerdorfes Llareggub, wo der Postbote die Briefe liest und den Inhalt den Empfängern mitteilt, wenn er sie aushändigt.

Dänen in London und in Cornwall
Der Roman von Ironmonger allerdings besitzt weder Thomas‘ Tiefe oder seinen Witz noch Melvilles gezierte Sprache, sondern bleibt nüchtern und verwendet eher Dialoge wie aus dem Fernsehen. Die Lektüre zieht sich denn auch in die Länge und die Leserin und der Leser brauchen Zeit, bevor sie den Faden, der in den Szenarien und in den biografischen Zeiten Hin und Her springenden Erzählung aufnehmen können. Eine Menge von Details und Nebenlinien verstellen die Handlung so, wie bei jeder ordentlichen Serienproduktion für Netflix und Co.

Der Plot selbst ist schnell zu berichten. Ein junger Londoner Broker mit dem bedeutungsschweren Namen Jonas (!) (Joe) Haak und dänischen Vorfahren wird dafür bezahlt, dass sein von ihm geschriebenes Computerprogramm politische und ökonomische Krisen vorhersagt – und damit den Kursverfall von Aktien. Seine Firma wiederum lebt davon, in Leerverkäufen solche Papiere zu erwerben, kurz bevor sie wieder steigen und den Gewinn anschließend einzustreichen, wenn sie sie teuer wiederveräußern. Als sein Programm einmal eine kapitale globale Krise prophezeit – den weltweiten Einbruch der Erdölförderung und den Ausbruch einer weltweiten Grippeepidemie – und er dazu in eine persönliche Ratlosigkeit gerät, flüchtet dieser moderne Jonas in seinem schicken Daimler aus London. Wie in Trance steigt er an Cornwalls Küste nackt ins Wasser. Am nächsten Morgen wird er erschöpft, aber noch lebendig, an den Strand gespült. Dort finden und retten ihn Spaziergänger. Der Strand gehört zu dem (fiktiven) 300 Seelendorf St. Piran, eine weitere Imago von Port Isaak am Ende der Straße, kurz vor Land’s End. Es stellt sich heraus, dass auch er von einem Wal gerettet worden ist, der ihn an den Strand getragen hat.

Damit ist mild das biblische Thema des Leviathan und des Helden Jonas gesetzt. Das Tier ist auch hier kein Ungeheuer, sondern ein etwas zu groß geratener Flipper. Joe dagegen ist augenscheinlich von einer schwachen messianischen Kraft aufgeladen. Hier gibt es Parallelen zu anderen englischen Dystopien, beispielsweise von Doris Lessings Die Memoiren einer Überlebenden (1974) oder Shikasta (1979). Die Heldenhaftigkeit zeigt sich zunächst in einer besonderen Tat: Wenig später nämlich strandet der Finnwal selbst. Und nun gelingt es Joe, das Tier zu retten, indem er das zuvor zerstrittene Einwohnerkollektiv des Dorfes dazu bewegen kann, den Koloss zurück ins Meer zu bugsieren. Ironmonger beschreibt diese Geschichte zuweilen aus einer epischen Perspektive 50 Jahre aus der Zukunft – so, als habe sie in einer bescheidenen geschichtsphilosophischen Konstruktion den Grundstock für entsprechende spätere Rituale im Dorf abgegeben. Das erinnert etwas an die Reklame für ein Möbelhaus: „Heute schon die Antiquität für morgen kaufen!“

In der Folgezeit wird das Leben in dem idyllischen Dörfchen gegenüber dem Überleben in dem Moloch London, der City, gepriesen. Der Held findet Gefallen an den knorrigen Einwohnern: an den urigen Kneipenwirten, den wettergegerbten Fischern, an der hellstimmigen und attraktiven schwarzen Krankenschwester (die am Ende als eine Art Liebesjoker ins Spiel kommt), an der verschroben-liebenswerten Autorin von Liebesromanen, an dem whiskeyliebenden Doktor, bei dem er unterkommt und selbst an dem mürrischen anglikanischen Pastor. Vor allem aber an dessen hübsche jungen Frau Polly, die er begehrt, aber nicht bekommt. Der Held ist jedenfalls ein junges, ausnehmend kluges und schönes Mannsbild und alle Damen des Ortes fliegen irgendwie auf ihn. Wie sonst kaum im richtigen Leben ergreifen die Frauen hier immer die entsprechende Initiative: zu den traditionellen Rollen gehören traditionelle Männerphantasien des Autors und seines Publikums, dass er nicht enttäuschen will. Auf dem Land aber wird ansonsten so geliebt, wie bei König Artus: schmachtend. Das gehört zur angestrebten Erneuerung der Welt. Wilde Sexszenen spielen dagegen nur im verruchten London. Denn nicht weniger hölzern und vorhersehbar fällt die Schilderung der urbanen Gegenwelt aus: das Londoner Leben in der City, mit aufreizenden Mitbrokerinnen in „Bleistiftröcken“ (ein schönes Wort), die – wie könnte es anders sein – den schönen und unschuldigen Jungen verführen, der wie in Charles Dickens Roman Große Erwartungen (Great Expectations, 1860-61) nicht weiß, wie ihm geschieht. Es gibt in der städtischen Welt zwar auch profitgierige Banker, diese stellen sich dann in Parallelaktion zum Wal ebenfalls als gar nicht so böse heraus, sondern als patriarchal und fürsorglich. So erweist sich Lew Kaufmann, der Chef der größten Firma, als eine Art jüdischer Weltweiser, der die kabbalistischen Seiten des Kapitalismus und des Egoismus entsprechend altruistisch zu deuten weiß. Benjamin Disraeli und erneut Charles Dickens grüßen als gleichsam blinde Referenzen von ferne.

Wenn die tödliche Grippewelle die Welt erfasst (Corona, ik hör Dir trapsen) und noch dazu Erdöl und Gas knapp werden (Ukraine-Krieg, Dir hör ik ooch) wird der Rest der Welt an den Abgrund gebracht. Der kleine Ort am Ende der Welt aber kommt durch, weil er sich isoliert. Vor allem aber, weil der gute Joe sein durch Spekulation an sich gebrachtes Geld dazu verwendet, um in der Kirche ein Lebensmittellager anzulegen. Aus diesem bedient sich das Dorf als Ergänzung zum Fischfang und schweißt sich in der Not zu einer verschworenen Gemeinschaft zusammen. Aus dem Egoismus des Einzelnen entsteht wieder eine soziale Welt der Gemeinschaftsessen und der gegenseitigen Fürsorge. Das honoriert schließlich auch die durch eine bio-biblische Brille à la „Die biologische Weisheit in den Zehn Geboten“ betrachtete Natur. Als nach ein paar Monaten diese Vorräte zu Ende gehen und dem kleinen Dorf die Hungersnot droht, kommt das Finale des Buches als deus ex machina: Der schon fast vergessene Wal, der doch den Titel des Romans abgibt und den Thomas Hobbes immerhin mit dem gewalttätigen Staat als Gegenmaßnahme zum gewalttätigen Egoismus identifiziert, wird verwundet. Er begibt sich nun gleichsam als Geschenk erneut an den Strand, um dort zu sterben. Auf diese Weise versorgt er die Dorfbewohner mit genügend Nahrung, sodass sie inzwischen auch ihre Nachbargemeinde, mit der sie in einem Kirchspiel zusammengeschlossen sind und an die sie sich nun wieder erinnern, einladen können. Denn zufällig steht inzwischen gerade Weihnachten vor der Tür. Und so wird ein Festmahl für alle Dorfbewohner der beiden Flecken ausgerichtet. Wie durch ein weiteres Wunder kommt auch der gute alte jüdische Banker mit seiner Familie angesegelt, der die schlimmsten Monate der Krise in Übersee überstanden hatte. Und so endet die Geschichte mit einem großen Weihnachtsessen im kleinen Dorf, bei dem deutsche und englische Weihnachtslieder gesungen werden. Unter der Hand aber ist dem Autor unversehens die Geschichte in den Animismus gekippt, wenn daraus dann ein großes Fest des Todes des Wals statt der Geburt Christi geworden ist. Aber das stört bei den vielen anderen leerlaufenden Bezügen ohnehin keinen großen Geist. Am Ende kommt dem Kritiker daher zu diesem Buch ein umgewandelter Satz von Robert Gernhardt in den Sinn: „Wie ein Wal schwimmt man daher, als ob man selber einer wär!“

Ein geschriebenes Seestück
Was bleibt, ist also eine Geschichte vom Meer. Die in dem Buch verbreiteten Lebensweisheiten sind in der Regel so einfach wie die Umstände des prophetischen Computerprogramms übermäßig kompliziert dargestellt werden: Man muss dem Herz folgen und aufs Land gehen, da findet man Freunde und dann kommt schon alles wieder ins Lot. Die Figuren werden langatmig auserzählt, ohne dabei über ihre stereotypen Eigenschaften hinaus an Profil zu gewinnen. So ist das Wesen dieses Romans weniger literarisch gehalten, sondern gleicht dem etwas aufgespeckten Gerippe eines Drehbuchs für den Film oder eben eine Serie, in der man die wesentlichen Dinge sieht. Das Motiv der vorweggenommenen Coronakrise verliert jedenfalls schnell seinen Reiz. Nach dem Lesen der 500 Seiten hat man zunächst das Gefühl, seine Zeit mit einem Stück aus dem Boulevard herumgebracht zu haben. Besser hätte man noch einmal das Hörspiel Unter dem Milchwald von Dylan Thomas in der Bearbeitung von Erich Fried angehört oder eine einzige Folge der Fernsehserie Doc Martin oder auch von The Ghost and Mrs. Muir (1968-70) angeschaut. Letztere spielt an der Küste von Maine, wo Herman Melville, der Autor von Moby Dick, seinen Roman beginnen lässt, in dessen großen Zitat- und Referenzschatten Ironmonger sich bewegt. Die Serie ist zwar aus Amerika, aber da hätte man wenigstens mal das Meer gesehen.

The sea, the sky and you and I: Nähe und Gefahr
Fünfhundert Seiten sind auch für die Liebhaber des maritimen und litoralen Lebens eine mit Handlung und Dialogen lang zu bespielende Strecke. Doch das auch in der Übersetzung sprachlich eher übersichtlich gehaltenes Buch kann poetische Sätze enthalten, in diesem Fall solche über die Liebe. Hier werden sie von Demelza Trevarik, der Autorin der Liebesromane im Dorf gesprochen:
„Das beste Rezept für wahre Liebe ist viel Zeit in großer Nähe; und ein bisschen Gefahr, der man sich gemeinsam stellt.“
„Nähe und Gefahr.“ Joe lachte. „Ist das das Trevaricks Geheimrezept?“
„Die Gefahr muss nicht unbedingt sein, aber sie ergibt eine bessere Geschichte. Das ist wie das Sandkorn in der Auster, das zur Perle wird.“ Jetzt sah sie ihn ernst an. „Aber ohne die Zeit geht es nicht. Die ist wesentlich. Menschen sind keine Puzzleteile. Wir treffen nicht plötzlich auf jemanden, der unser exaktes Gegenstück ist. Wir müssen unsere Persönlichkeiten und unsere Leben ein bisschen verbiegen, um Platz für den anderen zu machen. Und der muss dasselbe für uns tun. Das passiert nicht auf den ersten Blick. Mach dich nicht darüber lustig, Joe.“
Das ist poetisch, durchaus lebensklug und hier sollte eben auch die Ironie enden.

Artikel online seit 27.07.22
 

John Ironmonger
Der Wal und das Ende
der Welt

Übersetzt von Maria Poets, Tobias Schnettler
Fischer Taschenbücher
13 Euro.
978-3-596-70419-4

 

 


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