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Die Furcht, etwas »Falsches« zu sagen

René Pfister untersucht wie
eine neue linke Ideologie aus Amerika unsere Meinungsfreiheit bedroht.

Von Gregor Keuschnig
 

René Pfister ist seit fast zwanzig Jahren in unterschiedlichen Funktionen beim Nachrichtenmagazin Der Spiegel tätig. 2019 geht er für das Magazin in die USA. Donald Trump war Präsident und der Wahlkampf hatte bereits begonnen. Er kam mit seiner Familie nach Chevy Chase, einem, wie es heißt, liberalen Stadtteil Washingtons. Hier wird die Regenbogenfahne gehisst und man geniert sich für Trump. Aber rasch bekommt dieses paradiesische Bild Risse, etwa wenn ihm jemand erzählt, dass sein Sohn in der Schule Probleme bekommt, weil er nichts dabei findet, dass Weiße Dreadlocks tragen. Pfister erkennt, dass die Fassade von Furcht durchsetzt ist. Es ist die Furcht, etwas Falsches zu denken und zu sagen. Denn sofort droht die soziale Ausgrenzung – und eventuell Schlimmeres.  

In den letzten Jahren häufen sich in den so freiheitlich gebenden Vereinigten Staaten die "Fälle", in denen vermeintlich unbedachte Aussagen zu weitreichenden Folgen führen. Pfister bündelt einige dieser Ereignisse in seinem Buch "Ein Wort zuviel". Es ist, so der Anspruch, ein "Report" "wie eine neue linke Ideologie aus Amerika unsere Meinungsfreiheit bedroht".

Die Kapitel des Buches sind Reportagen, die miteinander verknüpft werden. Da wird Ian Buruma besucht, der wegen des Protestes über die Veröffentlichung eines Textes von Jian Ghomeshi, der zu Unrecht sexueller Übergriffe angeklagt war, seinen Chefredakteursposten bei der New York Review of  Books aufgab. Der Geophysiker Dorian Abbot schildert seine Ausladung als Redner beim MIT, weil er in einem Text Qualität über "Diversität" stellt. Pfister analysiert die neue "Campus Culture", bei der Redner beschimpft und gestört werden, wenn man es nicht geschafft hat, sie auszuladen und ihre Beiträge damit zu verunmöglichen.

Ausgiebig stellt Pfister die "Critical Race Theory" vor, die "inzwischen in viele akademische Disziplinen eingedrungen ist". Sie stellt, wie die beiden Juristen Richard Delgado und Jean Stefancic 2017 festgestellt hatten, die "liberale Ordnung ganz grundsätzlich infrage – inklusive des Gleichheitsgrundsatzes, des Abwägens rechtlicher Argumente, des Rationalismus der Aufklärung und des Prinzips, wonach jeder vor der Verfassung gleich ist."

Beleuchtet werden die Lehren der "Antirassismus-Autorin Robin DiAngelo" wonach jeder Weiße Rassist ist und deren "priesterliche Unerbittlichkeit, die selbst dem reuigen Sünder keine Erlösung verspricht, sondern nur den dornenreichen Weg der permanenten Selbstanklage." Natürlich darf auch der Historiker Ibram X. Kendi nicht fehlen, der 2020 "eine kleine Fibel mit dem Titel 'Be Anti-Racist'" herausbrachte, ein, wie Pfister schreibt, "Leitfaden zur Gewissenserforschung, wie man ihn auch in der katholischen Kirche finden könnte." Kendi vertritt einen positiven Rassismus, der nahelegt "privilegierte Gruppen" zu diskriminieren, wobei natürlich er bestimmt, wer das ist und wie dies zu geschehen hat. In der Fülle wirken diese Protagonisten wie Sektenprediger.

Neben den Universitäten beschäftigt sich Pfister mit den amerikanischen Medien und zwar bevorzugt jenen, die einst für Meinungsfreiheit und Vielfalt standen. Musterbeispiele sind hier die "Sünden" von James Bennett 2020 und Donald McNeil Jr. 2021, zwei (ehemalige) Edelfedern der New York Times. Bennett ließ auf seiner Meinungsseite einen konservativen Republikaner zu Wort kommen. McNeil hatte eine "unsensible Äußerung" in einer Diskussion über Rassismus mit Schülern gemacht und in diesem Zusammenhang das "N-Wort" zitiert. Daraufhin wurde McNeil mit einer Abmahnung bedacht. Als ein Onlineportal zwei Jahre später darüber berichtete, meldeten sich 150 Redakteure aus dem "Newsroom", die Konsequenzen forderten. In beiden Fällen widerstand der damalige Chefredakteur Dean Baquet dem Druck der Minderheit der Redakteure, die über die sozialen Medien Widerstände orchestrierten, nicht. Beide demissionierten (um einer Entlassung zuvorzukommen).

Bei der Aufzählung der diversen Einzelfälle (!) fällt auf, dass im Endstadium des Empörungsstromes fast immer die Selbstgeißelung des Sünders steht, die an die kulturrevolutionären Umtriebe aus dem China der 1960er und 1970er Jahre erinnert. Obwohl das Urteil des Mobs längst feststeht, erniedrigen sich die Protagonisten und kriechen in eine perverse Reuehaltung. Warum dies geschieht, bleibt ein Geheimnis. Noch mysteriöser ist das fehlende Rückgrat von Vorgesetzten und Unternehmensleitern, die sich einer amorphen Minderheit, die Argumente mit Lautstärke verwechselt, willig hingibt.

Die meisten der geschilderten Fälle sind dem Leser mindestens in groben Zügen bekannt. Pfister bemüht sich um eine möglichst neutrale Darstellung und achtet spürbar darauf, nicht seinerseits in einen Extremismus zu verfallen. Er äußert Verständnis für das Anliegen des linksidentitären Aktivismus. Man kennt das zur Genüge: Selbst aberwitzigste Aktionen wie beispielsweise das Festkleben an Gemälden oder Straßen wird mit einer gewissen Nachsicht betrachtet. Und so beeilt sich Pfister, den Schnellschuss "Cancel Culture" anzuwenden. Diesen Begriff lehne er ab, schreibt er (allerdings ist diese Aversion nur vorläufig, wie man später lesen kann). Schließlich sei den Protagonisten am Ende kaum ein Schaden entstanden ("und ist der Ruf erst ruiniert…" als Belanglosigkeit?).

Eindeutig positioniert sich Pfister immerhin gegen die von Wesley Lowery verfochtene These, "journalistische Objektivität sei ein Konzept, das nicht mehr in die Zeit passe". Die sich hieraus ergebende "Moral Clarity", die eine "eindeutige Haltung" über objektive Kriterien stellt, lehnt er dezidiert ab. Süffisant wird erwähnt, dass Lowery vermutlich nicht bekannt war, dass "'Moral Clarity' über Jahrzehnte ein Begriff der amerikanischen Rechten" gewesen war.

Pfister findet Beispiele auch in Deutschland, insbesondere was die neue Journalistengeneration angeht, die zum Beispiel ihr Unverständnis über die älteren Kollegen äußern, die nicht "gendergerecht" schreiben und/oder den "Grotisschlag" verwenden. So entsorgte beispielsweise der Stern seine Objektivität auf den Müll, als er den Aktivisten der "zweifelhaften" "Lobbygruppe" (Pfister) "Fridays for Future" das Redaktionsfeld überließ und seine journalistische Neutralität aufgab. Dabei, so könnte man ergänzen, ist dies nur die besonders plumpe Form des Haltungsjournalismus, der ansonsten sehr viel subtiler vorgeht und bis hinein in die öffentlich-rechtlichen Medien eingesickert ist. (Einmal kritisiert Pfister auch den Spiegel.)

Die Ursachen für das linke Jakobinertum werden wahlweise bei Herbert Marcuse, Michel Foucault oder den "ängstlichen Eltern" gefunden, die die nach 1980 geborenen Kinder "deutlich reglementierter erzogen" hätten (Greg Lukianoff und Jonathan Haidt). Dabei bleibt eher fraglich, ob die heutigen Aktivisten jemals etwas von den beiden europäischen Philosophen gehört haben. Könnte es nicht vielleicht sein, dass diese Leute schlichtweg nur angstbesessen sind und daher mit dummdreisten Intrigen ihre fragilen Denkgebäude aufrecht erhalten können?

Der Durchbruch des Tugendterrors in den USA wird – wie könnte es anders sein? – bei Donald Trump verortet, der mit "seinen Lügen und seiner Rhetorik die Nation polarisiert" habe. Der "Dogmatismus von links" wird als Gegenmaßnahme, eine Art "Roll-back" gesehen, der durch die MeeToo- und BLM-Bewegung zusätzlichen Auftrieb erfahren habe. Pfister weist darauf hin, dass die Demokratische Partei der USA spätestens mit dem Wahlkampf von Hillary Clinton und ihrer Invektive von den "Deplorables", den "Abgehängten", die Bodenhaftung zu ihren ursprünglichen Wähler-Milieus verloren haben. Inzwischen ordnet man 100 der 220 Kongressabgeordneten dem "progressiven Lager" zu. Wer wie der Mathematiker und Politikberater David Shor diese Wählerbewegungen analysiert wird wie der Überbringer der schlechten Nachricht lieber diffamiert. Das Kapitel über Shor ist das interessanteste, weil es bereits in das Jahr 2024 verweist. Die Analyse des einstigen Obama-Wahlhelfers ist erschütternd: "Die Republikaner schaffen es, ein multiethnisches Bündnis von Wählern aus der Arbeiterklasse zu schmieden, von dem die Linke immer geträumt hat", so zitiert Pfister Shor.

Wie die Republikaner sich mit Haut und Haaren Donald Trump unterworfen haben, so koppeln sich die Demokraten mit ihren Minderheitenthemen von der arbeitenden Mittelschicht ab. "Linke Identitätspolitik", so bilanziert Pfister, "schadet vor allem der politischen Mitte und dem aufgeklärten Lager." Eine ähnliche Entwicklung sieht er auch in Deutschland vor allem im Hinblick auf die SPD, etwa wenn sich Olaf Scholz im Wahlkampf als sich "intersektionaler Feminist" bekennt. Die klassische Wählerklientel kann mit solcher Sektensprache wenig anfangen.

Aber die Gegenbewegung zur Gegenbewegung existiert ebenfalls bereits. Pfister stellt Christopher Rufo vor, einen ehemaliger Dokumentarfilmer, der die "Critical Race Theory" mit all ihren Blüten, die sie "in amerikanische Schulen, Behörden und Unternehmen" getrieben hat und weiterhin treibt. Hierfür nutzt Rufo sowohl Fox-News, stellt sich aber auch progressiven Medien. Rufo organisiert intellektuell die politische Rechte vor allem auch in den "Swing-States". Seine Achillesverse ist, so Pfister, dass er nicht ganz von der Theorie der "gestohlenen Wahl" abrücken will, obwohl er Trump nicht noch einmal als Kandidat sehen will. Seine Thesen wie zum Beispiel bei der Gouverneurswahl in Virgina  "hätten nicht verfangen, gäbe es nicht realen Ärger über einen dogmatischen Antirassismus, der zuerst weite Teile des akademischen Lebens der USA gekapert hat und von dort aus den Siegeszug antrat: in Behörden, in großen Unternehmen und nun auch in staatlichen Schulen." Rufo bekennt offen, dass die Linke mit dem Versuch, die "Critical Race Theory" zu institutionalisieren, einen Riesenfehler mache, den er und seine Gesinnungsfreunde auszunutzen gedenken. Dabei, so Pfister, habe Rufo "eine Bewegung geschaffen, die mindestens so illiberal ist wie die Ideologie, die er bekämpfen will, ihre Ziele aber mit den Mitteln des Staates durchsetzen kann."

Der letzte Punkt wird belegt mit Hinweisen auf eine "Cancel Culture" in diversen US-Bundesstaaten, in denen festgelegt wird, was "Schüler noch lesen dürfen". Der Leser ist überrascht, denn plötzlich wird das CC-Wort opportun. Das hat allerdings dann allerdings eher damit zu tun, dass er die "Cancel Culture", oder, besser: Lese-, Referenz- und Diskursverbote an amerikanischen Universitäten schlichtweg nicht erwähnt. Dies ist symptomatisch für entsprechende Diskussionen in sozialen Netzwerken. Wer über ein linksidentitäres Geschehnis berichtet oder kommentiert muss nicht lange warten, bis besorgte User mit einem rechtsidentitären Beispiel kontern, so als sei damit alles ausgeglichen.

"Ein Wort zuviel" liefert eine kursorische Übersicht über die amerikanischen Umtriebe. In den 203 Anmerkungen finden sich neben Links zu einzelnen Tweets vor allem 23 Verweise auf Texte der New York Times, 8 auf die Washington Post – und 11 auf den Spiegel. Drei der elf Kapitel sind, wie es heißt, redigierte Spiegel-Texte (inwieweit diese bearbeitet sind, kann ich als Nicht-Spiegel-Leser nicht beurteilen). Pfisters Ton ist unaufgeregt und er bemüht sich um Nüchternheit und Objektivität. Am Ende steht ein persönliches Plädoyer für den politischen Liberalismus, welches überraschenderweise seltsam utopisch wirkt. Leider streift das Buch die Auswirkungen auf Deutschland nur. Zwar wird beispielsweise auf die politischen Präferenzen junger Journalisten in Deutschland rekurriert, aber dies bleibt nicht mehr als eine Statistik. Den Bereich des Framings in den deutschen Medien klammert er aus. Vielleicht hätte er sich auf die USA konzentrieren sollen. Seriöse Informationen über die linksidentitären Umtriebe in Europa muss man sich anderweitig besorgen. Wer Sahra Wagenknecht oder Bernd Stegemann (aus je nachvollziehbaren Gründen) nicht mag, kann beispielsweise noch auf Caroline Fourests "Generation beleidigt" zurückgreifen oder auf diesen Text von Leopold Federmair.


Artikel online seit 30.08.22
 

René Pfister
Ein falsches Wort
Wie eine neue linke Ideologie aus Amerika unsere Meinungsfreiheit bedroht
DVA
Ein SPIEGEL-Buch
256 Seiten
22,00 €
978-3-421-04899-8

 

 


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