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Zeitlose Chroniken

Johannes V. Jensens tragikomische »Himmerlandsgeschichten« in der
lebendigen Übersetzung von Ulrich Sonnenberg
erschienen im Guggolz Verlag.

Von Lothar Struck
 

Johannes Vilhelm Jensen wurde 1873 als Sohn eines Tierarztes in Farsø im jütländischen Himmerland, Dänemark, geboren. 1894 begann er unter dem Pseudonym Ivar Lykke Spannungsromane zu schreiben, um sein Medizinstudium zu finanzieren. Die ersten Romane unter seinem eigenen Namen begann er 1896 (später wollte er diese, wie es heißt, eher ungeschehen machen). Er gab das Studium schließlich auf, um Schriftsteller zu werden. Das Œuvre des 1950 verstorbenen Autors ist sehr umfangreich, umfasst zahlreiche Romane, Gedichte, Essays, Reportagen und Erzählungen. Seit 1925 wurde Jensen insgesamt 53 Mal für den Literaturnobelpreis vorgeschlagen, den er 1944 erhielt. In der Begründung der Akademie werden Jensens Himmerlandserzählungen als vollendete Bauernmärchen gelobt, die Tragisches und Komisches miteinander verbänden.

Sie schufen die Basis für sein literarisches Schaffen. 1897 veröffentlichte er im Wochenmagazin "Illustreret Tidende" die ersten Erzählungen aus dem Himmerland. Bereits ein Jahr später erschien der Erzählband "Himmerlandsfolk", der zusätzlich noch einige nicht veröffentlichte Erzählungen enthielt. 1904 und 1910 folgten zwei weitere Bände. In weiterer, loser Folge, schrieb Jensen bis in die 1930er Jahre hinein immer wieder vom Himmerland.

In einem späten Text spezifiziert Jensen die Region geographisch: "Himmerland ist der östliche Teil von Jütland, der im Norden und Westen vom Limfjord, im Süden vom Mariagerfjord und im Osten vom Kattegat begrenzt wird; es wird eingerahmt von den Städten Aalborg, Nibe, Logstor, Viborg und Hobro, acht bis zehn Meilen im Quadrat." (Der Leser wird belehrt, dass eine "Meile" hier 7,5 km sind)

Der Berliner Guggolz-Verlag begann vor einigen Jahren, diese Geschichten für ein deutschsprachiges Publikum herauszubringen. Als Übersetzer konnte man den renommierten Ulrich Sonnenberg gewinnen – ein Glücksfall, wie sich während der Lektüre zeigt. 2017 erschien der Band "Himmerlandsvolk" (hier Band I genannt) mit den zwölf ersten Geschichten, die 1897 und 1898 entstanden. 2019 dann die "Himmerlandsgeschichten", Band II, ebenfalls zwölf Texte, zwischen 1901 und 1905 verfasst. Und jetzt liegt mit "Neue Himmerlandsgeschichten" Band III mit achtzehn Erzählungen vor. Sie enthalten sowohl die vom Autor 1910 zusammengefassten Geschichten und anderswo verstreute Texte, darunter auch spätere, aus den 1920er Jahren bis 1932.

Die ersten Geschichten sind noch archaisch und in einem spröden, lakonischem Stil verfasst. Dabei blitzt entgegen ihrer häufig ernsten Thematiken wie Tod, Mord, Wahnsinn, Trunk- und Rachsucht und eine Spur Mystik bisweilen ein feiner, ironischer, dann wieder ein moritatenhafter Unterton hervor. Ende des 19. Jahrhunderts geschrieben, führt Jensen den Leser zurück in die Zeit um 1860/70; in der ersten Erzählung ist sogar noch von Landsknechten die Rede, was das 17. Jahrhundert als erzählte Zeit vermuten lässt, aber die Ausnahme ist.

Das Leben der Bauern mit den kargen Böden ist hart, die Hierarchien deutlich und die Knechte fast rechtlos. Das vorrangige Lebensziel ist die Gründung einer Familie und die Pachtung eines Hofes, den man möglichst rasch schuldenfrei bekommt. Die Verpächter, meist Großbauern, sind nicht nur wirtschaftlich, sondern auch lokalpolitisch dominierend. Viele sind rau, streitsüchtig, nachtragend, spielen und trinken und verlangen von ihrer Frau Unterwerfung. Hinzu kommt das Ausgeliefertsein den klimatischen Verhältnissen gegenüber; eine große Dürre (historisch verbrieft 1868) versetzt die Menschen in ein "Fieber der Hoffnungslosigkeit" (umso herrlicher dann die Erzählung vom fallenden, fast versöhnungsstiftenden Regen). 

Wer sich nicht fügt, muss mit lebenszerstörenden Szenarien rechnen, wie die Geschichte von Poul zeigt, der sich in der Jugend mit "Thomas vom Brückenhof" um Jørgine prügelt. Obwohl Poul die Rauferei verliert (die Dame, um die es ging, heiratet später einen anderen), verfolgt Thomas von nun an Poul, überzieht ihn mit Prozessen, kauft seine Schuldscheine auf und will ihn (und seine Familie) ruinieren. Die Unerbittlichkeit verstört, aber der Erzähler bleibt bis zum Schluß neutral und schildert schließlich den Thomas' Verfall der wilden, rauschhaften letzten Jahre in allen Nuancen. "Und doch war er glücklich, bevor er starb" – so lautet die Bilanz.

Jensen gelingt das Kunststück, dass, obwohl sehr häufig das Ende der Hauptfigur gleich zu Beginn vorweggenommen wird, der Leser die Spannung nicht verliert. In "Dreiunddreissig Jahre" etwa ist von einer alten Frau, der Schmieden-Kirsten, die Rede, die seit zwanzig Jahren auf einem Hof lebt und nach landläufigem Urteil verrückt geworden ist. Als Grund wird angegeben, dass sie "zu viel gesehen" habe. Das Schicksal dieser Frau, der Tod ihres Mannes und der Kinder, wird dann erzählt bis zu dem Punkt als sie "die vielen Jahre in einem Bild vor sich hatte" und zur Idiotin wurde.

Jahre später erzählt diese Kirsten die Geschichte vom Schweiger Mogens, der vor mehr als 50 Jahren Martine, die Tochter der Justs, schändete. Als kurz darauf der Hof der Justs brannte, war das ganze Dorf dabei, dieses Feuer zu löschen und Menschen und Tiere zu retten. In einer abenteuerlichen Aktion finden sie Martine und verschaffen ihr die Möglichkeit, den Flammen zu entkommen. Sie weigert sich jedoch, weil sie die Schändung geheim halten möchte, und die Gemeinschaft findet sich mit ihrem Willen schon ab, als plötzlich Mogens – der der Brandstifter war – auftaucht. Erst jetzt lässt sich die Frau helfen. Sie heiratet ihn, ihren Vergewaltiger, und sie leben vierzig Jahre in Harmonie. Kirsten wird am Ende des zweiten Bands dann noch einmal zum Subjekt einer Erzählung, als sie in einer Nervenheilanstalt in Aalborg stirbt und die Leiche von ihrem Neffen abgeholt werden soll. Dabei geschieht ein Unwetter – für die acht Meilen mit der Kutsche braucht er mehrere Tage. Als er alkoholisiert und ermattet zurückkehrt, trägt das gesamte Dorf die alte Kirsten und mit ihr ein Stück Zeitkolorit zu Grabe. Sie war die Frau, "die am Ende nicht mehr glauben konnte" und die den Verstand verlor, "weil sie sich zu erinnern versuchte, was sie auf Erden sollte".    

Immer wieder gibt es Ereignisse oder Entscheidungen, die die Protagonisten fast anfallartig zum Spielball des Schicksals machen und sie, wie es bisweilen heißt, mit einem Schlag treffen. Dennoch schreibt Jensen keine klassischen Novellen; seine Figuren müssen mit der "unerhörten Begebenheit" zurechtkommen. Wo die Novelle normalerweise aufhört, setzt die Erzählung bei Jensen ein; der Leser folgt begannt und manchmal ein bisschen schaudernd.

Die Bauern sind schweigsam, sie haben, wie es einmal heißt, Vorhängeschlösser vor dem Mund; eine Kommunikation und somit Konfliktbewältigung ist ihnen kaum möglich. Besser als sie kommen die sogenannten "Ahasverus-Gestalten" weg, Figuren, die ein "heimtatloses Wanderleben" führen, wie der "Jäger aus Lindby" etwa, der unverhofft auftaucht, um sich mit Hilfsarbeiten oder Kartenspielen (mit "unredlichen Tricks") ein wenig Geld zu verdienen und dann wieder verschwindet (er taucht wiederholt auf) oder der "schlaksige Vagabund" "Näsel Peter", der, "während die Erde sich drehte […] außerhalb seiner Zeit" stand und "weder einen Kalender noch etwas Ähnliches" kannte. Sie werden wie eine besondere Spezies von Lebenskünstlern vorgestellt. In "Ein Bewohner der Erde" wird vom "Heide-Vogn" erzählt, der sich wie auch immer einst ein karges, aber großes Terrain als Geldanlage gekauft hatte, weil er Banken misstraut. Er lebt dort nun ohne den Boden zu bestellen in einer Art Höhle, "direkt in die Erde gegraben." Salopp formuliert lebt Vogn von Resten, die ihm andere überlassen; seine Spezialität sind Pferdeköpfe, die er ausgräbt und mit Leidenschaft zubereitet. Der Sonderling wird ungeachtet seiner Schroffheit und Rechthaberei respektiert. Kurz vor seinem Tod – den der Erzähler im Gegensatz zur Hauptperson kennt – besorgt sich Vogn bei einem Lehrer Papier. Er will ein Buch schreiben, was merkwürdig ist, weil er zwar lesen kann, aber nicht schreiben. Lapidar wird der Widerspruch aufgelöst: "Das war jedoch unwesentlich" – und der Mann wünschte noch mehr Papier 

Auch "Donnerkalb" (Band II) ist ein Sonderling. Einst ein schöner Mann stürzte er vom Pferd und ist seitdem ein Krüppel, mit unterschiedlich langen Beinen und einem zusammengepressten Oberkörper, so dass seine Arme bis zum Boden reichen und er "vierbeinig" erscheint. Im Anmerkungsteil gibt es ein Foto dieses Mannes, der tatsächlich lebte. Sein Wesen ist gutmütig; er ist ein Dichter, komponiert Gesänge, die er spontan in Stabreinem vorträgt. Er ist "schwer wie ein…Ochse", seine Kräfte sind enorm; daher braucht man ihn manchmal für derbe Arbeiten. Donnerkalbs Kleidung sieht aus wie ein Fell. Man kann ihn mit allem bezahlen. Das Silber versteckt er allerdings. Jensens Schilderung ist liebevoll; nur in seinen Großvater-Erzählungen ist er noch zärtlicher. Mit Donnerkalbs Tod – er lebt lange – stirbt der letzte Mann, der noch den "alten Dialekt" sprach. Seine Verstecke mit dem wertvollen Silber wurden nie gefunden. Diese Geschichte ist voller Allegorien auf eine vergangene Zeit.

Ist die neue Epoche besser? In "Der Goldgräber" ist Lavst Eriksen, ein Rückkehrer nach fast 30 Jahren aus den USA, die Hauptfigur. Er wird neugierig beäugt; irgendwie glaubt man, dass er erfolgreich war. Lavst organisiert rasch den Abbau von Mergel. Skeptisch beäugen die Bewohner die "Lokomobile", eine Dampfmaschine, die den Abbau zu beschleunigt. Kipploren auf Schienen beförderten nun in großer Masse den Mergel, wo vorher Menschen schuften mussten. Aber den neuen Arbeitern "fehlte nicht nur jede Gottesfurcht, es mangelte ihnen auch an Schamgefühl gegenüber all diesen neumodischen Erfindungen", so der Erzähler. Und nach vierzehn Tagen war das "Mergellager" leer. Im Dorf weiß man: "Hätte Lavst Eriksen sich damit begnügt, Mergel nach der alten Methode zu graben, wäre ihm genug Mergel für den Rest seines Lebens geblieben!" Auch der Versuch des Rückkehrers, sich seinem inzwischen 29jährigen Sohn anzunähern, scheitert; die Geschichte endet in einer für Jensen nicht ganz typischen Wendung.  

Kritik an der aufkommenden neuen Zeit, die man heute Moderne nennt, findet sich auch in der Erzählung des Lebens über den umtriebigen, seit frühester Jugend Handel treibenden Drejs, aus dem dann nach einer Verwandlung der schweigende, aber auf seine Art erfolgreiche Sektenführer und Reichstagsabgeordnete Andreas Olufsen wird. Schließlich zeigt sich an ihm, an seiner Vita, ein "Beispiel dieses unersättlichen, ziellosen Wachstums". Bemerkenswert und ungewöhnlich ist hier der sich im Laufe der Geschichte steigernde Sarkasmus des Erzählers, der schließlich in die Verspottung seiner Figur mündet. Jensens Erzählstil ändert sich.

Mit "Jens" wird exemplarisch gezeigt, wie die überkommenen Regeln des bäuerlichen Lebens individuelle Entwicklungen hemmen können. Jens wird "Mechanikus" genannt, denn seit er sich während seines Militärdienstes Physik und Chemie anhand von zwei Büchern praktisch im Selbststudium in die Geheimnisse dieser beiden Wissenschaften eingefunden hatte und seine Erkenntnisse nun überall anwendet, möchte er nach Kopenhagen und studieren. Aber da kommt ihm ein "Fehltritt" mit Ane Sofie dazwischen. Die Familie setzt ihn unter Druck: Entweder Heirat oder Anzeige wegen Vergewaltigung. Er fügt sich, wird anders-glücklich und nimmt dann doch ein tragisches Ende. "Das Leben ist kurz. Die Zeit vergeht." So heißt es kurz vor Ende fast lapidar. Was hätte aus diesem Jens werden können.      

Das Schöne an den Himmerlandserzählungen ist ihre Vielfalt. Manchmal konzentriert sich Jensen in einer kleinen Skizze auf eine skurrile Person oder ein Ereignis. Dann wiederum spannt er einen großen Bogen, erzählt eine Familiengeschichte über Generationen. Selten in den Zeitläuften der Landwirte sind die Abwechslungen, die natürlich gebührend betrachtet werden, wie der Besuch des englischen Zirkus "Wombwell" mit seinem peitschenschwingenden Direktor und den exotischen Tieren. Hier wird die Mischung aus kindlicher Neugier und furchtsamer Zurückhaltung der Einheimischen mit großer Sympathie erzählt. Und dann gibt es die heiteren, schildbürgerhaften Schelmenstücke zum Beispiel mit den Bakhof-Bewohnern als dankbare Opfer; urkomisch die Episode vom "Siebenschläfer" (wobei der Streich auch eine verblüffend gute Seite bekommt – die Familie rückt zusammen).

In Band III gibt es mit "Die Wassermühle" (von 1923, also nicht in Jensens Textsammlung von 1910 zu finden) nur noch eine wirklich tragische Geschichte. In "Der Emigrant" werden einige  Emigrantenschicksale nüchtern gespiegelt. Sie sind hin- und hergerissen zwischen den Welten; manche von ihnen kommen regelmäßig zurück, um dann wieder nach Amerika zu gehen (wie es eine Zeit wohl Jensen selber ging, denn er besuchte mehrmals die USA, 1896 zum ersten Mal, dann 1902/02 und 1905). Erst die nächste Generation, die Dänemark nicht mehr kennt, wird anders. Rührend die Episode, als ein alter Himmerlander in den Staaten geborenen Kindern abgebrannte Streichhölzer schenkt und glaubt, ihnen einen Schatz gegeben zu haben, so wie es bei ihm einst gewesen war.

Ab 1910 gibt es mehrere essayistische Texte über das Himmerland. In "Himmerlands Beschreibung" von 1910 ergründet Jensen mit bisweilen ethnologischem Blick die Temperamente der Bevölkerung und beschreibt die sich verändernden Lebensumstände. Vom Bauern zum Stadtmenschen braucht es drei Generationen. Noch einmal wird das "Gedächtnis der Sippe" und die "eigene Zeit" der Menschen "hier draußen" evoziert. Jensen wird persönlich, erzählt von der Aufgabe des Schriftstellers (er soll die Holzschuhe – das Symbol für die Bauernarbeit - abstreifen) und seinen zahlreichen Reisen. Immer wieder habe er "das verlorene Volk wiedergefunden".

Und so nutzt er seinen fiktiven Ort Graabølle (eine Paraphrase von Farsø, der Geburtsstadt) in der gleichnamigen Erzählung zu einer umfassenden kultur- und zeithistorischen Darstellung über Leben und Auskommen im Himmerland in der Vergangenheit und wagt einen Ausblick. 1910 ist eine "Zeit des Übergangs"; die Bauern haben Fahrräder und die Eisenbahn verbindet die Städte. Zwar ist Jensens Kritik nicht so vehement wie einst von Goethe (der die Eisenbahn als "veloziferisch" verdammte), aber er bemerkt trocken, dass man das Gefühl für Entfernungen verlieren wird (was er, siehe oben, durch seine Überseereisen sicherlich längst selber "verloren" hatte).  

Dort, wo vorher jeder Bauer "Gefangener" auf seinem Hof gewesen und auf den Pachtherrn angewiesen war, entstehe nun innerhalb der Bevölkerung ein "Bürgergeist", eine Gemeinschaft des Miteinanders. Die Winterabende mit ihren "rabenschwarzen Stoff" (der Dunkelheit) gehört der Vergangenheit an, denn jetzt gibt es elektrisches Licht. Jensen erzählt von den Genossenschaftsmolkereien und der Umwandlung der Heidelandschaft in fruchtbares Ackerland. Letzteres wurde zumeist von den randständigen, armen Menschen, die sich keinen Hof leisten konnten, in jahrzehntelanger, harter Arbeit geschafft. Dieses Motiv des Heidebauern wird nicht nur in der gleichnamigen Erzählung hymnisch heraufbeschworen – es findet sich immer wieder in seinen Geschichten, so auch in der herrlichen, epischen Erzählung Jørgine von 1926, dem längsten Text in der Sammlung, der fast schon romanartige Dimensionen besitzt. (Und nein, es ist nicht die Jørgine aus dem ersten Band.)

Jensen beklagt zwar den Verlust der alten Traditionen, aber rückwärts gewandt ist er nicht; der Fortschritt wird insgesamt begrüßt. Und es gibt sie, die Idyllen in den "späten" Himmerlandsgeschichten, aber es sind nie Verklärungen und, weil sparsam eingesetzt, umso wirkmächtiger. Hierzu zählen auch die unverhofft erscheinenden und so großartigen Epopöen über eine altersschwache Kuh und deren Leben, den jütländischen Wind oder die Wucht der Schneestürme. In Jørgine werden als Binnenerzählung ausgiebig die Hochzeitsbräuche ausgeführt. Und dann die beiden Geschichten über den Großvater geschrieben mit großer Ehrfurcht diesem Mann gegenüber, dem Weber und Tuchmacher, dem "sanftesten Mann der Welt" mit "unendliche[r] Herzlichkeit und Wärme", der unter "fünf Königen gelebt hatte. Er zeigt dem Enkel mit großem Enthusiasmus die "Geschenke der Erde", als sie an einem Weizenfeld vorbeigehen. Der schillerndste Augenblick, vielleicht der glücklichste Moment des Lebens, ist die Wiederholung eines Sommertags, einem Tag, "der nicht vergeht, der ewige Sommer, der immer schon da war, ohne sich zu verändern." Er starb 1882 – da war der Enkel Johannes Vilhelm gerade neun Jahre alt.

Nicht nur die Neuübersetzungen sind zu loben, sondern auch die Gestaltung und Editierung. Im Anmerkungsteil werden alle notwendigen Begriffe erläutert, ob es sich um Maßeinheiten oder historische Analogien handelt, die Jensen immer wieder in die Geschichten einbaut. So lernt man auch den Maler Hans Smidh kennen (1839-1917), der in seinen Genrebildern die jütländische Lebenswelt Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts< festgehalten hat. Wer kann, sollte seine Lektüre mit diesen Bildern untermalen.

Ulrich Sonnenberg erläutert seine Bemühung "die untergegangene Welt des Himmerlands heutigen Lesern…erfahrbar" zu machen und dabei die schillernde Sprachkunst des Dichters zu erhalten. Dieser Spagat ist, soweit man dies beurteilen kann, geglückt. Jeder Band ist mit einem kleinen Nachwort versehen, wobei Carsten Jensen (Band I) zwar mit Hintergrundwissen glänzt, aber die zeitgeistliche Zu(recht)weisung von Jensen als "Rassist" ist ärgerlich. Reinhard Kaiser-Mühlecker findet bei Jensen "Sätze für die Ewigkeit"; er ist Enthusiast, hebt hervor, dass viele Erzählungen Jensens fast wie mündliche Überlieferungen klingen (für Band II stimmt dies auch). In Band III spannt Heinrich Detering einen Bogen zum streitlustigen Literaten Jensen und benennt dessen Ambivalenzen – einerseits "rassistische Stereotypen" in seinem Romanzyklus "Die lange Reise", andererseits die "antinationalistische und weltläufige" Struktur in anderen Texten. Vielleicht hätte man auch den Verleger Stefan Weidle konsultieren können, er weiß eine Geschichte, wen Jensen vor den Nazis gerettet hatte.

Wo Hamsun den "Segen" der Erde beschwor, da sah Jensen das "Geschenk" - wohlwissend, dass sich diese Geschenke nur durch harter und entbehrungsreicher Arbeit zeigen. Die Melancholie, der Verlust der mythischen Heimat zu Gunsten einer pluralistischen und für viele durchaus bedrohlichen Moderne, führte bei Jensen nicht zur falschen Idealisierung des Vergangenen. Hierfür wusste er zu viel. Er sah sich als Chronist, als jemand, der konserviert, damit die Traditionen sich weiter entwickeln aber ihre Grundlage nicht in Vergessenheit gerät. Man kann sich glücklich schätzen, dass sich der Guggolz-Verlag gefunden hat, diese Geschichten wieder zu entdecken. Jensen bietet noch viel. Etwa den Roman "Des Königs Fall", zwischen 1900 und 1901 in drei Teilen erschienen. Er wurde 1999 in Dänemark zum "Buch des 20. Jahrhunderts" erklärt. Wie wäre es?

Artikel online seit 17.08.22
 

Johannes V. Jensen
Himmerlandsvolk
Aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg
Mit einem Nachwort von Carsten Jensen
Guggolz Verlag
181 Seiten, Gebunden, fadengeheftet und mit Lesebändchen
€ 20,00 [D] | € 20,50 [A]
978-3-945370-12-4

Leseprobe

Himmerlandsgeschichten
Aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg
Mit einem Nachwort von Reinhard Kaiser-Mühlecker
Guggolz Verlag
235 Seiten, Gebunden mit Lesebändchen
€ 22,00 [D] | € 22,70 [A]
978-3-945370-24-7

Neue Himmerlandsgeschichten
Aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg
Mit einem Nachwort von Heinrich Detering
Guggolz Verlag
340 Seiten, Gebunden, fadengeheftet und mit Lesebändchen
€ 25,00 [D] | € 25,80 [A]
978-3-945370-37-7

 

 


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