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Knut Hamsun på Nørholm juli 1939.
Foto: Anders Beer Wilse
Creative Commons Attribution 2.0 Generic






Vagabund der Literatur

Knut Hamsun, seine Wege und Abwege.

Eine Sichtung zu seinem 70 Todestag am 19.02.2022

Von Lothar Struck
 

"Er hat die Lust am Leben verloren" schrieb Marie Hamsun, geborene Andersen, am 22. August 1951 an ihre Tochter Cecilia, die in Dänemark lebte. Wenige Tage später heiß es, dass auch sein Geist sich mehr und mehr verdunkele. Es folgen bisweilen schockierende Beschreibungen eines körperlich verfallenden Menschen. Am 19. Februar 1952, gegen 1 Uhr nachts, stirbt der norwegische Schriftsteller Knut Hamsun im Alter von 92 Jahren in Nørholm bei Grimstad.

Der Rastlose und "Hunger"
Hamsun wurde 1859 als Knud Pedersen im ländlichen Lom, Norwegen, geboren. Sein Vater war Landwirt und Schneider, die Mutter stammte aus einer Bauernfamilie. Der Vater versuchte sich als Siedler auf dem Land. Knut besuchte, wie es heißt, nur 252 Tage die Schule. Mit vierzehn Jahren verließ er das Elternhaus, wurde kurze Zeit ein Kramladenjunge. Aber es hielt ihn nirgends lange, er zog umher, hielt es überall nur kurz aus. 1877 erschien von einem gewissen "Kn. Pedersen" eine kleine Erzählung. Hamsun hatte nicht ohne Erfolg Mäzene für sein Schreiben gesucht und sie aktiv angeschrieben. Dennoch wurde ein Manuskript mit dem Titel "Frida" abgelehnt. Er nahm mehrere Stellungen an, hielt es jedoch nie lange aus. 1882 folgte die erste Amerika-Reise. Wieder zurück erschien 1885 sein erster Artikel in einer Zeitung, wobei der Setzer seinen Namen falsch schrieb und aus "Hamsund", wie er sich damals nannte, "Hamsun" machte. Er blieb dabei.

1886 war er wieder in den Staaten, wurde unter anderem Straßenbahnschaffner in Chicago und Landarbeiter. Er reiste umher, arbeitete und verjubelte das Geld beim Glücksspiel und mit Alkohol. 1888 ist er zurück in Europa, zunächst schwer krank. Er lebt in einem Zimmer mit Dachluke in Kopenhagen. Er ist mittellos, hungert. Und das schreibt er auf. 1888 erscheinen in einer Zeitung Fragmente seines späteren Romans "Hunger" – anonym. Man wird dennoch aufmerksam auf ihn. Zwei Jahre später erscheint "Hunger" als Buch, zuerst publiziert in Dänemark. Dann in Deutschland. Erst danach in Norwegen. Er ist 31. Nein, es sei kein Roman sagt er, sondern "ein Buch". Der Roman ist für ihn ein kontaminierter Begriff.

"Hunger" spielt in Kristiania, dem heutigen Oslo, damals rund 130.000 Einwohner. Hauptfigur ist ein namenlos bleibender Ich-Erzähler, ein wie man heute sagen würde, "freischreibender" Feuilletonist mit sehr geringen Einkünften. Bald hat er nichts mehr, was er verpfänden könnte. Da er nicht mehr die Miete bezahlen kann, verlässt er seine Wohnung und lebt nun auf der Straße, was ihm bisweilen Ärger mit der Polizei einbringt. Betteln kommt für ihn nicht infrage. Manchmal gelingt es ihm, sich ins Gefängnis einsperren zu lassen; dort wird er versorgt. Bisweilen scheinen die durch den übermäßigen Hunger erzeugten Halluzinationen sogar Inspirationen für sein Schreiben zu sein. Er gerät in Schreibräusche, aber rasch danach auch wieder in Skepsis und Zaudern. Manchmal generiert er kleine Einnahmen oder Vorschüsse, die aber den Hunger nur kurz stillen. Die Verzweiflung an der Welt steigt, er sagt sich los von Gott; eine zarte Liebesbeziehung misslingt. Sein mit Hoffnungen verfasstes Theatermanuskript zerreißt er.

Der Leser wird zum Zeugen einer flirrenden, zunehmend verzagten Existenz, von Introspektionen zwischen Selbstekel, Scham, Besinnungslosigkeit, Zorn, Erschöpfung und dann wieder Zuversicht bis hin zur Euphorie geschüttelt. Am Ende bewirbt er sich als Matrose auf einem Schiff und wird genommen. Eine neue Welt als Sehnsuchtsraum – ausgerechnet von Hamsun, der 1889 einen Text mit einem Totalangriff auf die amerikanische Kultur vorgelegt hatte ("Vom Geistesleben des modernen Amerika") und selber zwei Mal desillusioniert zurückgekommen war. Transformierte er sein Scheitern von sich auf die moderne Kultur? Eine Frage, die später aktuell werden wird.

Der Rebell
"Hunger" ist ein Meilenstein der literarischen Moderne in Europa; Inspiration für andere, von James Joyce über Alfred Döblin bis hin zu Samuel Beckett. Das Buch hat auch heute noch, wie man so schön sagt, nichts von seiner Kraft verloren. Für Hamsun war es der Durchbruch; er wurde zu einem gefragten Mann. Er ergriff seine Chance und steigerte sukzessive seine Bekanntheit. Im Oktober 1891 fertigte er in drei Vorträgen über "Norwegische Literatur" die "Großen Vier" der norwegischen Schriftstellerelite, den Literaturnobelpreisträger Bjørnsterne Bjørnson, Jonas Lie, Alexander Kielland und vor allem den weltberühmten Henrik Ibsen ab. Er kritisierte deren politisches Denken, den Naturalismus ihrer Texte. Ibsen kanzelt er als einen Erschaffer von "starren Charakteren" und Stereotypen ab. Er schreibe "Gesellschaftsdichtung" und bediene sich dabei einfacher Psychologie. Er selber verspricht, es besser zu machen, will "Geist und Emotion" festhalten. Die Presse nahm Hamsuns Provokationen gegen die Alten dankbar an; Ibsen blieb, wie es hieß, gelassen.

Hamsuns Produktivität war enorm. In den nächsten 25 Jahren veröffentlichte er zwei Dutzend Bücher: Reiseberichte, Erzählungen, Theaterstücke, Gedichte, Romane – darunter "Mysterien" und "Victoria", zwei Romane, die später in großen Auflagen in Deutschland verkauft wurden. 1909 heiratete Hamsun die Schauspielerin Marie Andersen. Es war seine zweite Ehe; die erste wurde 1906 geschieden. Marie ist 22 Jahre jünger als Knut. Zwischen 1912 und 1917 bekamen sie vier Kinder. Hamsun war rastlos, kaufte und verkaufte nach kurzer Zeit landwirtschaftliche Anwesen, zog sich immer wieder zum Schreiben monatelang zurück, wechselte vom Land in die Stadt, nach Oslo, wo er sogar kurze Zeit einen Psychologen aufsuchte. Die Spannungen zwischen den Ehepartnern wuchsen.

1917 entstand "Segen der Erde", ein Roman, der Hamsuns häufig bearbeitetes Motiv des Siedlers, der seinen Weg in und mit der Natur geht, in biblisch anmutendem Duktus episch ausführt. Der Roman, 1918 bereits ins Deutsche übersetzt, erlangte rasch große Verbreitung. Erzählt wird vordergründig die Besiedlung eines als "Ödland" bezeichneten Landstrichs um das Jahr 1870 durch Isak, der als "stark und derb", mit einem "rostigen" Bart, beschrieben wird. Er hat etwas vom ersten Menschen, ein Urbarmacher, der Moore entwässert, das Land bestellt, sich orientiert am Lauf der Jahreszeiten; ein "unverdrossener Arbeiter", den Naturgewalten trotzend und ihnen Erträge abringend. Rasch bekommt er Hilfe, ein Mädchen, schon etwas älter, vermutlich "nahe an den Dreißigern", aber "üppig und derb". Es ist Inger; sie hat einen Makel, eine Hasenscharte, aber Isak nimmt sie zur Frau. Sie ergänzen sich kongenial.  

Siedleridyll und Kapitalismus-Parabel: "Segen der Erde"
Isak rodet den Wald, betreibt Ackerbau und Viehzucht. Aber er ist auch aufgeschlossen, Neuem gegenüber. Nach einer Trockenperiode experimentiert er mit Kartoffeln, die damals noch exotisch sind. Sie brauchen nicht so viel Wasser. Er baut Ställe und einen Heuboden, vergrößert sein Haus. Bei schlechten Ernten schlägt er Holz, dass er im Dorf gewinnbringend verkaufen kann, weil der Fischfang floriert und solvente Käufer bringt. So sichert er seinen Unterhalt. Inger und Isak bekommen zwei Söhne, Eleseus und Sivert. Das dritte Kind, ein Mädchen, tötet Inger kurz nach der Geburt, weil es, wie sie, eine Hasenscharte hat. Das Geheimnis bleibt nicht zwischen den Eheleuten, aber es dauert Jahre bis es zum Prozess kommt. Inger wird zu einer Gefängnisstrafe von acht Jahren verurteilt. Im Gefängnis bekommt sie Leopoldine (später noch eine Tochter, Rebekka). Ihre Hasenscharte wird operiert; sie lernt Lesen und Schreiben, erlernt das Nähen. Das Gefängnis als Optimierungs- und Bildungseinrichtung – eines der seltsamen Ereignisse in diesem Roman.

Isak lässt sich von den Verführungen der neuen Zeit und des schnellen Geldes nicht blenden. So lehnt er die gut dotierte Stelle des Telegraphenkontrolleurs ab, weil sie ihn im Sommer von den Äckern fernhalten könnte. Als man an einem Landstrich seines Grundstücks ein Kupfervorkommen entdeckt, gibt er das Verhandlungsmandat an Geißler ab, einem ehemaligen Beamten, der sich nun als Geschäftsmann tummelt. Er gibt Isaks Anwesen einen Namen Sellanraaa. Geißler tritt im Laufe des Romans immer wieder wie eine Mischung aus Engel, Philanthrop und Mentor auf. Erzählerisch schaffen Geißlers Auftritte Höhepunkte in einem ansonsten eher gleichförmig verlaufenden Leben. Er sorgt unter anderem dafür sorgt, dass Inger vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen wird und für Isak einen hohen Gewinn am Weiterverkauf der Kupfermine verhandelt. Auch anderen Siedlern, die seinen Vorstellungen eines ehrlichen, fleißigen Landwirtes entsprechen, hilft er.

Langsam nehmen die Siedler im Ödland zu. Und es dauert lange bis dann die Minenarbeiter kommen. Einige Siedler orientieren sich neu und steigen in den Handel ein. Sie wollen den Bedarf der Arbeiter vor Ort (unter ihnen auch Bauarbeiter) decken und machen gute Gewinne. Der Abbau schreitet voran und man stellt einen gewinnbringenderen Teil der Kupfermine fest, die ebenfalls Geißler gehört. Der nennt potentiellen Käufern einen horrenden Preis, der abgelehnt wird. Die Bewohner beschimpfen den abwesenden Besitzer, denn sie hatten sich auf Handel eingestellt. Geißler hält ihre Geschäfte auf, weil die Minenarbeiter wieder abziehen. Er gilt, um mit heutigen Worten zu sprechen, als Investitionshindernis. Manche Siedler hatten ihre landwirtschaftliche Arbeit vernachlässigt und haben nun keine Erträge.

Isak zeigt sich unbeeindruckt, er ist ein Fels in der Brandung. Eleseus zieht in die Stadt. Als er keine Beschäftigung mehr findet, kommt er zurück. Aber das Landleben gefällt ihm nicht. Sein Leben ist, wie der Erzähler am Ende feststellt, "verfahren und verpfuscht". Er verbraucht fast das ganze Geld von Isak aus der Mineneinnahme und wandert schließlich in die USA aus. "Er kam niemals wieder", heißt es lakonisch. Da ist es wieder: Hamsuns Ressentiment.

Als Geißler dann doch den Berg verkaufte hielt er Boom, den die Händler erwartet hatten, nur kurz. Das Material hat nicht die entsprechende Reinheit; der Export nach Südamerika stockt. Einige Siedler müssen verkaufen. Am Ende erscheint Geißler über dem Ödland als eine Art Geist, der im Gespräch mit Sivert den alten, greisen Isak als Sämann beobachtend als "Wiedererstandenen aus der Vorzeit, der in die Zukunft hinausdeutet" idealisiert, ihn mit dem biblischen Alter von 900 Jahren ausstattet. Vorher wird erwähnt, dass Isak durchaus erwägt, auch den Vorgang der Aussaat demnächst mit einer Maschine zu optimieren.

Geißlers predigtartige Rede erscheint als Verklärung des Landlebens. Tatsächlich jedoch ist es eher ein Abgesang, eine Beschwörung des Vergangenen, welches vielleicht angestrebt, aber kaum wieder erreicht werden kann. Geißler zeigt sich in seiner letzten Erscheinung auch selbstkritisch. Allegorisch nennt er sich einen "Nebel": "…ich woge hin und her, zuweilen bin ich der Regen auf einer dürren Stätte […] Mein Sohn ist der Blitz, der eigentlich nichts ist, ein nutzloses Aufleuchten, er kann Handel treiben. Mein Sohn ist der Typus des Menschen unserer Zeit, er glaubt aufrichtig an das, was die Zeit ihn gelehrt hat, was der Jude und der Yankee ihn gelehrt haben; ich jedoch schüttle den Kopf dazu."

Bekenntnisse einer gespaltenen Persönlichkeit, denn mehr als einmal pflegt er sein Image als "Geschäftsmann", während Isaks Landnahme Parallelen zur Geschichte der Besiedlung des amerikanischen Westens zeigt. Dabei bleibt der Erfolg von Geißlers Geschäften unklar. Mal erscheint er mit großem Gefolge und gut gekleidet, dann wieder alleine und alten Anzügen; mal prasst er mit Geld, dann wieder zeigt er sich fast geizig.

Und so deutlich die Kritik im Roman an der aufkommenden Moderne ist – gegen die Mechanisierung sträubt sich Isak keinesfalls. Er ist der erste im Ödland (der Name für diesen Landstrich wird durch Isaks Arbeit längst konterkariert) der eine Mähmaschine einkauft und seinen Maschinenpark auch sonst ständig aufrüstet. Der Handel, der tertiäre Sektor der Wirtschaft, wird als Ausbund eines seelenlosen und naturvergessenen Kapitalismus dargestellt, der die elementaren Tugenden der ehrlichen Agrargesellschaft unterhöhlt. Er erwirtschaftet nichts, sondern "handelt" Produkte des primären (und sekundären) Sektors. Aber es gibt keinen Zweifel daran, dass auch der primäre Sektor nur profitabel sein kann, wenn er Wachstum generiert. Isak muss expandieren, um mit den neuen Siedlern, also auf dem Markt konkurrieren zu können; die sinkenden Preise kompensiert er durch eine größere Produktion. Die Wirtschaft nennt dies "Schweinezyklus"; das Problem wird zwar nur gestreift, ist aber präsent durch Isak ständige Betriebserweiterungen. "Segen der Erde" ist eine einzige, große Parabel auf den sich bis in die kleinsten Winkel der Erde hinein ausbreitenden Kapitalismus.

Ein zweiter Homer?
Nur bei oberflächlicher oder tendenziöser Lektüre kann man diesen Roman als einen Bauernroman lesen, der eine Blut-und-Boden-Ideologie verfechtet, wie dies die Nazis für ihre Propaganda machten. Dies würde bedeuten, diesen Interpretatoren eine literaturkritische Relevanz zuzuschreiben. Tatsächlich ist Thoreaus "Walden" dem sogenannten einfachen Leben bisweilen viel heroisierender und apodiktischer zugeneigt als es Hamsun hier ist. Es ist ein Kniff in "Segen der Erde", die Ambivalenzen am Übergang zwischen Agrargesellschaft und Moderne nebeneinander stehen zu lassen. Dabei sollte "Segen der Erde" ursprünglich mit dem Untertitel "Ein Roman für meine norwegische Gegenwart" erscheinen. Aber damit hätte Hamsun die Leserichtung vorgegeben. Und ob es "seine" Gegenwart war, sich in einem Wachstumswettbewerb zu begeben, erscheint eher fraglich. Freilich gibt es spätere Romane von Hamsun, die ideologisch eindeutiger konnotiert sind als "Segen der Erde".

Neben der Tatsache, dass Hamsuns Frau Marie in den 1930er und 40er Jahren Lesereisen in Nazi-Deutschland mit Ausschnitten aus "Segen der Erde" bestritt, könnte vielleicht auch der deutsche Titel an den voreiligen Zuschreibungen schuld sein, denn von einem "Segen" ist im Originaltitel "Markens Grøde" (es werden zwei Übersetzungen angeboten: "Ernte" und "Feldfrüchte") nicht die Rede. Der Titel ist die Wahl von Pauline Klaiber-Gottschau (1855-1944), einer sehr fleißigen Übersetzerin, u. a. auch von Selma Lagerlöf und August Strindberg. Der Titel hat, anders als beispielsweise bei einigen russischen Romanen, alle bisherigen Übersetzungsversionen überstanden. Zwar ähnelt Geißlers Rede am Ende einer Predigt, aber religiöse Anwandlungen, beispielsweise wenn Inger zeitweise das "Frömmeln" beginnt, werden vom allwissenden Erzähler stets ironisch bespöttelt.

Heutzutage ist es schwer zu verstehen, welche Wirkung dieser Roman auch unter den Schriftstellern seiner Zeit auslöste. Katherine Mansfield, Selma Lagerlöf, Thomas Mann und Stefan Zweig äußerten sich enthusiastisch. Franz Kafka identifizierte sich mit dem verlorenen Sohn Eleseus. Egon Friedell hielt Hamsun für einen zweiten Homer. Nach dem schrecklichen und zermürbenden Weltkrieg, der mittels neuester Technik einen fast endlosen Schrecken erzeugte und Millionen Opfer forderte, nach einem bis dahin unfassbaren Zivilisationszusammenbruch, entstand mit Hamsuns Erzählung vom Siedler Isak und seinem Sellanraa eine Gegenwelt, die nahtlos an die "gute, alte Zeit" (bzw. das, was man dafür hielt) anzuknüpfen schien und die Möglichkeit eines Neuanfangs erschuf.  

Nobelpreis für das Buch
Von der Rezeption der Nazis wussten die Herren des Nobelkomitees 1920 noch nichts. In einer detailreichen und sehr lesenswerten Recherche von Walter Baumgartner kann man die Hintergründe nebst der "ideologischen und ästhetischen Positionen des Nobelkomitees" entdecken. Baumgartners Text, publiziert 1997 von der Universität Siegen, zeigt, wie das Komitee durchaus mit Hamsun und seinen deutschfreundlichen politischen Auslassungen während des Ersten Weltkrieges gehadert haben dürfte. Literarisch lobte man zwar Hamsuns schöne Naturbeschreibungen, entdeckte aber durchaus "beträchtliche Schattenseiten" beim Autor, die sich in dessen "kühne[m] Modernismus" zeige, der "auf einer denkbar gehaltsarmen, oberflächlich glitzernden Romantik" aufbaue.

Schließlich einigte man sich darauf, nicht dem Autor Knut Hamsun mit seinem bereits damals eindrucksvollen Werk den Preis zu geben, sondern die Auszeichnung explizit dem Roman "Segen der Erde" zukommen zu lassen. (Ähnlich verfuhr man, als man rückwirkend Carl Spittelers Buch "Olympischer Frühling" den Nobelpreis für 1919 gab, denn auch Spitteler hatte sich politisch "verdächtig" geäußert, etwa als er die Neutralitätsverletzung Belgiens durch Deutschland 1914 kritisierte.)

Der Nobelpreis hatte Hamsuns Schaffen nicht direkt gestoppt, aber für einige Jahre verlangsamt. Neue Romane wurden von nun an fast zeitgleich in deutscher Sprache veröffentlicht. 1936 endete Hamsuns Romanschaffen. Er war jetzt 77 Jahre alt und auf einem Ohr fast taub. Er zog sich auf sein Anwesen zurück, meldete sich allerdings immer wieder auch zu politischen Themen in Zeitungen zu Wort. Sein Verhalten erinnerte jetzt an das, was er einst an den "Großen Vier" und anderen kritisierte, schreibt Tore Rem 2014 in seinem Buch "Knut Hamsun – Die Reise zu Hitler" (Übersetzung: Daniela Stilzebach). Rems Buch mit zahlreichen Abbildungen gleicht mit seinem Glanzpapier einem Coffee Table Book. Die These des Literaturwissenschaftlers Rem besteht darin, dass Hamsun nicht eine Reise zu Hitler unternommen habe, sondern tatsächlich zwei. Eine, die er "kurze Reise" nennt, sei jene im Juni 1943 gewesen, die zum Treffen mit Hitler auf dem Obersalzberg führte. Die "lange Reise" hingegen sei eine Art Metamorphose vom ästhetisch-ambitionierten Dichterrebellen zum Germanen- und Nazi-Anhänger gewesen.

Hamsuns Reisen: Verirrungen
Ob Hamsuns Hingabe zum deutschen Nationalsozialismus ein schleichender Prozess war, der sich spätestens Ende der 1920er Jahre immer stärker zeigte oder ob seine Germanophilie schon in seinen Texten zum Ersten Weltkrieg darauf hinweisen, bleibt offen. Deutlich hingegen ist Hamsuns schon Ende des 19. Jahrhunderts entwickelter Hass auf "England" (also Großbritannien), der sich in den 1940er-Jahren in eine Obsession steigerte, die selbst für führende Nazis zuweilen befremdlich wirkte. Leider gibt es in Rems Buch wenig Raum, nach den Gründen zu suchen. Liegt es daran, wie er mutmaßt, dass sich englische Lachsfischer in Norwegen einst respektlos aufgeführt haben sollen? Womöglich am Verhalten des British Empire im Zweiten Burenkrieg 1890? Sogar die britische Blockade während der Napoleonischen Kriege Anfang des 19. Jahrhunderts, die zu Hungersnöten in Norwegen führten, erscheinen ihm möglich. Oder war es die fehlende Anerkennung, die Hamsun während seiner Aufenthalte in den USA zuteil wurde?

Man ist geneigt zu unterscheiden zwischen Hamsuns England-Hass und seiner rassistisch konnotierten Deutschland-Liebe. Er sah sich als "Germane", als Teil dieser "Rasse", und das schon seit Jahrzehnten. Schließlich feierte er die Nazis. Zum ersten Mal für alle offensichtlich wurde dies Mitte der 1930er Jahre. Carl von Ossietzky hatte in der "Weltbühne" über die illegale Wiederbewaffnung der Deutschen Reichswehr berichtet und wurde verhaftet. Als führende Intellektuelle in ganz Europa gegen die Inhaftierung protestierten, wurde auch Hamsun angeschrieben, um eine Petition zu zeichnen. Hamsun beließ es nicht dabei, nicht zu unterschreiben. Er veröffentlichte im November 1935 zeitgleich in zwei Zeitungen einen Text, in dem er Partei für Deutschland nahm und dem im KZ sitzenden Ossietzky aufforderte, "ein wenig positiv" zur Sache beizutragen und zu erkennen, dass die Aufrüstung Deutschlands auch in seinem Interesse gewesen sein könnte. Kein Verständnis zeigte Hamsun außerdem für die Versuche, Ossietzky für den Friedensnobelpreis vorzuschlagen.  

Der in Teilen zynische Text stieß fast ausnahmslos auf Unverständnis und Ablehnung. Ein gewisser Willy Brandt, Exilant aus Deutschland, meinte, Hamsun habe sich missbrauchen lassen. Kurt Tucholsky, der Hamsuns Romane verehrte, rückte von ihm ab. Fast tragisch, wie der Hamsun-Enthusiast Ossietzky bis zum Schluss noch Werk und Person getrennt haben soll. Die Romane wollte er für sich erhalten.

Hamsun betätigte sich nun politisch, setzte sich unter anderem dafür ein, dass Grönland den Dänen abgenommen werden und nach Norwegen kommen sollte, schickte hierzu sogar Eingaben unter anderem an den deutschen Außenminister Ribbentrop. Seit vielen Jahren engagierte er sich für den Führer der norwegischen NS-Bewegung, Vidkun Quisling. Ob er Mitglied der Partei war, wird später im Prozess gegen ihn eine gewichtige Rolle spielen; es ist bis heute nicht zweifelsfrei geklärt. Hamsun bestritt nach dem Krieg seine Mitgliedschaft; die Karteikartei von 1940, die dies beweisen sollte, war, so Hansen, gefälscht.  Tore Rem zeigt im Buch einen von Hamsun unterschriebenen Fragebogen vom 15. Januar 1942, der als Anlage zum "Aufnahmeantrag" bezeichnet wird. Ob es zur Aufnahme kam, wie Rem es nahelegt, wird nicht dokumentiert. 

Als die Nazis 1940 Norwegen besetzten, rief Hamsun öffentlich dazu auf, den deutschen Besatzern keinen Widerstand entgegen zu setzen. Für ihn war die Besetzung des Landes durch Hitler-Deutschland das kleinere Übel. Er glaubte, es drohte eine mögliche Übernahme durch die Briten. Er verhöhnte die norwegische Regierung, die ins Exil geflohen war und gleichzeitig zum Widerstand aufrief. Die Jugend sollte lieber mit den Deutschen kooperieren, nicht rebellieren: "Werft die Waffen fort und geht wieder nach Hause." Hamsun wird während der Besatzungszeit rund 30 Artikel für Zeitungen schreiben (die norwegischen Blätter sind naturgemäß gleichgeschaltet); die meisten davon politisch und pro-nazistisch.  Einige davon werden auch in Deutschland veröffentlicht werden.

Trotzdem wandten sich viele von den Nazis verfolgte Norweger hilfesuchend an Hamsun und an seine Frau. Noch galt er als Ikone, als großer Dichterfürst. Das Ehepaar Hamsun versuchte auch, jeder für sich, zu helfen. Der Alte hatte seltener Erfolg als Marie, die bisweilen diplomatisches Geschick zeigte. Am 13. Februar 1943 erschien ein Text von Hamsun in "Aftenpost", den man ihm bis heute nicht verziehen hat. Er bezichtigte zum Tode verurteile Norweger, sie hätten für England gearbeitet und daher die Strafe verdient. Es ist der kalte, herrische Ton, der bis heute verstört (auch wenn die 13 Personen, die Hamsun im Text erwähnt, später begnadigt wurden), die Gewissheit der Unfehlbarkeit.

1943 war das Jahr, in dem Knut Hamsun, mit 83 Jahren binnen weniger Wochen zwei Mal nach Deutschland reiste. Im Mai besuchte er zusammen mit Marie den Propagandaminister Joseph Goebbels, der den Dichter eingeladen hatte. Goebbels war ein glühender Anhänger von Hamsuns Romanen, veranlasste Verfilmungen seiner Romane "Pan" und Victoria". Rem beschreibt das Treffen als Zusammenkunft von zwei Männern, die sich gegenseitig verehren. Seine Hauptquelle sind die Tagebücher von Goebbels, was womöglich ein bisschen schlicht sein könnte, da Goebbels zu Übertreibungen und Auslassungen neigte, sofern die Realität nicht seinen Erwartungen entsprach.

Gesucht wird das Motiv, warum Hamsun die für ihn strapaziöse Reise antrat. Galt es die fragile, unter psychischen Störungen leidende Tochter Ellinor, mit einem deutschen Nazi verheiratet war und im deutschen Film reüssieren wollte, zu unterstützen? Oder gab es eine strategische Idee von Hamsun, wie es der dänische Schriftsteller und Journalist Thorkild Hansen (1927–1989) in seinem Buch "Der Hamsun Prozess" 1978 (deutsche Übersetzung von U. Leippe und M. Wesemann) suggeriert?

Hansen legt den Schluss nahe, dass Hamsun Goebbels umschmeichelte, um ein Treffen mit Hitler zu bekommen. Es ging Hamsun um Josef Terboven, dem "Reichskommissar" Hitlers in Norwegen, mit dem Hamsun Schwierigkeiten hatte. Sein hartes Durchgreifen, die Folterungen und vielen Todesurteile missfielen ihm. Hamsun wollte Hitler überzeugen, Terboven abzusetzen, durch Quisling zu ersetzen und die Regierung und Verwaltung seines Landes in norwegische Hände zu legen. Er empfand den harten Deutschen als Eindringling. Zudem traute er den Zugeständnissen der Nazis nicht, dass Norwegen mindestens nach dem Krieg wieder souverän werden sollte. Er wollte Quisling, der zwar 1942 Ministerpräsident war, aber praktisch keine Kompetenzen besaß, als Führer für Norwegen.

Als eine Einladung für den Juni 1943 zu einem "Pressekongress" in Wien kam, sagte Hamsun zu. Eine Woche vor der Veranstaltung entschloss er sich, Goebbels seine Nobelpreismedaille und die Urkunde als Geschenk zu schicken. Der erläuternde Brief (genauer: der Entwurf dazu, der erhalten ist), trieft vor Unterwürfigkeit. Warum hat er das gemacht? Sollte das Geschenk an Goebbels der Schlüssel sein, um zu Hitler zu kommen? Rem lässt diesen Gedanken nicht zu. Einen Grund für Hamsuns Zusage für diesen Kongress findet er allerdings auch nicht. Ist es Eitelkeit? Was hat er diesen allesamt nazistischen Schreibern so Wichtiges mitzuteilen? Oder wollte er einfach noch einmal fliegen, denn Rem erklärt ausgiebig, wie angetan Hamsun davon war (auch hier hatte er seine Ansichten radikal verändert). Hamsun flog mit allem Komfort – und ohne Marie. Zunächst nach Berlin, dann, einen Tag später nach Wien. Er macht sich zur Propagandafigur -  und das in voller Überzeugung.

Rem vermutet, dass Goebbels auf die Einladung Hamsuns bei Hitler keinen Einfluss hatte. Die Entscheidung der Nazis fiel unmittelbar nach Hamsuns Rede in Wien, in der er eine gehörige Salve England-Hass abließ ("England muss auf die Knie") , der mit donnerndem Applaus quittiert wurde. Goebbels selber war weder in Wien noch beim Treffen Hamsuns mit Hitler dabei.

Immun gegen Hitlers Magie?
Rem zitiert Quellen, die aussagen, Hamsun habe zunächst ungläubig und dann unwirsch auf die Einladung reagiert. Dann jedoch soll er sich mit Herman Harris Aall, der Hamsun zugeteilt wurde, auf das Gespräch vorbereitet haben. Aall war Jurist, Mitglied der norwegischen NS-Partei und teilte Hamsuns England-Phobie (er wurde nach dem Krieg zu 15 Jahren Zwangsarbeit verurteilt, wobei die Verbüßung der Strafe mit Rücksicht auf seinen Gesundheitszustand ausgesetzt wurde). Hier soll zum ersten Mal Hamsuns Anliegen artikuliert worden sein.

Wie das Treffen Hamsun/Hitler verlief, ist widersprüchlich dokumentiert. Es gibt ein Protokoll des ursprünglich für dieses Gespräch abgestellten Übersetzers Ernst Züchner, welches Rem als lückenhaft und nicht neutral einstuft. Hansen zitiert hieraus ausführlich in seinem Buch. Später wird Hamsuns Reisebegleiter Holmboe, den der Dichter kurz vor der Zusammenkunft zum Übersetzer bestimmt hatte (was ungewöhnlich war), teilweise andere Aussagen treffen als Züchner. Rem macht nun das, was er Hansen in anderen Dingen vorwirft: Er pickt sich die ihm passenden Aussagen der beiden Zeugen heraus, verwirft die ihm unpassenden Bemerkungen und garniert alles mit Marie Hansens nachträglichen Deutungen, die allerdings – vermutlich zu recht - mehr als einmal als Propaganda abgetan werden.

Fest steht, dass die Unterredung zwischen Hamsun und Hitler rund 45 Minuten dauerte und Hitler danach den Dichter einigermaßen wutentbrannt verließ. Hamsun beschränkte sich nicht auf Honneurs, sondern sprach offensiv seine Bedenken gegen Terboven an und drängte auf Zusagen, dass Norwegen möglichst schnell wieder souverän werden sollte. Als Hitler zu einem Monolog ansetzen wollte, unterbrach Hamsun ihn. Das war der "Führer" nicht gewohnt. Einige direkte Erwiderungen Hamsuns wurden zudem von Holmboe, der zwischenzeitlich wie ein Vermittler auftrat, nicht übersetzt. Hinzu kam die latente Schwerhörigkeit von Hamsun, der einige der Übersetzungen nicht oder nur teilweise verstand. Der alte Mann stand am Ende mit leeren Händen da, war gescheitert, soll anschließend sogar geweint haben, während der "Führer" tobend den Raum verließ. "Der Zauberkünstler der Literatur war offenbar immun gegen Hitlers 'Magie'", so konstatiert selbst Tore Rem leicht anerkennend.

Hamsun hatte später offiziell immer positiv von dem Treffen berichtet. Allerdings gibt es auch andere Quellen, in denen er auf Hitler geschimpft haben soll. Aber wie unverbrüchlich Hamsuns Sympathie war, sollte die norwegische Öffentlichkeit am 7. Mai 1945 mit Hamsuns berühmt-berüchtigtem Nachruf auf Hitler feststellen. Es sind tatsächlich nur vier Sätze; vier verstörende Sätze. Es ist ein ungeheuerlicher Text, der das Fass zum Überlaufen brachte. Knut Hamsun wurde am 14. Juni 1945 festgenommen. Er ist, so will man es, ein Landesverräter.

Der Landesverräter
Es begann eine Odyssee – vom Altenheim über die Psychiatrie bis zum Hausarrest. Hier beginnt praktisch erst Hansens Buch. Punkt für Punkt listet er die Maßnahmen des norwegischen Staates gegen Knut Hamsun auf. Er recherchierte hierfür bis dahin teilweise verschollen geglaubte Dokumente. Auch die Briefe von Marie Hamsun an ihre Tochter Cecilia, mit denen dieser Text beginnt, sind in seinem Buch abgedruckt.

Hansens Buch ist in deutscher Sprache nur noch antiquarisch lieferbar. Es wurde seinerzeit in Norwegen kontrovers diskutiert; man unterstellte Hansen eine zu nachsichtige Beschreibung der Vorgänge. "Der Hamsun Prozess" bildete die Grundlage für den Film "Hamsun" des norwegischen Regisseurs Jan Troell, der 1996 mit Max von Sydow in der Titelrolle entstand. Auch Rem attackiert Hansen, wirft ihm Verklärung und Manipulation vor. Er habe wichtige Quellen, die bereits damals vorgelegen haben, ignoriert. Zum Prozess gegen Hamsun schreibt Rem allerdings wenig (es ist auch nicht sein Thema).

Die Strafverfolgung des norwegischen Staates traf die ganze Familie. Hamsuns Söhne wurden verhaftet (beide waren in der norwegischen SS) und Marie verbüßte am Ende eine längere  Gefängnisstrafe, die sich Zwangsarbeit nannte (und musste noch 300.000 Kronen Strafe bezahlen). Knut Hamsuns Arreste und Verhöre haben epische Ausmaße; er wurde von der Polizei verhört, von Ärzten und Psychiatern befragt; immer mit den gleichen Fragen konfrontiert. Dabei wollte er seinen Prozess, seine Position darlegen, warum er so gehandelt hatte, warum er diese Texte publizierte, bestritt nichts. Seine beiden Gehirnblutungen in den 1940er Jahren erwähnte er zwar, ließ sie aber nicht als Entlastung gelten. Seine Texte, so beteuerte er, waren freiwillig. Es war seine Meinung damals. Er wollte seine Strafe, um dann endlich in Ruhe weiterzuleben.

1945 war er 86 Jahre alt. Er hatte lange keinen Rechtsbeistand; man macht mit ihm, was man wollte, hielt sich nicht an Fristen, formulierte eine Anklage mit der Basis eines Gesetzes, dass erst kurz zuvor erlassen worden war. Aus heutiger Sicht waren viele Maßnahmen nicht rechtsstaatlich. Man behelligte ihn auch mit intimen, privaten Fragen, wollte seinen Geisteszustand untersuchen. War er wahnsinnig? Konnte man damit vielleicht den einst verehrten Meisterdichter retten? (Und die eigene Rezeption damit direkt auch.) Was wusste Hamsun von den Verbrechen der Nazis? Hamsun erklärte, vom Ausmaß des Holocaust nichts gewusst zu haben.

Während Hansen Hamsuns Antisemitismus nur an drei kleineren Bemerkungen festmacht, hat Rem ein Konvolut von Belegen für problematische und zweifelhafte Aussagen des Dichters über Juden zu bieten. Er, der lange von jüdischen Mäzenen profitierte, betonte zwar, dass er nichts gegen Juden habe, aber plädierte dafür, dass diese ihr eigenes Land (idealerweise dachte er da an Palästina) besiedelten und dort unter sich leben sollten. Den blindwütigen Antisemitismus seiner Frau Marie (der bis zu ihren Lebensende 1969 anhielt – auch hierzu gibt es Belege) teilte Hamsun zwar nicht, aber in seiner Rassenlehre vom überlegenen Germanentum (Deutschland und die skandinavischen Länder), störten ihn die Juden dann doch. Ob Hamsun vom Holocaust gewusst hat, bleibt unklar. Rem zweifelt dies an. Tatsächlich erscheint es unglaubwürdig, dass Hamsun nichts von der systematischen Entfernung der Juden beispielsweise in Deutschlands Kulturleben mitbekommen haben will. Interessant ist allerdings, dass Hamsuns Antisemitismus und damit seine indirekte Unterstützung des Holocaust durch seine Nazi-Sympathie im Landesverrat-Prozess keine Rolle spielte.

Das Versprechen, welches der behandelnde Arzt an Marie bei deren Verhör gegeben hatte, dass die privaten Aussagen über die Ehe unter Verschluss bleiben, wurde gebrochen. Journalisten erfuhren Details über Hamsuns Sexualleben. Hamsun musste intime Details in der Zeitung lesen. Er wird Marie daraufhin für Jahre verstoßen; sie darf das Anwesen nicht betreten. Sie fügte sich. Erst 1950 kommt es zur "Wiedervereinigung".

Die Untersuchungen zogen sich über Jahre. Dann stand fest: Knut Hamsun war nicht geistesgestört. Man bescheinigte ihm "nachhaltig geschwächte seelische Fähigkeiten". 390 So wird der Befund in Thorkild Hansens Buch beschrieben. Bei Rem steht, man habe Hamsun eine "Zurechnungsfähigkeit minderer Art" attestiert. Es bleibt eine Diskrepanz, die mehr als ein Übersetzungsproblem zu sein scheint.

Endlich, am 16.12.1947, bekam er seinen Prozess, allerdings nicht als Angeklagter, sondern als "Beklagter". Ein juristischer Kniff. Immerhin hat er jetzt endlich Rechtsbeistand. Er hielt eine lange, aufrührende Rede, die im Hansen-Buch dokumentiert wird. Es ging um sein Anwesen, seine Autorenrechte, sein Vermögen. Er soll Entschädigung leisten. Schätzer drangen in sein Anwesen ein, taxierten die Autorenrechte, prüften den Wert des Mobiliars, schätzten sogar den Wert seiner Bibliothek. Es wurde sehr hoch veranschlagt. Hamsun war zwar auf freiem Fuß in Nørholm, aber er konnte nichts machen, nicht einmal die Felder bestellen, weil ihm nichts mehr gehörte.

Die Anwältin konnte nicht verhindern, dass die Strafe einer praktischen Enteignung von Hamsun, seinem Vermögen und seinen Urheberrechten gleichkam. Das Urteil wurde ein Jahr später nur unwesentlich korrigiert. Hamsun wurde zu einer Zahlung von 325.000 Kronen (plus 4% Zinsen p. a.) verurteilt. Rem kommentiert despektierlich, Hamsun sei damit davon gekommen. Wer das Ausmaß dieser Strafe nachvollziehen will, muss freilich Hansen lesen: es bedeutete, dass Hamsun mittellos wurde. Die Summe war von ihm nicht beizubringen. Sein Verleger streckte das Geld an den Staat vor, welches Hamsun nun sozusagen "abarbeiten" musste. Er kam nicht ins Gefängnis, es ging nur ums Geld.

Überwachsene Pfade
Knut Hamsun gab nicht auf. Er sortierte seine Notizen, darunter auch diejenigen, die er kassiberartig herausschmuggeln musste, als ihm selbst das Schreiben nicht erlaubt war. 1949 erschien "Auf überwachsenen Pfaden", in der er die Umstände seiner Verhaftungen und Arreste niederschreibt. Er überwarf sich am Schluss noch mit seinem Verleger, weil er sich weigerte, den Namen des indiskreten Arztes zu tilgen. Hamsun hatte, so glaubte er, nichts mehr zu verlieren. (Den Prozess des Arztes gegen die Namensnennung verlor dieser.)

Das Buch erschien in Norwegen nur in zwei kleinen Auflagen. Es sind eigentlich zwei miteinander verschachtelte Bücher. Zum einen erzählt Hamsun über das, was ihm zugefügt wurde und versucht, sich zu rechtfertigen. "Ich habe niemanden denunziert" steht da. Und: "Was ich schrieb, war richtig". Dann wiederum gibt es fast bukolische Natur- und Stimmungsbeschreibungen; "Gedankenblitze", "Erinnerungssplitter" und "Belanglosigkeiten" (allesamt Formulierungen Hamsuns). Sein Treffen mit Hitler kommt nur indirekt vor, in dem er Goethes Zusammenkunft mit Napoleon erwähnt – wobei, um der Geschichte die Ehre zu geben, es eher eine Audienz war. Goethe sagte wenig und ging, als er verabschiedet wurde.   

Wie immer wirken solche nachträglichen Apologien heikel. Rem meint, Hamsun habe es sich in seiner Verteidigung leicht gemacht. Man erinnert sich an den knapp 30jährigen Hamsun, der den großen institutionalisierten Dichterpersönlichkeiten seines Landes damals vorwarf, sich nicht auf ihr Schreiben zu konzentrieren. In "Hunger" hatte er beschrieben, wie die moderne Stadt, das neue, urbane Leben, Menschen zurücklässt, ihre Gewissheiten und Traditionen nicht mehr zählen. Der Roman machte wenig anderes als der von ihm kurz darauf attackierte Ibsen in seinen Dramen. Aber dessen Stücke erscheinen heute in ihrer schonungslosen Darstellung von Epochenveränderungen aktueller und wahrhaftiger als die reaktionären Beschwörungen Hamsuns.

Er wollte einst  ein "Wanderer sein, ein Vagabund der Literatur" (Rem; auch Hansen findet die Vagabund-Vokabel für Hamsun). Dann, in einem langen Leben, wählte er die gesellschaftliche und politische Autorität. Erklärt dies die emotionale Kälte Hamsuns in seinem Alter? Er hatte ein Ziel, eine Vision, und das konnte, so sah er das, nur mit den Nazis verwirklicht werden. Er verschrieb sich den Barbaren. Aber das wollte er nicht wahrhaben. Es kamen, so weiß Hansen, später nur leise Zweifel. Hamsuns Prophezeiung, man werde in hundert Jahren seine politischen Verstrickungen vergessen haben und nur noch an die Literatur denken, dürften sich nicht erfüllen.

In der zeitgenössischen norwegischen Literatur spielt Hamsun immer noch eine Rolle; man tröstet oder quält sich mit der Trennung von Autor und Werk. Womöglich hat man sich in den letzten Jahrzehnten wieder etwas angenähert – natürlich nicht politisch, sondern literarisch. Die "Großen Fünf" von Knut Hamsun ("Hunger", "Mysterien", "Victoria", "Segen der Erde" und, überraschend, "Auf überwachsenen Pfaden") sind – teilweise neu übersetzt -  in der Backlist des Ullstein-Verlags lieferbar; auch als E-Books. Womöglich ist mit dieser Auswahl das literarische Hauptwerk von Knut Hamsun gut abgebildet.

Für die norwegischen Zeitungen kam der Tod von Knut Hamsun zu spät. Sie machten mit den drei gewonnenen Goldmedaillen für Norwegen bei den Olympischen Spielen in Helsinki auf.


Artikel online seit 17.02.22
 

Zitierte Literatur:

Walter Baumgartner:
'Segen der Erde' im Kampf gegen den 'Bolschewismus der Poesie' -

Knut Hamsun und der Nobelpreis,
Universität Siegen, Lili Heft 107, 1997 – Leider ist die Online-Präsenz nur unzuverlässig erreichbar.

Knut Hamsun
Auf überwachsenen Pfaden dtv, 1. Auflage 1990

Knut Hamsun
Hunger
dtv, 17. Auflage 2007

Knut Hamsun: Segen der Erde, dtv, 6. Auflage 1990

Thorkild Hansen
Der Hamsun Prozess
Albrecht Knaus Verlag 1978, 1.-10. Tausend

Tore Rem
Knut Hamsun
Die Reise zu Hitler

Das Neue Berlin, 2016

 

 


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