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Konsumkultur zwischen Neoliberalismus und Ökodiktatur

Philipp Lepenies Legitimierung von Konsumverboten und Konsumverzicht

Von Phillip D. Th. Knobloch
 

Um den Klimawandel abzuwenden, braucht es Verzicht und Verbote, genauer: staatlich verordnete Konsumverbote und individuellen Konsumverzicht. Die ist zumindest die Kernthese, die Philipp Lepenies in seinem 2022 im Suhrkamp-Verlag erschienen Buch mit dem Titel »Verbot und Verzicht. Politik aus dem Geiste des Unterlassens« vertritt. Dabei denkt er etwa an ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen, an eine Beschränkung des Fleischkonsums, oder an ein Verbot von Inlandsflügen und Plastikverpackungen.

Die Notwendigkeit, auf die unvermeidlichen Verbote und Verzichtanstrengungen hinzuweisen, ergibt sich für Lepenies aus seiner Wahrnehmung, dass in unserer Gesellschaft »Verbote und Verzicht als staatliche Steuerungsinstrumente immer stärker und immer lauter« (S. 7) abgelehnt würden, beispielsweise unter Verweis auf eine drohende »Ökodiktatur«. Begründet werde solcher Protest beispielsweise durch die Annahme, jeder müsste die Freiheit haben, selbst über seinen individuellen Konsum zu entscheiden. Für Lepenies sind solche Sichtweisen wiederum Ausdruck einer Ideologie, die sich global verbreitet habe und deren Grundideen mittlerweile kaum mehr hinterfragt würden: Die Ideologie des Neoliberalismus. Um dem neoliberalen Konsumdenken entgegenzutreten und eine neue Einstellung zu Verbot und Verzicht zu propagieren, versucht Lepenies in seinem Buch die Entstehungsgeschichte dieser Weltsicht und der aktuellen Verbots- und Verzichtsdebatten nachzuzeichnen sowie gegenwärtige Manifestationen und Problemkonstellationen der neoliberal imprägnierten Konsumkultur aufzuzeigen.

Nach einer Vorbemerkung (S. 7-8) und einer Einleitung (S. 9-26) folgen insgesamt fünf Kapitel und eine Schlussbemerkung. Im ersten Kapitel (S. 27-40) mit dem Titel »Die Argumente des Unterlassens« werden vier rhetorische Strategien und Muster vorgestellt, mit denen allgemein gesellschaftliche Transformationen argumentativ abgelehnt werden können – und auf die auch in der aktuellen Diskussion über Forderungen nach Konsumverzicht und Konsumverboten zurückgegriffen werden. Das Argument der »Pervertierung« (S. 30) werde herangeführt, um eine Politik zu diskreditieren, die (angeblich) »perverserweise« genau das Gegenteil von dem erreiche, was eigentlich damit intendiert werde. Mit dem Argument der »Nutzlosigkeit« (S. 32) würden politische Maßnahmen infrage gestellt, die (angeblich) in Hinblick auf die intendierten Ziele nutzlos seien. Eine dritte rhetorische Strategie bestehe darin, auf Gefahren zu verweisen, die bestimmte politische Entscheidungen beispielsweise auf bestehende Institutionen und Ordnungen hätten (»Gefährdung«, S. 34). Eng mit dem Neoliberalismus verbunden sei das Argument der »Illegitimität« (S. 36), etwa wenn Verbote als »nicht legitime Maßnahmen« (S. 37) bezeichnet würden.

Im zweiten Kapitel (S. 41-73) mit der Überschrift »Verzicht – Geldmachen und Affektkontrolle« nimmt Lepenies auf die Frühphase des Kapitalismus und auf Autoren wie u.a. Adam Smith, Montesquieu, Thomas Peine, Norbert Elias und Max Weber Bezug um zu zeigen, dass der Verzicht auf Konsum damals, ganz anders als heute, positiv bewertet wurde. »Konsumverzicht bedeutete Affektkontrolle, und diese war, begleitet von einer Förderung des passenden Benehmens und einer Ausrichtung der Individuen auf das Allgemeinwohl, besonders erwünscht« (S. 41-42). Um auf Konsum im Sinne einer Affektkontrolle verzichten zu können, musste man aber erstmal Geld haben, weshalb es nachvollziehbar erscheint, dass auch das »ungehinderte Geldmachen« (S. 41) positiv bewertet wurde; zumindest eben dann, wenn das erwirtschaftete Vermögen akkumuliert oder reinvestiert wurde. Von einem »doux commerce«, einem milden, sanften oder süßen Handel, sprach Montesquieu etwa, da sich die internationale Handelstätigkeit positiv auf das individuelle Verhalten auswirke bzw. »milde Sitten« (S. 55) schon voraussetze. Darüber hinaus erhoffte man sich auch für die Gesellschaften bzw. Nationen insgesamt einen zivilisierenden Effekt durch Handel, Affektkontrolle und Konsumverzicht. »Konsumverzicht galt also lange Zeit nicht als Einschränkung der Freiheit. Er war vielmehr die Bedingung für die freie Entfaltung der Individuen« (S. 73).

Grundlegend geändert habe sich diese Einstellung zum Konsum bzw. Konsumverzicht dann durch den Neoliberalismus, wie Lepenies im dritten und längsten Kapitel (S. 74-177) mit dem Titel »Verbot – Der Staat als Gegner« zeigt. Dazu nimmt er insbesondere auf seine »Hauptwegbereiter« (S. 74) Friedrich August Hayek und Michel Friedman Bezug, betont jedoch auch, dass die »Erfolgsgeschichte« der neoliberalen Ideologie auf ein komplexes Zusammenspiel unterschiedlicher Akteure zurückzuführen sei. Durchgesetzt habe sich die in und ab den 1990er Jahren triumphierende neoliberale Weltsicht nicht nur durch einzelne wenige Wissenschaftler, sondern auch durch »Think-Tanks, durch ein neues Rollenverständnis von public intellectuals, durch Gruppierungen wie der Mont Pèlerin Society und durch Unterstützung von Großunternehmen, dem Nobelpreiskomitee, den Medien und sogar Romanschriftstellern« (S. 75). Deutlich wird in diesem Kapitel, dass sich das neoliberale Weltbild auf einige wenige Grundannahmen reduzieren lässt, die für Lepenies mit der »Illegitimacy Thesis« in Einklang stehen: Der Staat solle sich möglichst wenig in das Privatleben der Bürger bzw. Individuen einmischen, da ansonsten die individuelle Freiheit gefährdet werde. Mit Freiheit ist dabei in erster Linie wirtschaftliche Freiheit gemeint, also die Freiheit am Markt eigene Entscheidungen treffen zu können. »Die Gegenbegriffe lauten Knechtschaft und Sozialismus« (S. 74).

Die letzten beiden Kapitel widmen sich explizit dem Thema Konsum und seiner gewandelten Bedeutung in der neuen Konsumkultur. Unter der Überschrift »Konsum I – Konsumentensouveränität und Douce Consommation« wird im vierten Kapitel (S. 178-217) gezeigt, wie die in der Frühphase des Kapitalismus leitende Idee des »doux commerce« unter Einfluss des Neoliberalismus durch die Idee der »douce consommation«, eines süßen und milden Konsums, ersetzt wurde. »Die Bewertung des Konsums hat sich also komplett gewandelt« (S. 178). Während der Fokus vieler ökonomischer Theorien lange Zeit allein auf die Produktion gerichtet war, wurde dann etwa bei Adam Smith, Werner Sombart oder Thorstein Veblen zumindest der Konsum der Wohlhabenden thematisiert, da er gewissermaßen als Motor der wirtschaftlichen Entwicklung erkannt wurde und auch einen »nichtintendierten positiven Effekt [habe]: Er war die Ursache dafür, dass es den Nicht-Reichen besser ging« (S. 189). Relevant wurde der Konsum breiter Bevölkerungsschichten aber erst um 1900, als sich im Zuge der Industrialisierung durch billige Massenproduktion und Lohnsteigerungen auch für diese Gruppe Konsummöglichkeiten eröffneten, die über das Notwendige hinausgingen. Vor dem Hintergrund des sich entwickelnden Massenkonsums entstanden dann die Konzepte der Konsumentensouveränität und der Konsumentendemokratie, wie Lepenies unter Verweis auf Autoren wie Ludwig von Mises, Frank Fetter, Hayek und Friedman zeigt.  Dabei ist die Annahme leitend, dass eigentlich die Konsumenten durch ihre individuellen Kaufentscheidungen und Konsumwünsche Produktion und Wirtschaft beherrschen, und zwar gewissermaßen demokratisch. »In der Verbraucherdemokratie seien die Konsumentscheidungen der Einzelnen für sich genommen das Ergebnis eines demokratischen Wahlprozesses« (S. 196). Entsprechend ging auch William Harold Hutt, der den Begriff der Konsumentensouveränität erstmals 1931 verwendete, davon aus, »dass die Entscheidungen auf den Märkten denselben Charakter und damit auch denselben Grad an gesellschaftlicher Legitimität hätten wie das Wählen in Demokratien« (S. 205). Für Lepenies habe sich so letztlich das neue Normbild der »douce consommation« entwickelt: »Die Einzelnen müssen und sollen konsumieren, damit die Märkte, die Demokratie und die Gesellschaft optimal funktionieren« (S. 212). Der Konsument sei nun König, die Unternehmen die Diener.

Ausgehend von den Idealvorstellungen der Konsumentendemokratie setzt sich Lepenies im fünften Kapitel (S. 218-250) mit dem Titel »Konsum II – Konsumtristesse und ungebremste Affekte« mit der gegenwärtigen Konsumkultur bzw. -gesellschaft und dem »realen Konsum« auseinander. Interessant ist dabei der Hinweis, dass bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts – unabhängig vom Neoliberalismus – die Idee einer staatlich koordinierten Verbraucherbildung aufkam, um den Konsumenten zu schützen und im Sinne eines »citizen-consumers« (S. 220) als souveränen politischen Akteur zu stärken. »Der American Way of Life war das Leben in einer consumer-citizen-republic” (S. 221). In den 1980er Jahren sei dann laut Don Slater eine spezifische Konsumkultur entstanden, die die modernen Gesellschaften charakterisierte. »In der Konsumkultur wurde persönliche Identität nicht länger durch politisch-ideologische Zuschreibungen oder die Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt definiert, sondern einzige und allein durch die sich zunehmend ausweitenden Konsummöglichkeiten« (S. 229). Kennzeichnend für die neue »Konsumkultur des Neoliberalismus« (ebd.) sei dann die permanente Suche nach dem emotional anregenden Neuen, Besonderen und Differenten geworden. Konsum wurde als eine Form der Selbstermächtigung verstanden, da man davon ausging, durch die individuellen Konsumentscheidungen die eigene Identität zu konturieren oder gar wählen zu können – eine Illusion, wie Zygmunt Bauman kritisierte. Wenn das Individuelle nur auf Dingen beruhe, »die sich kaufen und konsumieren ließen«, komme dies einer »Kapitulation vor den bestehenden Marktgegebenheiten« (S. 236) gleich. Unter Verweis auf Andreas Reckwitz unterstreicht Lepenies jedoch, dass in der derzeitigen »Gesellschaft der Singularitäten« gerade solche Produkte konsumiert und nachgefragt werden, die aufgrund ihrer Besonderheit und Einzigartigkeit die eigene Individualität unterstreichen und ausdrücken, und dabei starke Affekte und Emotionen hervorrufen. »Wie bei Baumann bemühe sich der Einzelne, seine Identität, seine Unverkennbarkeit durch Konsumentscheidungen zu formen« (S. 238). Wichtig sei jedoch nicht nur der affektive Konsum selbst, sondern ebenfalls die – mittlerweile vor allem auch digitale – Inszenierung des Konsums vor Anderen, damit die eigene, singuläre Individualität auch sozial anerkannt werden kann. »Das neoliberale System des Wettbewerbs ist zu einem Wettbewerb der Affekte und um Affekte geworden« (S. 239). Äußerst problematisch sei bei dieser gerade auch durch die Digitalisierung vorangetriebenen Entwicklung, dass diese zunehmend mit mangelnder Affektkontrolle einhergehe: »Im Ergebnis wird aus dem vermeintlich souveränen Konsumenten ein digital affektgesteuerter ‚individueller Tyrann‘« (S. 241). Den Verlust der Affektkontrolle, der sich etwa an unzivilisiertem Verhalten im Internet und dem Aufkommen einer Empörungskultur festmachen lässt, führt Lapenies auf die »über Jahrzehnte antrainierte neoliberale Vorstellung« (S. 247) zurück, dass die Freiheit des Individuums nicht beschränkt, seinen Vorstellungen nicht widersprochen werden dürfen. »Ich darf alles, und keiner darf mir etwas verbieten« (S. 259).

In seinem Schlusskapitel (S. 251-266) zeichnet Lapenies ein düsteres Bild einer durch den Neoliberalismus und seine sowohl intendierten als auch nicht-intendierten Effekte geschwächten Demokratie, für die eine Politik des Unterlassens kennzeichnend sei, und der er auf allen Ebenen einen zivilisatorischen Rückschritt bescheinigt. Im Sinne eines radikalen Kurswechsels ruft er daher zu einer neuen Identifikation der Individuen mit dem Staat auf, zur Gemeinwohlorientierung und zur Affektkontrolle, um das Konsumverhalten der Bürger im Sinne der Nachhaltigkeit durch demokratisch legitimierte und politisch verordnete Verbote und durch Verzicht neu zu regulieren.

Lepenies liefert mit seinem Buch einen interessanten Überblick über zentrale Theorien und Ideen zum Konsum, mit dem zumindest etliche wichtige Aspekte zur Genese der gegenwärtigen Konsumkultur und somit ein Beitrag zum aktuellen gesellschaftlichen Selbstverständnis vermittelt werden. Die Fokussierung auf den Neoliberalismus und die sehr umfassenden anekdotischen Ausführungen zu seiner Genese machen die Lektüre stellenweise etwas langatmig, und die sich ständig wiederholende Kritik am neoliberalen Weltbild wirkt, bei aller Sympathie für diese kritische Position, mit der Zeit doch sehr einseitig. Das gilt auch für die leitende These, dass der Protest gegen konkrete Konsumverbote und Verzichtsforderungen auf einer unreflektierten Übernahme neoliberaler Vorstellungen, letztlich auf einer erfolgreichen neoliberalen Umerziehung der Gesellschaft, beruhe. Auch wenn es absolut einsichtig erscheint, dass angesichts der Klimakrise und im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung weniger konsumiert und produziert werden sollte, provoziert gerade die einseitige Entlarvungsrhetorik die Frage, ob die Forderung nach einer politisch induzierten Verhaltensänderung durch Verbot und Verzicht wirklich so demokratisch ist, wie sie hier dargestellt wird. Hat nicht vielleicht sogar der Neoliberalismus positive Seiten, die hier im Zuge der Schwarz-Weiß-Malerei übergangen werden?

Eine Stärke der Analyse Lepenies liegt sicherlich darin, dass er auf eine Entwicklung innerhalb der Konsumkultur hinweist, die zur »Konsumfixierung mit fehlender Affektkontrolle«, zur »Hyperindividualisierung« und zu »fehlende[r] Gemeinwohlorientierung« (S. 264-265) geführt hat. Betrachtet man die von Lepenies selbst vertretene Position vor dem Hintergrund dieser Diagnose, so erscheinen auch seine eigenen Thesen in neuem Licht. Zumindest drängt sich der Verdacht auf, dass konkrete Forderungen nach Konsumverboten bzw. Verzicht (z.B. Tempolimit, weniger Fleischkonsum etc.) vor allem von jenen vertreten werden, deren individuelle Konsummuster und Präferenzen durch die jeweiligen Maßnahmen nicht beschränkt, dafür aber vielleicht sogar moralisch überhöht und im Zuge der sozialen bzw. digitalen Inszenierung dann auch affektiv aufgewertet werden können. Dann könnte aber auch der Ruf nach Verbot und Verzicht Ausdruck mangelnder Affektkontrolle und Ich-Zentrierung sein: Wer nicht gerne schnell fährt, kein Auto hat oder gerade ein Elektroauto gekauft hat, mit dem man sowieso nur langsam und dafür möglichst weite Strecken fahren möchte, kann mit einem Tempolimit nicht nur gut leben, sondern sich nun auch zur ökologischen Mobilitäts-Avantgarde rechnen.

Hält man es nun wirklich für legitim, konkrete Konsumverbote einzuführen, so könnte man nicht nur bei den von Lepenies erwähnten Bereichen ansetzen, sondern fast überall, um Ressourcen und nicht-erneuerbare Energie zu sparen: Wieviel Energie könnte man etwa sparen, wenn alle Menschen nur noch Wasser trinken würden bzw. dürfen, am besten Leitungswasser? Und sollte man vielleicht nicht nur den Fleischkonsum reduzieren, sondern generell nicht-regionale und nicht-saisonale Nahrungsmittel verbieten? Und wenn schon die Nutztiere reduziert werden, wie steht es mit den Haustieren? Wäre, nicht nur aus Klima-, sondern auch aus Tierschutzgründen, ein Haustierverbot nicht längst überfällig? Brauchen Kinder wirklich Plastikspielzeug? Sollten wir vielleicht generell industriell gefertigtes Kinderspielzeug verbieten? Das würde sicherlich auch die Kreativität der nachkommenden Generationen erhöhen. Ein generelles Badeverbot in allen Gewässern wäre übrigens ein gutes Argument, um auch die letzten, energiefressenden Schwimmbäder zu schließen: Warum sollte man denn noch Schwimmen lernen müssen, wann man dies nirgends praktizieren kann bzw. darf?

Diese Beispiele mögen polemisch und unseriös anmuten, verweisen aber auf die ernste Frage, wer denn entscheiden soll, welcher Konsum erlaubt bleiben bzw. verboten werden soll. Der Vorschlag von Lepenies (S. 263), hier auf demokratische Mehrheitsentscheidungen zurückzugreifen, offenbart ein fragwürdiges Demokratieverständnis. Denn so würden vermutlich gerade jene Konsumprodukte und Konsumpraktiken verboten werden, die nur von Minderheiten präferiert werden. Wäre es aber wirklich mit den Grundwerten einer freiheitlichen Demokratie vereinbar, wenn die Mehrheit darüber entscheidet, ob etwa der Verkauf von Einrädern, der Konsum von Meloneneis oder der Betrieb alternativer Theater unter Verweis auf Energieverbrauch und Klimaerwärmung verboten werden? Ist es wirklich demokratisch, über die Einführung solcher Verbote abzustimmen?

Es spricht viel für die These Lepenies, dass sich große Teile der Bevölkerung derzeit über ihren Konsum identifizieren, wobei sicherlich auch die Abgrenzung zu anderen Konsumenten und Konsumpräferenzen im Sinne sozialer Distinktion eine große Rolle spielt. Auch wenn generell natürlich nichts dagegenspricht, zu versuchen, sich selbst über das positive wie negative Verhältnis zu Konsumprodukten zu bestimmen, können die dabei zur Hilfe genommenen Abgrenzungspraktiken höchst problematisch sein, gerade wenn dabei die Kontrolle über die eigenen Gefühle verlorengeht. Von mangelnder Affektkontrolle sollte man daher nicht nur sprechen, wenn jede Kritik am eigenen Konsum als persönlicher Angriff gewertet und mit übertriebener Empörung pauschal zurückgewiesen wird, sondern beispielsweise auch dann, wenn andere Konsumenten aufgrund ihrer andersartigen Konsumpräferenzen diffamiert, beleidigt und herablassend behandelt werden – etwa durch egozentrische, überhebliche und anmaßende Forderungen nach Konsumverboten. Die Debatte über Nachhaltigkeit und Konsumverbote kann daher als Lehrstück gelten, an dem die unterschiedlichen Gefahren einer emotional aufgebrachten und irritierten, affektiv unkontrollierten, ja unzivilisierten und unaufgeklärten Konsumkultur deutlich werden. Man kann die Lektüre von »Verbot und Verzicht« daher allein schon empfehlen, um dabei die eigenen Einstellungen zum Konsum zu überdenken und die dabei angesprochenen eigenen Gefühle zu ordnen. Dies erscheint geradezu unabdingbar, um in einer hochentwickelten Konsumkultur nicht die Orientierung zu verlieren.

Artikel online seit 15.08.22
 

Philipp Lepenies
Verbot und Verzicht
Politik aus dem Geist des Unterlassens
Suhrkamp Verlag
Broschur, 266 Seiten
978-3-518-12787-2

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