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Erinnerung über schwankendem Grund Esther Kinsky Friaul-Roman »Rombo«
Von Wolfram Schütte |
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Ihre 2018 erschienenen drei italienische Reisen (»Hain«) nannte Esther Kinsky »Geländeroman«. Mit dem von ihr erfundenen literarischen Genre sollte die Dominanz des Geländes (Ort-, Landschaft, Gegend) für das autobiografisch unterfütterte Memorial von »Hain« benannt sein. Bevor sie ihr neues Prosabuch geschrieben hat, ist sie in eine andere Landschaft Italiens gezogen & dort sogar sesshaft geworden: in einen Ort unweit von Udine. Das Friaul zwischen den nördlichen Alpentälern & den Badestränden an der Adria - und zwar 1976! – ist Gegenstand ihres »Rombo«. Der italienische Name meint aber nicht, wie ich annahm, den Steinbutt, sondern das grollende tellurische Geräusch bei einem Erdbeben – eines katastrophalen Erdbebens, das sich im Mai & September 1976 in jenem Teil des Friauls ereignete, in dem die Autorin heute lebt. Das damalige Erdbeben hinterließ an die 1000 Tote, zigtausend Obdachlose zahlreiche unbewohnbar gewordene Häuser, total zerstörte Dörfer & Kleinstädte, manche mit frühmittelalterlichen Sakralbauten (wie z.B. die romanischen Dome von Gemona oder Venzone). Auf »Rombo« träfe Esther Kinskys Terminus »Geländeroman« nun noch triftiger zu als auf »Hain« - wohingegen die Bezeichnung »Roman« weniger treffend scheint: für ein Mixtum compositum, das einen als Leser eher an die offene, mosaikartige Form des Radio-Features mit O-Tönen erinnert, als an eine epische literarische Erzählung, wie variabel & experimentierfreudig das »Roman«- Genre auch seit dem 20. Jahrhundert geworden sein mag. Ohne Zweifel basiert das Buch auf zahlreichen Geländegängen der Autorin in ihrer derzeitigen Lebensgegend, intensiven aktuellen & historischen Recherchen vor Ort, naturwissenschaftlichen Lektüren über die geologischen Untergründe des Geschehenen, Gesprächen mit Betroffenen, die sich unterschiedlich, lückenhaft, widersprüchlich erinnern. Hinzukommen Märchen, Sagen, Legenden der Gegend, wobei die Multilingualität der Übersetzerin Esther Kinsky gewiss hilfreich war, um sich dort schnell heimisch zu machen. Vor allem aber hat die gebürtige Rheinländerin im Friaul als »raunende Beschwörerin des Imperfekts« (Th.Mann) sich sieben Zeitzeugen des Geschehens vor 45 Jahren erfunden. Anselmo, Gigi, Lina, Mara, Olga, Silvia, Toni sind unterschiedlich alte Protagonisten, in deren Lebensgeschichten die Erzählerin vielfältigste Aspekte oft armseligen familialen Lebens in den weltabgeschiedenen Voralpendörfern anekdotisch-novellistisch verdichtete & portionierte: sei´s, dass die Männer als Scherenschleifer monatelang unterwegs waren oder in Deutschland arbeiteten & die Frauen sich um Haus, Ziegen, Schweine & Hühner, demente Eltern & die Kinder kümmerten. »Die Armut hat die Menschen fortgetrieben, die Sehnsucht hat sie wieder zurückgeführt« – wie den in Deutschland verheirateten Arbeiter, der ohne seine Frau mit seinen zwei nur Deutsch sprechenden Kindern heimgekehrt war. Eine andere war in Venezuela auf die Welt gekommen, wo ihr Vater die Tochter von Sizilien-Emigranten kennengelernt hatte. So zitiert Kinsky das große Thema der weltweiten italienischen Armutsemigration des 19. & 20. Jahrhunderts, deren Verwerfungen bis in diese kargen Alpentäler die Entlaufenen zurückspülte, in ihre siebenteilige Evokation der friulanischen Erdbebenkatastrophe hinein. Es sind diese als Originaltöne fingierten Erinnerungen ihrer sieben Zeitzeugen, die über den Schrecken des rumorenden Bebens & den Horror seiner traumatischen Folgen hinaus Esther Kinskys kaleidoskopische Sammlung individueller Momente & existentieller Situationen von Menschen & Tieren farbkräftig & dynamisch gestalten. «Die Erinnerung ist ein Tier, das aus vielen Mäulern brüllt«. (Ob dafür die Zahl 7 von besonderer Bedeutung ist, hat sich mir nicht erschlossen.) Jedoch der Versuch einer geistig- metaphysisch-literarischen Symbiose von tellurischer & menschlicher Welt scheint mir mit »Rombo«nicht gelungen. Kann man die Folge von Beschreibungen fotografischer »Fundstücke« noch als alternative Ergänzung des verbalen Erinnerungsstroms der sieben Helden & Heldinnen ansehen, wirken die Kurzberichte von den chemischen Experimenten des Burgunders Niépce auf dem Weg zur Photographie zu weit hergeholt, um etwa das Thema Erinnerung & Fixierung des Gewesenen am Beispiel des erlebten Erdbebens literarisch-ästhetisch zu entfalten.
Es könnte ja auch sein,
dass im Gedicht eine Poetik mobiler Assoziationen mühelos gelingt, die aber als
prosaische Großform wie in »Rombo« poetisch scheitert & dadurch ihre
kalkulierte Montage-Struktur prätentiös wirkt. Gleichwohl sind die fiktiven
Erinnerungsmonologe & was in ihnen an intensiven Lebensmomenten bäuerlichen
Alltags mit Schweinen, Hühnern & Vögeln aufscheint, von großer sprachlicher
Schönheit. Die Originalität & Stringenz von »Hain« erreicht »Rombo« nicht.
P.S. Kinskys Roman
erinnerte mich nun an meine zufällige Betroffenheit von dem Erdbeben im Friaul.
Mein Freund Peter W. Jansen & ich waren von dem damaligen Hanser-Lektor &
späteren Münchner Kulturdezernenten Jürgen Kolbe & dessen Frau in deren Haus am
südlichen Rand Münchens zum Abendessen eingeladen. Danach saßen wir noch im
milden Abend auf der Terrasse im Garten beim zweiten Grappa. Plötzlich glaubte
ich, einen Schlaganfall zu haben, weil ich auf meinem Gartenstuhlsitz ein wenig
wankte. Da es offenbar allen ähnlich erging, prognostizierten wir ein leichtes
Erdbeben. Darüber beunruhigt, riefen Kolbes bei ihren Eltern an, die sich
derzeit in Norditalien aufhielten. Sie bestätigten unseren Verdacht. Erst zwei
Tage später erfuhren wir Näheres über das katastrophale Geschehen. Jahre später
sind wir zum ersten Mal über die Tauernautobahn zur Mostra del cinema auf dem
Lido gefahren, um uns die Schäden anzusehen. Durch »Rombo« erfuhr ich nun, dass
wir am 6.Mai 1976 abends bei Kolbes waren. |
Esther Kinsky
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