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»Positive Erkenntnis«

Michel Houellebecqs
Roman »Vernichten« feiert im Angesicht
des Todes wehmütig die Kraft der Liebe

Von Lothar Struck
 

Vor drei Jahren erschien Michel Houellebecqs Roman "Serotonin". Er handelte, kurz zusammengefasst, von Florent, einem sich als Versager empfindenden Mann von 46 Jahren, der in seiner Midlife-Crisis Stationen seines bisherigen Lebens aufsuchte (hauptsächlich Menschen), um sich am Ende in seine selbsthasserfüllten Dystopien einzurichten. Der Roman – sicherlich einer der schwächeren von Houellebecq – lebt von der bisweilen provokativen Zurschaustellung politisch inkorrekter oder besonders pointiert vorgebrachter Thesen seines Protagonisten, der verzweifelt auf der Suche nach einer Nische, einem Glück in dieser Welt zu sein scheint. Dies wird mit der flapsigen Parolen übertüncht, was für die Garde der meisten Houellebecq-Gegner genügt, um ihr Mütchen zu kühlen. Der fast flehentliche Romantizismus der Hauptfigur, der sich beispielsweise im gemeinsamen Freitod der Eltern zeigt (weil einer von ihnen unheilbar an einem Tumor erkrankt ist), wird dabei leicht überlesen.

Nach dem fulminanten Political-Fiction-Roman "Unterwerfung" fiel "Serotonin" vor allem deshalb ab, weil Houellebecq wieder teilweise in seinen seichten Provokationsstil verfallen war. Der neue Roman "Vernichten" (übersetzt von Stephan Kleiner und Bernhard Wilczek), der wieder einmal Anfang Januar wie eine Art verspätetes Weihnachtsgeschenk in die Literaturblase injiziert wird, hat außer ein paar typische Houellebecqiaden wenig mit dem Vorgänger zu tun.

Es ist der 23. November 2026, als Bastien Doutremont, ein Mitarbeiter des Inlandsgeheimdienstes DGSI über mehrere mysteriöse Videos brütet, die zum Teil den Internet-Verkehr überschwemmen. Eines davon zeigt die Guilletonierung des französischen Finanzministers Bruno Juge derart echt, dass man rätselt, wie diese Qualität erreicht wurde, denn in Wirklichkeit ist dieser quicklebendig. Die anderen Videos zeigen eine Aneinanderreihung geometrischer Symbole und einen Eisenbahntunnel. 

Der Roman beginnt mit einer Täuschung. Denn die Figur Doutrement kommt im weiteren Verlauf des Romans nur dann ins Spiel, wenn es neue Videos gibt, die diesmal reale terroristische Anschläge auf Handelsschiffe oder eine dänische Samenbank zeigen. Der letzte Angriff, der wieder viral geht, ist auf ein Flüchtlingsschiff. Hier sterben 500 Menschen, was zu einer beispiellosen, weltweiten Solidarität führt.

Aber diese Thriller-Elemente kann man getrost vergessen; nicht zuletzt deswegen, weil es der Autor ebenso handhabt. Denn die Geschichte von Satanisten, Nihilisten, Ökofaschisten oder "Anarcho-Primitivisten", die für die Aktionen verantwortlich gemacht werden, wird nicht weitergeführt. Houellebecq ist nicht Dan Brown. Der Leser wird nie erfahren, ob die Theorien des Nerd im schmutzigen Trainingsanzug über den nächsten Anschlag zutreffen. Aber immerhin gibt es schöne Graphiken dazu.

Im Ministerkabinett

Im Zentrum von "Vernichten" steht der 49jährige Beamte Paul Raison. Er arbeitet im Ministerkabinett des Finanzministers, jenem Mann, der virtuell geköpft wurde; ist dessen rechte Hand. Paul ist Absolvent einer Eliteuniversität, aber bezeichnet sich selber nicht als Intellektuellen (was im weiteren Verlauf des Romans deutlich wird). Bruno und Paul duzen sich seit einigen Jahren; die Wege des Kennenlernens und Näherkommens werden ausgiebig erzählt. Die Beziehung mit seinem Chef ist die einer respektvollen Freundschaft. Der Minister ist ein Arbeitstier und dabei überraschend uneitel. (Inwieweit er dem amtierenden Wirtschafts- und Finanzminister Bruno Le Maire nachempfunden ist – einem Freund Houellebecqs – ist eher unwichtig). Die Tatsache, dass er nach dem Video unter besonderem Schutz steht, nutzt er dafür, im Ministerium auch zu wohnen, was ihm entgegenkommt, denn um die Ehe steht es schlecht, was ihn nicht besonders betrübt. Er ist mit dem Ministerium und seinen Akten verheiratet. Seine Beziehung zum fast hymnisch beschriebenen Präsidenten (zeithistorisch betrachtet muss es Macron sein, obwohl der Name nie fällt), der am Ende seiner zweiten Amtszeit steht und demzufolge nicht mehr antreten kann, wird als recht gut bezeichnet.

Auch Pauls Ehe besteht nur noch auf dem Papier. Affären hat er auch nicht, selbst "das Masturbieren hatte er vollständig aufgegeben". Der Konflikt mit seiner Frau Prudence, einer "klassisch bürgerlichen Linken", begann vor zehn Jahren mit ihrem Veganismus, was zu Tumulten vor dem Kühlschrank geführt haben soll. Man machte sich mit allem möglichen das Leben zur Hölle. Bruno und Paul verbindet eine arbeitsbedingte veritable Asexualität, mit der sie sich arrangiert zu haben scheinen und die sogar ein bisschen gepflegt wird.

Paul ist in einer Phase "mürrischen Epikureismus" – er hat sich abgefunden. Politisch passt er sich Brunos "Planwirtschaft nach französischer Art" an. Der Minister ist ein Protektionist und glaubt, den existierenden Handelskrieg zwischen den USA und China für Frankreich nutzen zu können. Die EU wird nicht erwähnt; nur kurz wird die Beziehung zu Deutschland erwähnt, die etwas "eigenartig Sexuelles" habe. Hauptsächlich kümmert sich Bruno um französische Kernkraftwerke. Ansonsten bleibt die politische Programmatik der als Lichtgestalt inszenierten Figur Bruno Juge eher schwammig.

In 2027 muss der bisherige Präsident verfassungsgemäß nach zwei Amtszeiten abdanken. Der Finanzminister ist nicht ganz ambitionslos, aber auch nicht bissig genug. Beim Treffen mit dem Präsidenten wird ihm mitgeteilt, das ein gewisser Benjamin Sarfati der Kandidat der Partei werden soll. Bruno ist sich klar: Der farblose Sarfati, "aus den niedersten Regionen der Fernsehunterhaltung" kommend, soll für fünf Jahre die Position halten, einige Verfassungsänderungen durchboxen, die den Premierminister und das Parlament weiter entmachten und die Position des Präsidenten dafür stärken. Insgesamt soll mehr das amerikanische Präsidialsystem implementiert werden. Danach, so der vermutete Plan, stünde dann der jetzige Präsident für weitere Amtszeiten zur Verfügung. Bruno Juge käme eine Schlüsselrolle dabei zu: Er soll als eine Art Vizepräsidentenkandidat Sarfati im Wahlkampf unterstützen. Schließlich ist Bruno nicht nur beliebter, sondern auch wortgewandter und intelligenter. Paul soll Bruno den Rücken frei halten. Die Belohnung liegt darin, dass Bruno unter Sarfati Minister bleiben könnte.

Familienbande

Zunächst jedoch schwenkt der Roman in die Familie von Paul Raison. Dessen Vater Édouard – eine pensionierter, bis zum Schluss angesehener DGSI-Beamter (zum Alter weiter unten) - erlitt einen Hirnschlag und ist vollständig gelähmt. Die Familie kommt zusammen; man lernt sie nun kennen. Pauls Mutter ist verstorben; Édouard hat eine Lebensgefährtin, Madeleine, 15 Jahre jünger, die ehemalige Haushaltshilfe. Sie kümmert sich aufopferungsvoll um ihren Partner. Als er später in einem speziellen Heim – eine Mischung aus Reha und Pflege – kommt, richtet sie ihm sogar das Zimmer ein und schläft dort. Pauls Schwester Cécile ist eine naivgläubige Katholikin, die im Krankenhaus mit "schamlosen" Gebeten die Heilung unterstützt. Paul ist fasziniert und abgestoßen zugleich von der Selbstsicherheit ihres Glaubens. Ihr Mann Hervé ist ein arbeitsloser Notar; die Kanzlei, bei der er angestellt war, meldete Konkurs an. Beide sind, was Paul zwar betrübt aber in Anbetracht ihrer Lebenssituation nicht ganz abwegig erscheint, sicherlich Wähler des "Rassemblement National" (RN).

Zum zeitweiligen Treffpunkt der Familie wird das Anwesen des Vaters, Saint-Joseph in der Nähe des kleinen Ortes Belleville-en-Beaujolais, bei Mâcon. Das Anwesen gibt es sogar als Zeichnung im Buch. Die Familie findet hier wieder zusammen; die Schilderungen lassen Nachsommer-Assoziationen aufkommen. Weihnachten und Silvester verbringt die Familie dort. Selbst als später der jüngste Sohn Aurélian – ein von Staatsaufträgen abhängiger Kunsthistoriker - mit der linksaktivistischen, "verunglückten" Journalistin Indy dazustösst, ändert sich die Atmosphäre kaum, obwohl Indy sofort dafür plädiert, den Vater zu entmündigen. Der Hass zwischen Aurélian und Indy wird in typischer Houellebecq-Manier mit diebischem Vergnügen und unter Auslassung jeglicher politischen Korrektheiten inszeniert und endet dramatisch.

Der Vater bleibt zwar bewegungsunfähig, erholt sich jedoch und kann sogar mit Augenzwinkern kommunizieren, was nicht zuletzt am Engagement des dortigen Leiters und dem engagierten Personal liegt. Aber bei Houellebecq ist das Glück nie dauerhaft. Durch eine Intrige wird das Heim streng ökonomischen Regeln unterworfen und der bisherige Leiter abgesetzt. Die Familie beschließt, sich einer Aktivistenorganisation zu bedienen, die Hervé ausfindig gemacht hatte, um Édouard ohne langwierige Rechtsstreitigkeiten aus dem Heim zu holen. Von nun an wird er in Saint-Joseph von Madeleine betreut.

Im Mittelteil plätschert der Roman vor sich hin. Paul fällt zeitweise in "quälende Schwermut", ist "überwältigt vom vernichtenden Bewusstsein seiner eigenen Nutzlosigkeit" (daher womöglich der Titel für den Roman?), schaut Tierdokumentationen über Vogelspinnen, Ratten und Tapire oder gibt sich seinen (manchmal ad hoc im Text eingestreuten) Tag- und Nachtträumen hin, wobei er bisweilen seinen "Traumgestalter" rügt, der ihm nicht die gewünschten Resultate liefert. Er findet in alten Akten bei seinem Vater Unterlagen, die mit den Anschlägen der Terroristen in Verbindung stehen könnten. Als Prudences Mutter tödlich verunglückt und ihr Vater traumatisiert zurückbleibt, schreitet die Annäherung zwischen den beiden, die sich schon nach dem Schlafanfall von Édouard abzeichnete, weiter voran. Es kommt nach mehr als zehn Jahren wieder zu Zärtlichkeiten und sogar zum Sex. Gleichzeitig kommt Édouard wieder zu Kräften. Aurélian will sich endlich scheiden lassen, beginnt eine Affäre mit Maryse, der Pflegerin, die aus dem Benin stammt und die Édouard einst betreut hatte. Zum ersten Mal in seinem Leben sind beide glücklich. Das Paradies scheint erreicht.

Gleichzeitig laufen die Vorbereitungen für den Wahlkampf auf Hochtouren, Bruno wird von Kommunikationstrainerinnen betreut; es gibt allerlei Lustiges, Bedenkliches und Zynisches. Es geht weniger um Programmatik als um Taktik und Strategie. Im Team beklagt man das Fehlen "leicht betagter moralischer Linker"; ersatzweise werden "vielleicht zwei oder drei Juden" verzweifelt gesucht. Sie sollen als natürliche Gegner des RN Sarfati im zu erwartenden Stichwahlkampf zur Seite stehen.

Indy ist jedoch "im Vollbesitz ihrer schädlichen Kräfte". Sie droht durch die Scheidung ihre Macht über Aurélian zu verlieren und rächt sich nun. In einem Artikel schildert sie die Befreiung Édouards, konstruiert eine katholisch-fundamentalistische Verschwörung dahinter und bringt auch Paul ins Spiel. Der schwache Aurélian gibt sich aufgrund einer Indiskretion die Schuld und erhängt sich. Aus Vorsichtsgründen wird Paul von Bruno für ein Jahr in den einstweiligen Ruhestand versetzt; die Angelegenheit spielt dann im Wahlkampf keine Rolle. Der Ausgang der Wahl ist dann keine Überraschung.  

65 Gray

Und schließlich trifft es auch Paul, der eigentlich zufrieden ist. Die immer wieder eingestreuten Zahnschmerzen lassen aufhorchen, aber es ist kein Buddenbrooks-Ende. Paul hat so etwas wie Mundkrebs, eine bösartige Geschwulst am Kiefer, der auch die Zunge betrifft. Die Diagnose trifft ihn an seinem 50. Geburtstag. Was nun folgt ist eine detaillierte Beschreibung von Pauls Odyssee im Gesundheitssystem Frankreichs unter Berücksichtigung seines privilegierten Status. Es zeigt ein System, in dem für Paul vieles möglich ist, alles auf dem modernsten Stand. Aber die Natur, so die Botschaft, kann man selbst mit diesen Mitteln nicht immer überwinden und wenn es diesen Tumor gibt, dann wird er irgendwann den Betroffenen vernichten (zweiter Versuch der Interpretation des Titels).

Paul entschließt sich gegen eine Operation, weil womöglich die Zunge betroffen sein könnte und Geschmackssinn sowie Sprachfähigkeit dauerhaft leiden könnten. Er bekommt Bestrahlungen (nach 65 Gray ist Schluss) und eine kombinierte Chemo- und Immuntherapie. Irgendwann ist eine OP nicht einmal mehr theoretisch möglich; Morphium wird die Schmerzen mildern. Bis zum Schluss funktionieren "Gehirn und Schwanz" – Paul und Prudence probieren sogar mit einigem Vergnügen neue Beischlaf-Positionen aus. Es ist die letzte menschliche Interaktion, die nicht substituiert werden kann und den Mensch vom Automaten unterscheidet.

Aber es ist nicht nur der reine sexuelle Akt – es ist am Ende die Liebe, die in "Vernichten" eine zentrale Rolle einnimmt. Sex an sich wäre, so die Hypothese, nur triebhaft und ohne Zuneigung und Liebe sinn- und sogar sinnenlos. Houellebecq zeigt dies, er erklärt es nicht. Da ist Madeleine, die sich ihrem Lebensgefährten, der außer mit den Augen und einem sanftem Händedruck keinerlei Zeichen mehr geben kann, mit Hingabe widmet. Sie liebt und dies ohne jede weltliche "Belohnung" oder moralischen Überbau. Umso merkwürdiger, dass der Erzähler ihr den "bürgerlichen Anstand" abspricht, nur weil sie ihrem Erschrecken Ausdruck verleiht, als sie den abgemagerten Paul sieht.

Paul ist sich der Hingabe seiner Frau sicher. Die Jahre des Streits (mal sind es acht, mal zehn) sind nachträglich verlorene Zeit. Es zählt jetzt die Gegenwart. Er würde "mit Prudence allein sein, bis zum Ende, so allein, wie sie es noch nie gewesen waren." Paul mystifiziert dies als "Prüfung", als "Sinn der Ehe". Er habe "seinen Körper in Prudence' Hände gelegt". Die Vermessenheit, die hier anklingt, soll die zu erwartenden Peinlichkeiten, die schließlich im (womöglich qualvollen) Tod münden, kaschieren. "Alleine zu sterben, das ist das Schlimmste von allem", wird dann auch rekapituliert.

Versuchungen und Ungereimtheiten

Das merkwürdige und bisweilen rührende an diesem Roman ist der raunend-wehmütige Unterton, in dem der Erzähler Szenen mit Menschen als vermutliche Abschiede antizipiert. Ständig bemerkt er, dass es vermutlich das letzte Mal gewesen sei, diese oder jene Person getroffen zu haben. Im Herbst besucht Paul – ebenfalls zum letzten Mal - seinen Vater in Saint-Joseph. Schon die Fahrt wird zu einem Erlebnis. Die Landschaft mit ihren Farben bekommt plötzlich bukolische Züge. Houellebecq versucht sich daran, dies zu erzählen, schreibt von der "sanften Brise", die die "Essenz des Lebens" ausmache. Paul bleibt Stunden bei Édouard, aber er "habe sich damit begnügt, ihn schweigend anzusehen". Die Vorsätze, ihm Besonderes zu sagen, verschwimmen im Angesicht dieses Herbsttages. Beide, Vater und Sohn, sind auf ihre Weise zukunftslos. Und damit ist auch die Vergangenheit unwichtig geworden.

Natürlich kann Houellebecq nicht ganz der Versuchung widerstehen, ab und an politisch unkorrekte oder zweifelhafte Provokationen einzubauen. Etwa wenn er über Flüchtlinge spricht, die, so die These, eben nicht die Armen und Perspektivlosen sind, sondern teilweise aus Mittelschichten ihrer Heimatländer stammen, die Hochschulabschlüsse vorweisen können und die Risiken durchaus kalkulieren. Schlimmer die Szene, in der Menschen kurzfristig mit "Kackwürsten" verglichen werden. Mancher Versuch, sich auf philosophischen Gefilden zu bewegen, wird glücklicherweise rasch beendet.

Gravierender sind die zahlreichen unaufgelösten Stellen im Buch. Nicht nur der Politthriller-Strang bleibt offen. Man erfährt auch nichts über das Schicksal von Indy. Die eher magere Ausbeute der Programmatik des Ministers Bruno Juge wurde bereits erwähnt. Insgesamt sind die politischen Ereignisse 2026/27 denen von 2022 ähnlich. Den Zeitsprung braucht er eigentlich nur, um die Handlung jenseits der Tagesaktualität spielen zu lassen. Dafür spricht auch, dass die Covid-Pandemie nicht mit einem Wort erwähnt wird (tröstlich vielleicht, dass sie, wenn man dem Autor Glauben schenken mag, 2026 keine Rolle mehr spielt).

Ärgerlich sind einige Ungereimtheiten. Am gravierendsten treten sie beim Alter von Édouard zu Tage. Zu Beginn wird er als 77jährig bezeichnet, was ein Geburtsdatum von 1949 bedeuten würde. Wenig später wird erzählt, dass Madeleine 50 Jahre alt war, als sie nach dem Tod der Frau vor acht Jahren als Haushaltshilfe bei Édouard begann und 15 Jahre jünger sei. Demnach wäre der Vater jetzt ca. 73 Jahre alt. Schließlich ist er dann auf einmal 1952 geboren. Einen Sinn macht der unzuverlässige Erzähler hier nicht. Am Ende soll es nur ein Spiel sein in Anlehnung an die Kontroverse um Houellebecqs Geburtsjahr?

Von Universitätsabschlüssen und Umbrüchen

Oftmals betont der fast immer an Paul gekoppelte personale Erzähler das Auseinanderklaffen der französischen Gesellschaft. Auch dieses Motiv ist bei Houellebecq nicht neu. 2026 ist man nun entweder Oberschicht oder Unterschicht – die Mittelschicht ist praktisch verschwunden. Die Diskrepanzen sind unüberbrückbar. Der Staat als Identifikation existiert nur noch auf dem Papier. Das Einzige, was noch funktioniere, seien Beziehungen und Netzwerke, so heißt es einmal.

Wichtig ist vor allem, ob man einen universitären Abschluss vorweisen kann und welchen Rang die Hochschule hat. Wer wie Hervé nur einen "normalen" Abschluss vorweisen kann und einfacher Notar wird, droht bei nächster Gelegenheit arbeitslos zu werden. Er wird schließlich Versicherungsvertreter. Cécile, seine Frau, ist selbstständig mit einer Ein-Frau-Catering-Firma und der Willkür blasierter Oberschichtler ausgeliefert. Paul fragt sich einmal, wie sie den Sorbonne-Aufenthalt ihrer Tochter bezahlen kann; die Frage wird später beantwortet werden. Aurélian bleibt mit seinem Kunsthistorikerabschluss auf die Gnade des Staates und dessen Finanzmittel angewiesen; bisweilen muss er für Restaurierungsprojekte die Reisekosten nebst Kost und Logis selber übernehmen. Den Kontrast hierzu bildet die Bewirtung mit Butler im Ministerium von Bruno Juge. Ein bisschen überrascht ist man dann schon, dass man mit Pauls 8000 Euro im Monat zur Oberschicht gehören soll.

Ebenfalls geblieben ist Houellebecqs Obsession vom Niedergang des Westens. Hier flüchtet er sich jedoch oft in kryptischen Allegorien. So erinnert sich Paul an "Matrix" und "Herr der Ringe" und das zwischen beiden Filmen nur zwei Jahre lagen (1999 gegen 2001). "Doch das reichte aus, um den Unterschied zu erklären", so Paul, "damals ging alles noch recht schnell, natürlich viel weniger schnell als in den 1960ern oder selbst in den 1970ern, die Verlangsamung und Stagnation des Westens, der Auftakt zu seiner Vernichtung, vollzog sich schrittweise". Später nimmt Paul die Populärkultur (hier werden die Beatles und Elvis Presley als Ursprung genannt) als "universelle Anerkennungsinstanz" in den Fokus. Überall herrsche das "Prinzip der Dekadenz", welches das "gebildete Publikum" "unter dem Einfluss von Denkern, die aufzuzählen weil zu langwierig wäre", gewonnen hätte. Häufig operiert der Erzähler mit Behauptungen wie etwa der Ausruf, dass die "Ordnung der Welt" sich gerade ändere. Paul erkennt auch einen "anthropologischen Umbruch": Die Alten würden immer weniger geachtet, was er daran festmacht, dass sie immer schneller in entsprechenden Einrichtungen verbracht werden.  

Schließlich reflektiert er über Familie und Ehe, die "beiden verbliebenen Pole, die das Leben der letzten Bewohner des Abendlandes in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts ordneten. Andere Modelle", so rekapituliert er, "waren von Menschen, denen das Verdienst zukam, die Abnutzungserscheinungen der traditionellen Modelle vorauszuahnen, vergeblich in Betracht gezogen worden, ohne dass es ihnen jedoch gelungen wäre, neue zu entwickeln, und deren historische Rolle war daher gänzlich negativ gewesen." Der Zusammenbruch sei "unausweichlich"; Alternativen nicht in Sicht. Konkreter wird er nicht. Aber selbst einer der fähigsten Kieferchirurgen Europas, der sich aufgrund von Brunos Vermittlung seinem Fall annimmt, spricht den Niedergang Frankreichs in einem Nebensatz wie ein Fa(k)tum aus. Immerhin vermag dieser noch für seine Leistung zu garantieren. Aber das überzeugt Paul nicht. Er fügt sich – vielleicht auch in einer gewissen Lebensmüdigkeit - in sein Schicksal, riskiert die Einschränkung der Heilungschancen durch eine Ablehnung der Operation und liest während der Stunden der ambulanten Chemo-Injektionen mit wachsendem Enthusiasmus Arthur Conan Doyle (wie schon Florent in "Serotonin"), später dann Agatha Christie.

Geschichten statt Poesie

Es ist ein Statement, dass aufhorchen lässt: Paul sucht Ablenkung, er will Geschichten, keine Poesie. Und das ist es, was Michel Houellebecq bietet. Auch er ist kein literarischer Erzähler, war es nie. Er ist ein Geschichtenerzähler, Chronist einer Epoche, ein Aufzeiger gesellschaftlicher Entwicklungen - mit dem Hang zur Dystopie. Seine Figuren sind – ob Loser oder Oberschicht – à la longue an der Moderne und ihren Anforderungen gescheitert, was nicht (nur) an ihnen liegt, sondern (auch) an der Gesellschaft, deren hedonistische Imperative er (bzw. die Figuren) nicht befürwortet. Im Gegenteil: Die Personen bei Houellebecq sind gehemmt durch ökonomische und gesellschaftliche Normierungen, die ihrer freien Entwicklung der Persönlichkeit entgegenstehen. Aus dieser Sicht heraus ist Houellebecq links und ausdrücklich kein Reaktionär, wie man immer wieder unterstellt.

Seine Figuren kommen mit der Welt, wie sie sich ihnen zeigt, nicht zurecht, obwohl sie zumeist gut situiert sind. Sie sind jedoch weitgehend unfähig, ihr Leben entsprechend ihren (idealistischen) Vorstellungen zu gestalten, werden daher entweder zynisch oder unglücklich; häufig beides. Nur zufällig geraten sie zu der Möglichkeit einer zufriedenen, vielleicht sogar glücklichen Existenz. Aber im Augenblick des schüchternen Arrangierens mit dem Glück trifft sie immer ein Schicksal, meist eine Krankheit; entweder direkt oder ihre Liebe, die dieses Glück bedeutet. Somit wird ihr Refugium der Menschlichkeit durch das, was man gemeinhin Schicksal nennt, zerstört.

In "Vernichten" übernehmen sowohl Paul wie auch der umtriebige, einmal als Hochbegabter quantifizierte Bruno, Eigenschaften des Autors. Paul nennt gegen Ende Bruno einen Romantiker und erinnert sich an eine Rezitation seines Chefs aus Alfred de Mussets "Rolla":

"Der allzu alten Welt bin ich zu spät geboren.
Vom heiligen Worte wird mein Herz nicht mehr gebannt;
Denn mit der Hoffnung ging uns auch die Furcht verloren,
Seit neuer Sterne Glut den Himmel leer gebrannt."

Die Zeilen dienen sowohl als Beleg für Brunos Geisteshaltung wie auch seine Skepsis in Bezug auf die Gesellschaft in der Zukunft. De Mussets Versepos von 1834 (übersetzt ins Deutsche in den 1880er Jahren von Ludwig Ganghofer) ist eine Moritat über das Leben (und das Ende) von Jakob Rolla, dem Sohn eines Barons "mit ländlichem Verstande". Rolla, der mit 20 Jahren nach Paris kommt, gibt sich dem Laster, Glücksspiel und Alkohol hin ("Nie hat ein Adamssohn im hellen Sonnenschein / Die Weltverächterei so breit zur Schau getragen"). Er taucht ein in eine Gesellschaft, deren Werte aus den Fugen geraten sind. Schließlich nimmt er sich eine 15jährige als Geliebte. Aber er wird nicht glücklich. Der Moritatensänger betrachtet das Paar und stellt verzweifelt fest: "Welch eine Blasphemie! Zwei Engel ohne Liebe!" Im Moment der Reflexion über sein nutzloses Leben nimmt er Gift.

Das ähnelt von Ferne Florent aus "Serotonin", der dem Leser aufgrund seiner Vorbereitungen als Selbstmordkandidat erscheint. Andere Protagonisten aus früheren Houellebecq-Büchern werden entweder irre (Bruno Clément) oder verschreiben sich einer (naturwissenschaftlichen) Ideologie wie Michel Djerzinski – beide aus "Elementarteilchen". Am besten hat es noch der ermüdete Universitätsprofessor François aus "Unterwerfung", der aus ökonomischen (und sexuellen) Erwägungen heraus einen faustischen Pakt mit den verhassten, muslimischen neuen Machthabern einzugehen gedenkt.

In "Vernichten" ist es anders. Aurélian wählt den Freitod, der mehrmals im Buch als "nutzlos" bezeichnet wird, was nicht als zynisch, sondern als Beschreibung dienen soll. Paul wird sterben. Marybe, die christlich orientierte Pflegerin, geht zurück nach Benin. Sie hat keine Aufstiegschancen in der französischen Gesellschaft. Ihre "Perspektive" besteht darin, als Migrantin in muslimisch geprägten Vierteln leben müssen, was sie nicht möchte. Prudence, die Liebende, wird alleine zurückbleiben. Pauls und Prudences Väter sind Untoten nahe, verstummte Monumente des Vergangenen, wobei Édouards Schicksal mit zwei verlorenen Söhnen kompensiert wird durch Madeleines unerschütterliche Liebe.

Houellebecq konstruiert einen Abgesang, einen Prozess einer kontinuierlich fortschreitenden "zivilisatorische Katastrophe". De Mussets Urteil, wer für die verantwortlich ist, ist klar. Es ist nicht der Gesellschaftsutopist Rousseau, sondern der Aufklärer Voltaire. Bruno (und auch Paul) transformieren diesen Gedanken in das 21. Jahrhundert.

Reinkarnation, Nahtoderfahrungen und ein kalter Wind

Manche Kritiker glauben dennoch, eine gewisse Altersmilde bei Houellebecq bemerkt zu haben. Tatsächlich scheinen er bzw. seine Protagonisten ihren Frieden mit Religionen geschlossen zu haben (die Ausnahme bildet der Islam, wie an einigen kleinen Despektierlichkeiten auch in "Vernichten" festzustellen ist). So interessiert er sich für die Ausführungen der frommen Cécile über die Wirkung und den Sinn von Gebeten und bewundert ihre "humanitären Elan". Prudences (nicht vollends unkritische) Orientierung an eine Sekte wird nicht lächerlich gemacht. Eine Passage aus de Mussets "Rolla", der im Buch nicht zitiert wird, rechnet nietzscheanisch mit dem "zerstörerischen Atheismus" (Houellebecq) in diesem Sinne ab:

"Was aber bleibt denn uns, was uns, den Gottesmördern?
Ihr blöden Widder, sprecht – was meint ihr denn zu fördern,
Wenn vom Altare ihr den Nazarener reißt,
Wenn ihr sein blutig Kreuz tief in den Abgrund schmeißt,
In den es polternd stürzt, um nimmer zu erstehen?
Und was dann wollt ihr – sprecht – auf seinem Grabe säen?
Den Menschen hofftet ihr nach eurem Wunsch zu kneten,
Und auch die Welt! Seht doch – nun ist es gegenwärtig!"

Paul beschäftigt sich sogar mit der Reinkarnation, lehnt sie nicht mehr pauschal ab und liest über Nahtoderfahrungen, findet sie "wunderschön und überzeugend". Er macht das, was Camus im Angesicht des Todes als unredlich empfand: Er tröstet sich mit Ausblicken. Aber er weiß es auch gleichzeitig besser.

Wo Bruno de Musset zitiert, ist Paul ergriffen von Sherlock Holmes letztem Dialog mit Watson aus der 1917 entstandenen Erzählung "Seine Abschiedsvorstellung". Auch hier handelt es sich um einen allegorisch interpretierbaren Abgesang von Conan Doyle auf die viktorianische Epoche, die mit einem kalten und bitteren Wind (eine Umschreibung für den Krieg) hereinbrechen wird. Im Roman ist sie übersetzt – hier das englische Original

"'There’s an east wind coming, Watson.'
'I think not, Holmes. It is very warm.'

'Good old Watson! You are the one fixed point in a changing age. There’s an east wind coming all the same, such a wind as never blew on England yet. It will be cold and bitter, Watson, and a good many of us may wither before its blast. But it’s God’s own wind none the less, and a cleaner, better, stronger land will lie in the sunshine when the storm has cleared. Start her up, Watson, for it’s time that we were on our way.'"

Der Sherlock-Holmes-Kosmos ging zwar noch bis 1927 weiter, aber für Paul stellt dieser Dialog die Manifestation einer Zäsur dar, die die letzten hundert Jahre bestimmt und weiter voranschreitet. Was er (und Houellebecq) unterschlägt: Nach diesen Worten will sich Holmes mit Watson auf den Weg machen, um einen Scheck über 500 Pfund einzulösen, bevor dieser eventuell zu verfallen droht. Business ist eben business.

Das Ende des Romans: Paul und Prudence sind Anfang November 2027 im Wald. Dort, am deutschen Romantikort par excellence, wird die versöhnliche Bilanz vorweggenommen: "…sie hatten Glück gehabt, sehr viel Glück". Er gehört zu den Menschen, "die bis zu ihren letzten Tagen geliebt werden". Unter anderen Umständen würde man dies als Kitsch subsumieren.    

Er sei "glücklicherweise gerade zu einer positiven Erkenntnis gelangt" schreibt Houellebecq in seinem Dankeswort, in dem er diverse Mediziner würdigt, die ihm geholfen haben, die Fachbegriffe einzubringen. Und er setzt nach einem Semikolon hinzu: "für mich ist es Zeit aufzuhören". Voreilige Deuter glauben hieraus einen Verzicht auf weitere Romane abzuleiten. Sie sollten abwarten, ob der Scheck, den Houellebecq für den Verkauf seines Buches erhält, ihn ähnlich milde stimmt wie einst Conan Doyle. Der machte nämlich weiter. Zum Glück.

Artikel online seit 15.01.22
 

Michel Houellebecq
Vernichten
Roman
Aus dem Französischen von Stephan Kleiner und Bernd Wilczek
Dumont-Verlag
624 Seiten
28,00 €
978-3-8321-8193-2

 

 


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