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Der Platzanweiser als Prophet

Navid Kermanis sehr persönlicher Aufruf zu mehr Respekt
und Miteinander in schwierigen Zeiten

Von Jürgen Nielsen-Sikora
 

Navid Kermani, von seinem Ende 2017 auf dem Totenbett liegenden Vater dazu beauftragt, erklärt der eigenen Tochter den Islam, erörtert die großen Fragen der Religion, Fragen nach dem Ursprung der Welt, den Werten des Glaubens, Fragen die Theodizee betreffend; und er bedient sich hierbei nicht nur religionswissenschaftlichen Diskursen und dem steten Rückgriff auf den Koran und die ausgiebig im Buch zitierten Verse einzelner Suren – er lässt seinen Blick auch in die Naturwissenschaften, vor allem die Physik und die Biologie schweifen, um nach Antworten zu suchen, die die Neugier seiner Tochter zufrieden stellen könnten.

Doch so leicht wie erhofft macht es die Tochter dem Vater nicht: Sie bohrt, ohne selbst direkt zu Wort zu kommen, immer wieder nach, und der Vater muss mitunter weit ausholen und tief in jene Diskurse eindringen, die die Menschen seit Jahrhunderten umtreiben. Seine umfassenden Kenntnisse der verschiedenen Religionen helfen ihm, der Tochter immer wieder neue, teils verblüffende Antworten auf ihre Fragen zu geben. Hin und wieder greift er hierbei auf Bilder und Gleichnisse zurück.

Die vielleicht schönste dieser Geschichten, die dem Buch den Titel verleiht, handelt von einem Mystiker des 11. Jahrhunderts, der in Tous (Sousia) predigen sollte. Die Moschee aber bot nicht ausreichend Platz für alle – so viele Menschen wollten die Predigt hören. Der Platzanweiser der Moschee wies nun die Gläubigen an, sie sollten von dort, wo sie gerade sind, „einen Schritt näher kommen“, damit alle Anwesenden den Prediger hören können. Jener aber schloss daraufhin die Versammlung mit den Worten: „Alles, was ich sagen wollte und sämtliche Propheten gesagt haben, hat der Platzanweiser bereits gesagt.“ Dann verließ er die Stadt.

Indem Navid Kermani dieses Gleichnis zur Titelgeschichte seines Buches macht, nutzt er sie zugleich als Plädoyer dafür, in den schwierigen Zeiten, die uns gerade begleiten, wieder aufeinander zuzugehen, das heißt, mehr miteinander zu sprechen, gerne auch zu streiten, aber würdevoll und mit Respekt für den Anderen.

Es ist aber auch ein Plädoyer, sich den Religionen und dem Glauben auch dann zu widmen, wenn man nicht an Gott glaubt, weil hierin eine lange Kulturtradition mit Licht und Schatten zum Ausdruck kommt, derer man sich zweifellos selbst berauben würde, wenn man nur gleichgültig oder mit Verachtung auf diese Traditionen blickt (Glaube, Liebe, Hoffnung, Wahrheit und Weisheit auf der einen, Kriege, Missbrauch, Folter, Verbannung und Verschwendung auf der anderen Seite). Zweifellos schwingt auch hier ein Thema mit, das nahezu alle Bücher Kermanis charakterisiert: Der Verweis auf die Bedeutung von Poesie und Phantasie in allen, auch den religiösen, Texten.

In der Tat leuchtet dieses Plädoyer ein, und dennoch wird sich kein Atheist von den Sätzen dieses Buches davon überzeugen lassen, an einen Gott zu glauben. Das ist vielleicht auch gar nicht beabsichtigt. – Doch was dann? Bedarf es wirklich des Rückgriffs auf religiöse Überlieferungen, um für mehr Mitmenschlichkeit zu werben? Ist die Geschichte des Mystikers aus dem 11. Jahrhundert nicht genug, um das zu vermitteln, worum es wirklich geht? Dass nämlich ein einfacher Mensch aus dem Volk genauso weise sein kann wie die Propheten, wenn er die richtigen Worte findet, um deutlich zu machen, dass wir alle mehr aufeinander zugehen müssen – gerade jetzt, in diesem Augenblick, und allen, die folgen? Oder benötigen wir doch den echten Propheten, der uns allererst darauf hinweist, dass die Worte des Platzanweisers prophetischen Charakter haben – um gleich danach wieder zu verschwinden?

Vielleicht. Doch wer weiß das schon zu sagen?


Artikel online seit 24.01.22
 

Navid Kermani
Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen
Fragen nach Gott
Hanser Verlag
240 Seiten
22,00 €
978-3-446-27144-9

Leseprobe

 

 


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