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Ein milder Moby Dick in Südengland Von Wolfgang Bock |
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Das Meer und die ewigen Gezeiten in Cornwall
Portwenn und St. Piran als Wiedergänger von Port Isaak Im Film Fisherman's Friends – Vom Kutter in die Charts (GB 2019, nach einer wahren Begebenheit) erkennt der zufällig ebenfalls in Port Isaak (diesmal mit echtem Namen) gestrandete alerte Musikproduzent Danny, ebenfalls aus London, wie schön die lokalen Fischer hier im Kirchenchor ihre Shantys singen. Er verliebt sich in die Dorfschönheit, die zudem das Herz auf dem rechten Fleck hat. Er überzeugt seine skeptischen und zynischen Kollegen, den A-cappella-Chor der Fischer zu managen und heilt dabei auch nebenbei wieder seine eigene wunde urbane Seele. Gerät mit dem globalen Kapitalismus die Zeit wieder einmal aus den Angeln, so ist ein heimatliches Wundenlecken mit Salzwasser angesagt – handelt es sich nun um Fernsehserien, Filme oder entsprechende Romane; die Geschichten sind ohnehin ununterscheidbar. In der unzerstörbaren Dorfgemeinschaft, gebildet aus Charakteren des 19. Jahrhunderts, wie man sie bei Charles Dickens, Jane Austen oder Emily Brontë oder bereits als Typen bei Conan Doyle und Agatha Christie findet, soll der soziale Sinn des gesellschaftlichen Miteinanders wiederentdeckt werden. Im Meer und der Fischerei und in der Schaf- und Rinderzucht ist der vorindustrielle Horizont der Inselnation abgesteckt. Das Meer und das Leben an der Küste geben im Rhythmus der Gezeiten gleichermaßen das Leben und den Tod.
Die böse Krise und der liebe Leviathan
Dänen in London und in Cornwall Der Plot selbst ist schnell zu berichten. Ein junger Londoner Broker mit dem bedeutungsschweren Namen Jonas (!) (Joe) Haak und dänischen Vorfahren wird dafür bezahlt, dass sein von ihm geschriebenes Computerprogramm politische und ökonomische Krisen vorhersagt – und damit den Kursverfall von Aktien. Seine Firma wiederum lebt davon, in Leerverkäufen solche Papiere zu erwerben, kurz bevor sie wieder steigen und den Gewinn anschließend einzustreichen, wenn sie sie teuer wiederveräußern. Als sein Programm einmal eine kapitale globale Krise prophezeit – den weltweiten Einbruch der Erdölförderung und den Ausbruch einer weltweiten Grippeepidemie – und er dazu in eine persönliche Ratlosigkeit gerät, flüchtet dieser moderne Jonas in seinem schicken Daimler aus London. Wie in Trance steigt er an Cornwalls Küste nackt ins Wasser. Am nächsten Morgen wird er erschöpft, aber noch lebendig, an den Strand gespült. Dort finden und retten ihn Spaziergänger. Der Strand gehört zu dem (fiktiven) 300 Seelendorf St. Piran, eine weitere Imago von Port Isaak am Ende der Straße, kurz vor Land’s End. Es stellt sich heraus, dass auch er von einem Wal gerettet worden ist, der ihn an den Strand getragen hat.
Damit ist mild das
biblische Thema des Leviathan In der Folgezeit wird das Leben in dem idyllischen Dörfchen gegenüber dem Überleben in dem Moloch London, der City, gepriesen. Der Held findet Gefallen an den knorrigen Einwohnern: an den urigen Kneipenwirten, den wettergegerbten Fischern, an der hellstimmigen und attraktiven schwarzen Krankenschwester (die am Ende als eine Art Liebesjoker ins Spiel kommt), an der verschroben-liebenswerten Autorin von Liebesromanen, an dem whiskeyliebenden Doktor, bei dem er unterkommt und selbst an dem mürrischen anglikanischen Pastor. Vor allem aber an dessen hübsche jungen Frau Polly, die er begehrt, aber nicht bekommt. Der Held ist jedenfalls ein junges, ausnehmend kluges und schönes Mannsbild und alle Damen des Ortes fliegen irgendwie auf ihn. Wie sonst kaum im richtigen Leben ergreifen die Frauen hier immer die entsprechende Initiative: zu den traditionellen Rollen gehören traditionelle Männerphantasien des Autors und seines Publikums, dass er nicht enttäuschen will. Auf dem Land aber wird ansonsten so geliebt, wie bei König Artus: schmachtend. Das gehört zur angestrebten Erneuerung der Welt. Wilde Sexszenen spielen dagegen nur im verruchten London. Denn nicht weniger hölzern und vorhersehbar fällt die Schilderung der urbanen Gegenwelt aus: das Londoner Leben in der City, mit aufreizenden Mitbrokerinnen in „Bleistiftröcken“ (ein schönes Wort), die – wie könnte es anders sein – den schönen und unschuldigen Jungen verführen, der wie in Charles Dickens Roman Große Erwartungen (Great Expectations, 1860-61) nicht weiß, wie ihm geschieht. Es gibt in der städtischen Welt zwar auch profitgierige Banker, diese stellen sich dann in Parallelaktion zum Wal ebenfalls als gar nicht so böse heraus, sondern als patriarchal und fürsorglich. So erweist sich Lew Kaufmann, der Chef der größten Firma, als eine Art jüdischer Weltweiser, der die kabbalistischen Seiten des Kapitalismus und des Egoismus entsprechend altruistisch zu deuten weiß. Benjamin Disraeli und erneut Charles Dickens grüßen als gleichsam blinde Referenzen von ferne. Wenn die tödliche Grippewelle die Welt erfasst (Corona, ik hör Dir trapsen) und noch dazu Erdöl und Gas knapp werden (Ukraine-Krieg, Dir hör ik ooch) wird der Rest der Welt an den Abgrund gebracht. Der kleine Ort am Ende der Welt aber kommt durch, weil er sich isoliert. Vor allem aber, weil der gute Joe sein durch Spekulation an sich gebrachtes Geld dazu verwendet, um in der Kirche ein Lebensmittellager anzulegen. Aus diesem bedient sich das Dorf als Ergänzung zum Fischfang und schweißt sich in der Not zu einer verschworenen Gemeinschaft zusammen. Aus dem Egoismus des Einzelnen entsteht wieder eine soziale Welt der Gemeinschaftsessen und der gegenseitigen Fürsorge. Das honoriert schließlich auch die durch eine bio-biblische Brille à la „Die biologische Weisheit in den Zehn Geboten“ betrachtete Natur. Als nach ein paar Monaten diese Vorräte zu Ende gehen und dem kleinen Dorf die Hungersnot droht, kommt das Finale des Buches als deus ex machina: Der schon fast vergessene Wal, der doch den Titel des Romans abgibt und den Thomas Hobbes immerhin mit dem gewalttätigen Staat als Gegenmaßnahme zum gewalttätigen Egoismus identifiziert, wird verwundet. Er begibt sich nun gleichsam als Geschenk erneut an den Strand, um dort zu sterben. Auf diese Weise versorgt er die Dorfbewohner mit genügend Nahrung, sodass sie inzwischen auch ihre Nachbargemeinde, mit der sie in einem Kirchspiel zusammengeschlossen sind und an die sie sich nun wieder erinnern, einladen können. Denn zufällig steht inzwischen gerade Weihnachten vor der Tür. Und so wird ein Festmahl für alle Dorfbewohner der beiden Flecken ausgerichtet. Wie durch ein weiteres Wunder kommt auch der gute alte jüdische Banker mit seiner Familie angesegelt, der die schlimmsten Monate der Krise in Übersee überstanden hatte. Und so endet die Geschichte mit einem großen Weihnachtsessen im kleinen Dorf, bei dem deutsche und englische Weihnachtslieder gesungen werden. Unter der Hand aber ist dem Autor unversehens die Geschichte in den Animismus gekippt, wenn daraus dann ein großes Fest des Todes des Wals statt der Geburt Christi geworden ist. Aber das stört bei den vielen anderen leerlaufenden Bezügen ohnehin keinen großen Geist. Am Ende kommt dem Kritiker daher zu diesem Buch ein umgewandelter Satz von Robert Gernhardt in den Sinn: „Wie ein Wal schwimmt man daher, als ob man selber einer wär!“
Ein geschriebenes Seestück
The sea, the sky and you and I: Nähe und Gefahr |
John Ironmonger
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