Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik

 

Home  Termine   Literatur   Krimi   Biografien, Briefe & Tagebücher   Politik   Geschichte   Philosophie  Impressum & Datenschutz


 










Das Gewissen Österreichs?

In dem Dokumentarfilm
»Elfriede Jelinek« will die Regisseurin Claudia Müller
»Die Sprache von der Leine lassen« und Rowohlt verspricht mit dem Buch
»Angabe der Person« eine »Lebensbilanz« der Nobelpreisträgerin.


Von Lothar Struck
 

Vor wenigen Wochen wurde die österreichische Schriftstellerin und Dramatikerin Elfriede Jelinek 76 Jahre alt. Mit wohltuender Anlasslosigkeit kommt nun ein Film der Berliner Dokumentarfilmerin Claudia Müller mit dem schönen Titel "Elfriede Jelinek – Die Sprache von der Leine lassen" in die Kinos. Müller ist durch ihre Fernseharbeiten u. a. über Jenny Holzer, Katharina Grosse und Hans Neuenfels bekannt geworden. Der Jelinek-Film ist ihre erste Kinoproduktion.

Interessant ist zunächst, dass die weitgehende Abwesenheit von Elfriede Jelinek und ihrem Werk in den Feuilletons nach dem Nobelpreis 2004 in verblüffendem Kontrast zur ihrer Produktivität steht, wie sich am Abspann des Films zeigt. Hier werden seit 2004 insgesamt 26 Werke aufgeführt; davon nur ein Roman ("Neid" – dieser ist frei auf Jelineks Webseite herunterzuladen); die meisten Texte sind Dramen. Die Liste im Abspann wird mit "t.b.c." (= to be continued / wird fortgesetzt) beendet.

Dass man Jelinek kaum noch wahrnimmt, hat zwei Gründe. Zum einen verweigert sie sich fast durchgängig der Öffentlichkeit, was sich vor allem darin zeigt, seit vielen Jahren keine Interviews mehr zu geben. Diese Form der medialen Absenz ist für die Aufmerksamkeitsmaschine des Kulturjournalismus toxisch. Der zweite Grund besteht darin, dass der größte Teil von Jelineks Neuschöpfungen Theaterstücke sind, die zwar publiziert werden, aber über die lokale Inszenierungen hinaus kaum noch rezipiert werden (auch die diversen Theatertreffen ändern daran nichts; das zeitgenössische Theater findet praktisch unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt). Jelinek meldet sich fast ausschließlich auf Ihrer Webpräsenz, über die sie Aktualitäten ohne den Filter durch eine Redaktion kommentiert.[1]

Selbstinszenierung
In ihrem 2014 erschienenen Buch "Der öffentliche Autor – Über die Selbstinszenierung von Schriftstellern" analysierte die Medien- und Literaturwissenschaftlerin Carolin John-Wenndorf schwerpunktmäßig die Selbstdarstellungen von drei (damals) zeitgenössischen Schriftstellern: Günter Grass, Peter Handke – und Elfriede Jelinek. Vor allem die außerliterarischen Bezüge (Interviews, Filme, Verlagsmarketing aber auch die öffentliche Erscheinung wie Kleidung) werden analysiert und mit dem Werk abgeglichen.

Diese Analysen beschränken sich jedoch nicht auf die Auftritte der Autoren, sondern streifen auch die Rückkoppelungen in den Medien. Ziemlich erhellend dabei die Ausführungen über die Methoden der filmischen Gestaltung von Literatur: "Strukturbildend für das Darstellungsformat der Literaturdokumentation ist der biografische Zugang, zu dem das Autoreninterview ebenso zählt wie das Einspielen historischer, eigener und fremder Zitate, die die Darstellung des Autorenlebens ergänzen. Literatur wird lediglich zitiert." Typisch seien "szenische Annäherungen an den Autor; kurze Statements desselben werden unterlegt mit Bildern, die ihn am Schreibtisch oder an charakteristischen Handlungsorten (etwa vor seinem Bücherregal) zeigen." Aus dem Hintergrund gebe es dann, so John-Wenndorf, häufig eine "literaturkritische Besprechung".

Tatsächlich ist diese Beschreibung für sehr viele der vor allem im Fernsehen gezeigten dokumentarischen "Porträts" zutreffend. Für Claudia Müllers Film über Elfriede Jelinek gilt dies jedoch nicht. Das hat vor allem damit zu tun, dass es sich weniger um einen Portraitfilm handelt, als um eine werkgenetische Collage des Oeuvres der "Kunstfigur" Elfriede Jelinek zwischen 1969 und 2008.

Dabei widersprechen die zuweilen in Clip-Ästhetik präsentierten Aufnahmen der Autorin von der Kindheit bis zur unmittelbaren Gegenwart nur scheinbar meiner These. Untermalt werden diese Bilder (allerdings auch Landschafts- bzw. Stadtaufnahmen) mit Lesungen von Jelinek-Texten angefangen vom "Pop-Roman" (Zitat der Autorin) "wir sind lockvögel baby!" über "Die Klavierspielerin", "Die Liebhaberinnen" bis zu den Theaterstücken ab Mitte der 1980er Jahre. Insbesondere im ersten Teil des Films entsteht dabei ein verblüffender Sog, weil die Lesungen von Schauspielern (Ilse Ritter, Sandra Hüller, Stefanie Reinsperger, Sophie Rois, Maren Kroymann und Martin Wuttke) in den meisten Fällen zu neuen ästhetischen Erlebnissen führen. Die sprachspielverliebten, zornigen, mitunter kalauernd-ironischen Jelinek-Wortkaskaden erhalten durch den Duktus beispielsweise eines Martin Wuttke oder einer Sophie Rois eine andere Färbung als durch die eigene Lektüre. Die Befürchtung, dass Literatur "lediglich zitiert" werde, trifft bei Müllers Film nicht zu.

Filmisch beginnt es schwarz-weiß mit Jelineks wuchtigem Selbstbekenntnis als politische Autorin, die sich Wissen und das nötige "Klassenbewusstsein" anzueignen habe und dies halb drohend, halb humorig verspricht. Eine Chronologie hält der Film allerdings nicht immer ein. So folgt nach der Szene als junge politische Autorin die Nobelpreisverkündigung und das fast entschuldigend vorgetragene Bekenntnis, eine "generalisierte Angststörung" zu haben, was die Reise nach Stockholm unmöglich gemacht habe.

Das traktierte Einzelkind
Schließlich wird die Familiengeschichte kursorisch entwickelt. Die Mutter war 43, der Vater 48 bei ihrer Geburt. Im Zentrum die herrische, aber als "steinern" beschriebene Mutter, mit krankhaftem Ehrgeiz, besessen davon, aus dem Einzelkind Elfriede ein musisches Genie zu machen. Sie wurde in ein katholisches Konservatorium geschickt, in dem sie die Kinder der führenden Austrofaschisten und, fast nebenbei, den Kapitalismus kennen lernte, denn die Reichsten wären immer die Dicksten gewesen, so Jelinek ein wenig plakativ. Die Mutter verordnete der Tochter einen 16-Stunden-Tag, so dass sogar die Lehrer auf Mäßigung gedrängt hätten - vergeblich. Der jüdische Vater, der aufgrund seiner "kriegswichtigen" Tatigkeit überlebte, war anti-klerikal und sozialdemokratisch eingestellt. Jelinek erinnert sich, als Kind "KZ-Filme" mit ihm geschaut zu haben. Aber er litt bereits in den 1950er Jahren an psychischen Störungen und verfiel später in eine Art Demenz. Er spielte für das pubertierende Kind keine Rolle mehr; die Mutter dominierte alles. Sie habe sich in die Sprache gerettet, so Jelinek, einer Kunst, die die Mutter nicht "gefördert" habe.

Auch den Weg zur Schriftstellerin lässt Müller Jelinek erzählen, wie es überhaupt im ganzen Film kein ordnendes Wort gibt. Literaturkritische Besprechungen fallen bis auf zwei Ausnahmen aus. Da ist zunächst ein Ausschnitt aus dem "Literarischen Quartett" vom 10 März 1989, in dem, neben den Todesfällen von Thomas Bernhard und Hermann Burger, das Buch "Lust" von Elfriede Jelinek besprochen wird. Der zweiminütige Zusammenschnitt der mehr als 20 minütigen Besprechung ist mindestens verzerrend, weil im Laufe der Diskussion Jelineks Kunst erkannt und gelobt wird (Reich-Ranicki vergleicht dieses Buch als weibliches Pendant zu den Schriften von Henry Miller). Immerhin wird danach sofort eine Stellungnahme Jelineks über den Versuch, mit "Lust" einen "weiblichen Porno" zu schreiben, eincollagiert.

Allerdings erfährt der Zuschauer nicht, um welches Buch es geht. Überhaupt sind alle Zitate aus Jelineks Texten ohne Werksangabe. Später, bei den Dramen von politisch-sozialer Relevanz, wird dies vorübergehend ausgesetzt, weil Ausschnitte aus Inszenierungen gezeigt werden. Neben dem Quartett-Ausschnitt gibt es nur noch ein weiteres literarisch-dramatisches Deutungsstatement. Es ist 45 Sekunden lang und von Claus Peymann über das "Sportstück" in der Inszenierung von Einar Schleef.

"Beginn des Abstiegs"
Deutlich werden die Zäsuren im Werk von Elfriede Jelinek gezeigt. Da ist das Frühwerk mit der Mischung aus Pop, Klassenprosa und Medienkritik. Danach erfolgt die Zeit der Aufarbeitung der Mutter- bzw. Familienpeinigungen. Kurz darauf die ersten Theaterstücke, die sich mit dem Nationalsozialismus und der nicht stattgefundenen Aufarbeitung in Österreich auseinandersetzen. Einschneidend hier das Stück "Burgtheater" von 1985, in dem Jelinek die allseits gefeierten Burgschauspieler Attila Hörbiger und Paula Wessely für ihre Rollen im Propagandafilm "Heimkehr" angriff. Sie habe mit diesem Stück ihren "guten Namen verloren", sagt sie später. Die Reaktionen hätten sie "verbittert"; es war, so ihre Selbsteinschätzung, der "Beginn des Abstiegs" in Österreich. Aber sie lässt nicht locker – eher im Gegenteil. Tagesaktuelle Be- und Verarbeitungen - wie etwa ein Mord an vier Roma ("Stecken, Stab und Stangl", 1996) - wechseln ab mit Aufarbeitungstheater wie "Rechnitz (Der Würgeengel)", der schonungslosen Aufarbeitung eines Massakers an rund 200 Fremdarbeitern wenige Tage vor dem Kriegsende. Passend hierzu werden im Film Zeitzeuginnen gezeigt, die sich in einer Mischung aus Dummheit, Gleichgültigkeit und Frechheit erinnern. Dazu der vermutliche Massakerort heute (die Leichen wurden, wie es in einer Einblendung heißt, nie gefunden) in Kombination mit dem Jelinek-Text.

Eine besondere Würdigung im Film findet das "Sportstück" von 1998; hier werden mehrere Ausschnitte aus der Uraufführung gezeigt. Jelinek kommentiert dies später mit dem Schmerz des Todes Schleefs (2001), der zu "ihrem" Regisseur werden sollte wie einst Peymann Bernhards Kurator auf der Bühne war und charakterisierte sich als "soziale Plastikerin"; als Mahnerin gesellschaftlicher Entwicklungen bzw. Versäumnissen. Dabei ist sie verblüffend ehrlich: Ihr balancieren zwischen Pathos und Trivialität gibt sie zu. Es ist risikoreich, aber gewollt. Dies passt zum früheren Bekenntnis, tendenziös zu schreiben, die Wirklichkeit zu beugen.

Natürlich fallen einem die Parallelen zum 1989 verstorbenen Thomas Bernhard und dessen Österreich-Hass auf. Wer ist/war der größere Übertreibungskünstler; wer hasste Österreich am meisten – Jelinek oder Bernhard? Man könnte auch fragen, wer mehr leidet (bzw. gelitten hat). Bernhards Tod erschütterte die österreichische Kultur- und vor allem die Theaterwelt. Seine Wut hatte insbesondere im Spätwerk etwas additives. Sie machte es dem Rezipienten allzu leicht, in dem man möglichst viele Übertreibungsadjektive aneinander reihte und sich ansonsten dabei prächtig amüsieren konnte. Aber wie passt dies damit zusammen, gleichzeitig Stücke für Bernhard Minetti und Marianne Hoppe zu schreiben, ja: diese Schauspieler zu vergöttern, hatten sie doch bei den Nazis nicht nur mitgemacht, sondern ihre Karriere forciert?

Während man in Bernhards "Heldenplatz" lachen kann, will Jelinek erschüttern, weil sie erschüttert ist. Beide wurden jedoch – wie nicht anders zu erwarten – von der politischen Rechten in Österreich bekämpft and angefeindet. Jelinek kam mit diesen Denunziationen, die im Film deutlich zur Sprache kommen, nicht zurecht. Sie verbot schließlich lange Zeit Inszenierungen ihrer Stücke in Österreich; eine Trotzreaktion, mit der in der Regel das Gegenteil des Gewünschten erreicht wird.

"Strategische Selbstdemontage"?
Noch einmal kommt einem ein Befund von Carolin John-Wenndorf in den Sinn. Sie sieht in den öffentlichen Äußerungen von Elfriede Jelinek eine "strategische Selbstdemontage", die (absichtsvoll) zur "diskursiven Selbstherabsetzung" führe. Womöglich verstärkt sich dieser Effekt noch durch die zunehmenden negativen Rezeptionen ihrer Werke – sowohl in der Politik, "auf der Straße" aber auch in Teilen des Feuilletons. Es ist erstaunlich, dass Jelinek "Die Kinder der Toten" zu ihrem Vermächtnis erklärt. Der 1995 publizierte Roman sei "das eine Buch, dass ich schreiben musste", sagt sie. In Anbetracht der vorherigen Werke mag dies verwundern, aber hier könnte man dann doch die These der Selbstherabsetzung anwenden und diese sogar auf die Figuren in Jelineks Werken anwenden, die von ihr als "Ausgelieferte", nicht agierende, sondern nur reagierende "Zombies" charakterisiert werden, die von einem eigentlich unabwendbaren Schicksal gezeichnet sind. Ist sie, die Autorin E. J., nicht selber ein "Zombie"?

Es ist nicht klar, wann Jelinek diese Aussagen zu ihren Figuren getroffen hatte, weil der Zuschauer auch hier alleine gelassen wird. Aber in der Konzentration der verschiedenen Äußerungen Jelineks denkt man insbesondere durch den zweiten Teil des Films an eine weitere Entwicklungsstufe, an eine Selbstopferung. Wenigstens sie, als Literatin von Weltruf, ist moralische Instanz, Pfahl im Fleisch der (verhassten) Politik, der "verkommenen Presse" (E. J.), der furchtbaren, geldgierigen und notgeilen Bourgeoisie. Sie ist das Gewissen Österreichs – aber nicht als Person, sondern in und mit ihrem Werk, in ihrem Schreiben.

Claudia Müllers Collage ist ohne Zweifel eine Fleißarbeit besonderen Grades. Bis auf "ein neu-aufgezeichnetes Gespräch, das die Regisseurin im Sommer 2021" mit ihr geführt hatte (es dürfte das Statement am Ende des Films sein, als sie erklärt, sich nicht mehr erklären zu wollen) stand ihr nur das Archiv zur Verfügung. Dies wurde sehr gut genutzt. Auf Anekdoten wie auf literaturwissenschaftliche Expertisen wurde (weitgehend) verzichtet. Die Privatperson Elfriede Jelinek (beispielsweise ihr kürzlich verstorbener Ehemann Gottfried Hüngsberg) kommt nicht vor; auch ihre Übersetzungstätigkeiten bleiben unerörtert. Ein potentieller neuer Leser Jelineks könnte zwar durch die besonders gelungene Präsentation der Werkzitate angelockt werden, erhält jedoch durch eine ausbleibende Referenzierung wenig Unterstützung. Die im Abspann genannten Werke könnte man natürlich trotzdem lesen. Der halbwegs im Werk bewanderte Leser findet hingegen wenig Neues; es ist eher ein Wiedererkennungseffekt. (Und leider sind die Interviews von André Müller nicht abgefilmt worden, aber Jelinek verlinkt auf sie.)

"Angabe der Person" – eine Lebensbilanz?
Parallel zum Film veröffentlicht der Rowohlt-Verlag mit "Angabe der Person" ein neues Buch von Elfriede Jelinek. Es trägt keine gängige Genrebezeichnung, wird jedoch als "'Lebensbilanz' der Literatur-Nobelpreisträgerin" beworben – wohl gemerkt: das Wort Lebensbilanz steht in Anführungszeichen. Obwohl es sich auf den ersten Blick um keinen dramatischen Text handelt (und daher nicht im Rowohlt-Theaterverlag erscheint), wird er (vermutlich eher Teile davon) am 16. Dezember 2022 am Deutschen Theater Berlin in der Regie von Jossi Wieler uraufgeführt. Der Webseite kann man entnehmen, dass vier Aufführungen geplant sind; zwei davon mit englischen Untertiteln (was die zunehmende Bedeutung Jelineks im englischen Sprachraum aufzeigt).

Der Aufhänger für "Angabe der Person" ist ein Steuerverfahren gegen eine monologisierende, später mit sich selber im Rollenspiel tretende Ich-Erzählerin, die bisweilen auch den Leser direkt anspricht. Es spielt im Jahr 2020; das "Virus" wird als zusätzlicher "Akteur" zunehmend bedeutender. Auf knapp 180 Seiten erwartet den Leser eine Suada im typischen Jelinek-Duktus mit weit ausholenden, zuweilen manierierten Satzgetümen, die, wenn sie gelungen sind, häufig Ereignisse und Personen, die vordergründig nichts miteinander zu tun haben, in atemberaubenden Volten zu (scheinbaren) Kausalitäten miteinander verknüpfen.

So dauert es nicht lange bis der Leser vom Verfahren wegen Steuerhinterziehung (es handelt sich wohl um eine vermutete Geldwäsche in der Schweiz) auf den Opa geführt wird, "ein Jammerer" wie es heißt, mit "unaufhörliche[m] Geseire, hierhin wollte er nicht, dorthin wollte er nicht, in ein sicheres Drittland wollte er nicht, es hat sich ihm auch keins angeboten, ins KZ wollte er auch nicht, er war halt wählerisch." Bevor es dann mit der Inbrunst des (vermeintlich?) Ertappten(?) heißt: "Die Einkommensteuer hat mehr Kriminelle geschaffen als jedes Gesetz!" Man wartet fast auf den wirtschaftslibertären Spruch "Steuern sind Raub", aber der kommt nicht. Dafür die Erkenntnis "Der Staat ist nicht unser Feind, wir sind seiner", weil die Steuerfahndung darf "alles", und zwar mehr als die Polizei. Zornig ist die Erzählerin über die Spiegelung der Festplatte durch die Behörden: "Sie laden sich meine Festplatte, die eh schon geladen genug ist, auf Ihre kleine tragbare, die beim Anblick meiner Daten gleich zu ächzen und zu stöhnen beginnt, herunter. Bitte nicht das auch noch! Und das auch noch mir! Das ist meine kleine Welt."

Natürlich ist sie ein Opfer, beklagt, dass die wahren und wirklichen Steuerhinterzieher nicht gefasst werden bzw. von der Politik unbehelligt bleiben. Es gibt Schimpfkanonaden auf die Schweiz, aber auch Österreich und Deutschland kommen nicht gut weg; immerhin: ein exklusiver Anlagentipp: Luxemburg unbedingt meiden! Man erfährt einiges über Doppelbesteuerungsabkommen, das Wohnortprinzip und Überbringersparbücher. Und auch sonst merkt man, wie sich die Jelinek mit Steueroasen, Boris Becker, Wirecard, Bierdeckeln, Kashoggi, die FIFA und Karl-Heinz Grasser beschäftigt hat (um nur einiges zu nennen; die Anspielungen sind immens) und das ist manchmal wirklich lustig, etwa wenn es darum geht, den tatsächlichen Wohnsitz von "Steuerflüchtigen" durch den Wasserverbrauch der Toilettenspülung festzustellen.

Sippenschuld
Interessanter allerdings die breit ausgewalzte Stelle über den ehemaligen Reichsjugendführer Baldur von Schirach und dessen Familie, die nach dem Krieg das zunächst enteignete Anwesen am Kochelsee wieder zurückbekam ("die Witwe Henriette also bekam das Grundstück fast geschenkt wieder zurück, für einen Symbolbetrag oder wie man das nennt, weit unter Wert") als Beleg für die These, die Großen laufen zu lassen und die Kleinen zu jagen. Grenzwertig einige Anspielungen auf den "Enkel" (gemeint ist der Anwalt und Schriftsteller Ferdinand von Schirach) und dessen Privileg, als Verwandter des Nazis – im Gegensatz zu so vielen Jelinek-Verwandten, die ermordet wurden – die Möglichkeit zum Leben erhalten zu haben: "Der Baldur von Schirach, um nur einen von ihnen zu nennen, der hatte ganz viel Familie, bis heute. Nachkommen um Nachkommen. Wir nicht." Ein Hauch von Sippenhaft, nein: Sippenschuld; halbgar nur das Bekenntnis: "Also Ihr Opa, für den können Sie nichts…".

Im Film gibt es die Stelle, als Jelinek sagt, dass ihre Zeugung erst nach der Nazi-Zeit möglich gewesen wäre, schließlich war der Vater Jude und "zwangsverpflichtet, für die Deutschen und ihr frisch renoviertes, beinahe leergefegtes Land etwas [zu] erfinden", wie es in "Angabe der Person" heißt. Die Erzählerin spinnt den Faden weiter, überlegt, was geschehen wäre, "[h]ätte das Land länger, als es mußte, auf garantiert rassereinem Nachwuchs bestanden", "[h]ätte das deutsche Land, das damals einfach überall war, noch länger, tausend Jahre mindestens, sich breiter aufgestellt […] als meine Eltern es aushalten konnten, dann gäbe es mich nicht", denn ihre "Rasse ist unrein", sie gehöre nirgends dazu – und irgendwie hat sie das Gefühl, ist dies immer noch so oder wieder oder war nie anders. Nebenbei entdeckt sie die größte Tat der Mutter darin, sich nicht vom Vater getrennt zu haben.

Wenn sich Jelinek also vom jammerhaft-witzelnden Ton der Steuerhinterziehungsprosa verabschiedet und "ihren" Toten zuwendet, bekommt der Text sofort Tiefe und dann stört auch das Pathos nicht. "Die Gesellschaft der Lebenden fürchtet jeden Tag, der Gesellschaft der Toten den Vortritt lassen zu müssen", so eine Sentenz. Die Autorin will selbstverständlich genau das. Sie fürchtet, die Toten würden vergessen und deshalb setzt sie ihnen ein Denkmal, oder, um auch einmal zu kalauern, ein Fanal. Und dies unermüdlich, dickköpfig, bisweilen mit beißendem Sarkasmus, aber stets darauf bedacht, keine Rührseligkeit aufkommen zu lassen. Da erscheinen sie dann, die Verwandten der Jelinek, Ludwig Jelinek etwa, oder der "Ur-Oheim" Herschel Jellinek (mit Doppel-l), Tante Lotte, die "samt Mutter nach Auschwitz ausgeliefert" wurde sowie die Journalisten Walter und Adalbert Felsenburg und dessen Frau Flora - und dann, aber nur dann, vibriert dieser Text und das ist leider viel zu selten.

Der Haß frißt und frißt und frißt
Je weiter es fortschreitet, um so deutlicher wird ein "Good-guy-bad-guy"-Strang des Buches; die Erzählerin spaltet sich auf, füttert ihre diversen Alter egos  mit Sprechblasen, etwa wenn sie von den "Flüchtlingen und Asylanten" schwadroniert, "die sich als Flüchtlinge getarnt haben" und mehr bekommen als die Pensionisten mit ihrem "Euro-Tausender". Das Prinzip ist klar: die Konfrontation mit dem FPÖ- und/oder AfD-Sprech, Widerhaken setzend (aufgelöst wird es nicht), Widerstand provozierend statt Zustimmung erheischend. Und "an mir betätigt sich jetzt freudig der Haß und frißt und frißt und frißt mich auf". Sie bzw. ein Teil von ihr ist "dagegen, und zwar gegen alles […] gegen Menschen im allgemeinen und gegen meine Landsleute im besonderen, gegen andre Landsleute bin ich aber auch, wie Sie sehen".

Wie soll der empfindsame Leser, Hörer, Schauer damit umgehen? Zumal die (fast) letzten Worte Einlassungen der (gespielten? realen?) Resignation sind: "Die Dichter wissen einen Dreck. Und doch weisen sie manchmal über sich hinaus, die Dichter, worauf, das wissen sie nun wieder nicht, denn dort ist dann niemand, der diesen Weg auch wirklich gehen würde und ihnen erzählen, was er gesehen hat."

Da ist sie wieder, die Mischung zwischen Selbstdemontage und Selbstopferung: "Das ist halt leider meine Spezialität: Opfer suchen und, wenn keine vorhanden, dann Opfer sein!, ich will Spezi von Opfern sein, wenn ich nicht das Opfer selbst sein kann! Laßt mich das Opfer auch noch spielen!" Elfriede Jelinek demütigt und opfert sich, damit wir weiterleben können. Sie ist, wie sie einmal schreibt "eine Art Windel für die Welt. Ich lasse nichts durch."

Wir können immerhin sagen, wir haben sie gelesen, wir können behaupten, wir hätten sie verstanden, wir benutzen sie als Ablass, wir stellen die Werke ins Regal oder speichern sie auf der Festplatte. Da werden sie zu Perlchen am Rosenkranz des Gewissens und die Lektüre, die man sich von Fall zu Fall auferlegen muss, zur Buße. Recht so.

[1] Eine Ausnahme war eine Sprachbotschaft an den Journalisten (und Handke-Biografen) Malte Herwig, der Elfriede Jelinek im Rahmen seines Podcasts "JACK – Gier frisst Schönheiten" zu ihrem Engagement zur Freilassung des verurteilten Mörders Jack Unterweger 1990 befragen wollte. Jelinek wünschte sich, dass Herwig aufklären möge, wer tatsächlich den Roman "Fegefeuer" (mit-)geschrieben habe, der als einer Gründe gilt, warum sie damals – wie viele andere Intellektuelle - für eine vorzeitige Freilassung eintrat. Sie habe es satt, immer als Komplizin eines Frauenmörders bezeichnet zu werden. – Unterweger mordete nach seiner Freilassung weiter; er wurde 1992 erneut verhaftet. Die Urheberschaft des Romans konnte bis heute nicht erschöpfend geklärt werden.

Artikel online seit 10.11.22
 

Elfriede Jelinek
Angabe der Person
Rowohlt
192 Seiten 24,00 €
978-3-498-00318-0

Elfriede Jelinek
Die Sprache von der Leine lassen
Regie: Claudia Müller
Darsteller: Mit den Stimmen von Ilse Ritter, Sandra Hüller, Stefanie Reinsperger, Sophie Rois, Maren
Kroymann, Martin Wuttke.
FSK 12
Produktionsland: D / A 2022
farbfilm verleih
Dokumentarfilm

 

 


Glanz & Elend
- Magazin für Literatur und Zeitkritik
Home   Termine   Literatur   Blutige Ernte   Sachbuch   Politik   Geschichte   Philosophie   Zeitkritik    Impressum - Mediadaten