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Selbstbeweinung

Friedrich Sieburgs Tagebuch
vom November 1944 bis zum Mai 1945
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Die Fliege im Bernstein« trieft vor Larmoyanz

Von Gregor Keuschnig
 

Friedrich Sieburg wurde 1893 geboren. 1912 begann er Philosophie, Geschichte und Ökonomie zu studieren. Im Ersten Weltkrieg wurde er Fliegeroffizier. Promotion 1919 in Münster zum Dr. phil. (im Nachwort steht irrtümlich 1920). Sieburg stand einige Zeit dem George-Kreis nahe. Schließlich schlug er eine Laufbahn als Journalist ein, schrieb u. a. für die "Weltbühne" und vor allem bei der "Frankfurter Zeitung", für die als Korrespondent aus London und vor allem Paris berichtete. Er war vielseitig, schrieb Literatur- und Theaterkritiken, Feuilletons, historische Essays aber auch Gedichte und Reiseberichte. Er erlangte rasch einen gewissen Ruhm. Politisch begann er in den 1930er Jahren zunächst mit den Ideen der "konservativen Revolution" zu sympathisieren, später ergriff er Partei für den Nationalsozialismus. 1932 schrieb er "Es werde Deutschland", ein, wie Gunther Nickel schreibt, "flammendes Plädoyer für eine nationale Erneuerung". Es erschien jedoch erst nach der Machtübernahme 1933. Drei Jahre später wurde das Buch verboten, weil Sieburg hierin scharfe Kritik am Antisemitismus der Nationalsozialisten geübt haben soll. 1940 wurde Sieburg Botschaftsrat der Deutschen Botschaft im besetzten Frankreich. Ein Amt, wie es heißt, "ohne jeden Einfluß" (Joachim Kersten). Er demissionierte zwei Jahre später und ging im Februar 1943 zurück zur "Frankfurter Zeitung", die allerdings im August des gleichen Jahres verboten wurde. Sieburg war nun nicht nur arbeitslos, sondern auch noch emotional tief mit der Scheidung von seiner zweiten Frau Dorothee von Pückler, geb. von Bülow, beschäftigt, die er erst 1942 geheiratet hatte. Die Ehe wurde im Frühjahr 1944 wieder geschieden. Sieburg mietete sich bis auf weiteres in Dorothees Anwesen, dem sogenannten Schloss Rübsamen, für 100 RM monatlich ein. Meist hielt er sich jedoch in einer Wohnung in Tübingen im Haus von Paul Kluckhorn auf, der seit 1930 Ordinarius an der Universität war.

Das ist das Setting mit dem die Tagebuchaufzeichnungen Sieburgs beginnen, die der Wallstein-Verlag unter dem Titel "Die Fliege im Bernstein" soeben erstmalig herausgebracht hat. Die Eintragungen beginnen am 23. November 1944 und enden am 13. Mai 1945; Sieburg ist 51 Jahre alt. Obwohl geschieden, beschäftigt ihn immer noch Dorothee. Es kommt zu Begegnungen, die regelmässig in Beschimpfungen und bisweilen körperlicher Gewalt (von seiten der Frau) enden. Sie habe "zwei Wesen" in sich, So Sieburg. Nach heutigen Maßstäben würde man sie vermutlich als bipolare Persönlichkeit mit Aggressionspotential einstufen. Dennoch kann man zwischen den Zeilen lesen, dass es zeitweise zum Sex zwischen den beiden kommt. Die rasch wechselnden Stimmungslagen der Frau deprimieren ihn; er bekennt seine Liebe, aber auch seine Verzweiflung über das Verhalten seiner Ex-Frau, die dann bei ihm zur "Ermordung" der Liebe führte. Bisweilen werden diese Gefühle von Erinnerungen an seine erste Frau überlagert.

Hinzu kommen die Nachrichten von "der Front". Die Alliierten, insbesondere Franzosen und Amerikaner, erobern Stadt um Stadt. Gleichzeitig starten die Russen ihre Offensive im Osten. Und es gibt die Bombardierung von Großstädten, insbesondere Dresden. Woher Sieburg diese häufig sehr zeitnah kommentierten Informationen hat, bleibt unklar. Es wird der Eindruck erweckt, dass es vom Hörensagen sei. Seine Verzweiflung nimmt proportional zu den Erfolgen der Alliierten auf dem Schlachtfeld zu. Umgekehrt lebt er bei der kleinsten positiven Meldung von der "Front" wieder auf. Er sieht sich als jemand, der in "der alten Welt" zu Hause ist und sieht schwarz für die Zukunft. Gegen Ende verwendet er drei Mal das Bild von der "Fliege im Bernstein", welches dem Buch den Titel gegeben hat. Wie die Fliege fühlt sich Sieburg eingeschlossen in der Vergangenheit; eine hilflose Figur als "Teil einer…absterbenden Epoche". Er hat Angst vor dem Frieden. Die deutsche Zivilisation werde, so sein Jammern, von den westlichen Alliierten, insbesondere den "Anglosachsen" einem "Vernichtungsprogramm" unterzogen. Über die Idee der Demokratie macht er sich lustig.

Manche Einträge sind von abgrundtiefer Hässlichkeit. Er lobt Himmler als "eine Art Scharnhorst unserer Zeit", möchte Ribbentrops Biographie schreiben und bedauert als Freisler durch einen Luftangriff getötet wurde. Zu Ostern 1945 schwadroniert er davon, dass Jesus auch für "den Führer am Kreuz" gestorben sei. Niemals entdeckt er auf seinen Besorgungsgängen Zweifel; der Glaube an die Wende, die "fanatische" Zuversicht, scheint überall verbreitet gewesen zu sein. Das kennt man von Klemperers Schilderungen, aber Sieburg will das selber glauben, ereifert sich über die "Hölderlinbegeisterung der kämpfenden Jugend" und deren "Sittengesetz". Der Glaube der Jugend an den Endsieg dürfe nicht enttäuscht werden.

Die Ardennenoffensive im Dezember 1944 sieht Sieburg als "ein Weihnachtsgeschenk des Führers", der – das steht dort tatsächlich – "noch nie sein Wort brach". Er hofft er auf eine Art Separatfrieden zwischen Deutschland und der Sowjetunion (wie im Ersten Weltkrieg). Es ist kaum zu glauben, aber er verklärt sogar Stalin als jemand, der einen anderen Ton über die Deutschen anschlage und von "Großmut" rede, während er inständig wünscht, dass Churchill bald stürzt. Das rassistische Menschenbild der Nazis scheint er inkorporiert zu haben. Er begegnet polnischen Fremdarbeitern, die "frech" grinsen und französischen Frauen, "offenbar Arbeiterinnen im Sonntagsstaat", die aussehen würden "wie ein Plakat, das vor Geschlechtskrankheiten warnt." 

Der SS stehe er "nahe" (so setzt er es selber in Anführungszeichen), weil "sie das Kleinbürgerliche völlig von sich abgeschüttelt" habe "und wirklich einen neuen Typ jenseits ihrer soziologischen Ursprünge" darstelle. Die bürgerliche Mittelschicht verachtet Sieburg, vermutlich weil er ihr entstammt und sich für etwas Besseres hält. Gleichzeitig preist er das Organisations- und Improvisationstalent der Hausfrau. Noch im März 1945 spekuliert er auf ein "Wunder", weil "wir" es "verdient" hätten. Gleichzeitig beklagt er den "Volkssturm", dem er angehört, als ein armseliges Häuflein.

Im März 1945 muss er aus der Wohnung in Tübingen ausziehen. Kurz bleibt er in Rübgarten (weicht dann jedoch, als Dorothee zurückkommt; ihren "Schnauzton" kann er nicht aushalten). Er weint um Deutschland. "Finis Germaniae" ist am 19.4., als die Franzosen übernehmen. Sieburg verdingt sich in die Klosteranlage Bebenhausen. Nun sind Plünderungen seine unmittelbare Angst.

Wenn Sieburg nicht über Deutschland und seine vergangene Liebe trauert oder sich in religiös-kitschige Schwärmereien stürzt, liest er Hebbel, Stendhal, Defoe (mit Robinson-Crusoe-Allüren), bewundert Ricarda Huch, kanzelt Dostojewski ab (der "ohne…künstlerisches Gewissen" sei) und kommt immer wieder auf Goethe zurück. Mehrmals wird er krank (Gürtelrose, Grippe) und es gibt Tage der vollkommenen Depression mit Spengler-Gefühlen und Suizid-Gedanken. Sein gesellschaftlicher Umgang ist durchaus rege. Längere Zeit ist seine ehemalige Schwiegermutter wichtigste Bezugsperson; aus nicht näher genannten Gründen gab es dann irgendwann ein Zerwürfnis. Mehrmals begegnet Sieburg dem späteren SPD-Abgeordneten Carlo Schmid. Auch Elisabeth Noelle, die später das Allensbach-Institut gründen wird, gehört zu seinem Bekanntenkreis. Im Anmerkungsteil des Buches werden nach jedem Brief die zahlreichen Personen, die er trifft bzw. mit denen er in Verbindung steht, vorbildlich vorgestellt.

Joachim Kersten kommt rasch auf den Kern der Frage, die sich nach der Lektüre der rund 200 Seiten stellt: War Sieburg ein Nazi oder nicht? Joachim Fest hatte dies damals negiert, ihn als "Collaborateur" einschätzt. Ob er NSDAP-Mitglied war, ist nicht eindeutig zu klären. Es gibt nur ein offenes Bekenntnis Sieburgs zum Nationalsozialismus – es stammt von 1941 aus einer Rede in Paris. Die Passagen zu Himmler, Ribbentrop und Freisler interpretiert Kersten als bewusst gesetzte, falsche Fährten für den Fall, dass sein Manuskript von der Gestapo entdeckt werden sollte. Hingewiesen wird darauf, dass Sieburg 1942 von der Gestapo verhört worden war. In den Aufzeichnungen wird an einigen Stellen tatsächlich die Furcht vor Entdeckung geäußert. Am 20.4.45, als die Franzosen übernommen hatten, stellt er dann jedoch fest: "Ich habe mit vorgestellt, dass ich am Tage, wo ich dieses Buch nicht mehr vor der Gestapo zu verstecken brauche, einen Strom befreiter Ideen auf diese Seiten schreiben würde." Und was hat er nun zu schreiben? "Nichts als einen einzigen Schmerzenslaut über Deutschland, dies ewig kranke, ewig sündige Land…" Man werde es, so Sieburg weiter im Duktus des finsteren Propheten, "nicht leben lassen".

Es sind eben nicht nur die drei zitierten, heute ungeheuerlichen Stellen, die Sieburgs Nähe zum Nationalsozialismus aufzeigen. Tatsächlich gibt es in den Aufzeichnungen keine einzige auch nur halbwegs kritische Stelle über die NS-Regierung und den Krieg. Kann es sein, dass Sieburg, der Kosmopolit und Allesdeuter, nichts von der Shoah gewusst hat? Das ist hochgradig unwahrscheinlich. Kersten schreibt, dass Sieburg spätestens nach Stalingrad 1943 gewusst habe, dass der Krieg verloren sei. Die vorliegenden Einträge belegen dies nicht – eher im Gegenteil. Und sollte wirklich alles nur Tarnung sein - wieso macht sich jemand die Mühe der fast täglichen Aufzeichnungen, nur um seine Gesinnung für den Fall der Entdeckung zu camouflieren? Das würde einem veritablen Selbstbetrug nahekommen.   

Kersten weist darauf hin, dass Sieburg als amüsanter, schlagfertiger und niemals langweiliger Schreiber galt. Ernst Jünger bemerkte 1941 nach einer Begegnung, Sieburg habe "das Rüstzeug des Welt-Journalisten" und sei mit "guter stilistischer, sprachlicher und geselliger Begabung" und "ausgeprägtem Selbstbewusstsein" ausgestattet. Von diesen Eigenschaften sieht man in diesen Aufzeichnungen nichts. Eher im Gegenteil: Sieburg trieft vor Selbstmitleid, wirkt fahrig, gefangen in seiner Solidarität zu einem verbrecherischen System, weil es sich mit dem Titel "deutsch" umgibt. Immerhin liest man in einer helleren Phase im März 1945, dass er sich für den "Chopin der Literatur" hielt.

Das Urteil der Alliierten gegen Sieburg fiel hart aus. Er hatte bis 1948 Publikationsverbot. Danach startete er jedoch wider Erwarten rasch neu durch. Er schrieb Bücher und nahm seine feuilletonistische Tätigkeit wieder auf – bei der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", wo er ab 1956 das "Literaturblatt" betreute. Sieburg galt lange als einer der führenden Literaturkritiker der Adenauer-Ära; man attestierte ihm eine hohe stilistische Kunst. Anlässlich seines 70. Geburtstags, ein Jahr vor seinem Tod, würdigte man ihn in einem Fernsehbeitrag sogar als "Moralisten".

Auch das Urteil von Marcel Reich-Ranicki über Sieburg fiel rückblickend milde aus. 1967, drei Jahre nach seinem Tod, forderte er in der "Zeit" "Gerechtigkeit für Sieburg". Die Überschrift dürfte eine Anspielung auf Sieburgs Aufsatz von 1949 mit dem Titel "Frieden mit Thomas Mann" sein, in dem er gönnerhaft den Exilanten exkulpiert. 2008 verschob Reich-Ranicki den Schwerpunkt der Verdienste Sieburgs von der Literaturkritik auf das politische Feuilleton. Er attestierte Sieburg, "der geistreichste, […] beste deutsche Feuilletonist der frühen Nachkriegszeit" gewesen zu sein.  

Dies sahen Hans Werner Richter und die Protagonisten der Gruppe 47 (einer von ihnen war übrigens Reich-Ranicki) anders. In einem Tagebucheintrag von 1966 überlegte Richter, ob er konservative Geister wie Rudolf Krämer-Badoni, Gerhard Zwerenz oder auch "den Sieburg" durch "Einladungen und ein wenig Erfolg bei der Kritik…zu 'wilden' Anhängern der Gruppe 47" hätte machen können. Er verneinte dies; spricht von "totaler Verwässerung" und setzte hinzu: "Ein fauler Fisch in einem Netz bringt alle anderen zum Faulen, und dies nicht nur von den Köpfen her."   

Sieburg war 20 Jahre älter als diejenigen, die als Antipoden der Gruppe 47 die Bühne betraten. Krämer-Badoni sowie Hans-Egon Holthusen und Günter Blöcker waren 1913 geboren; Zwerenz 1925. Auch Hans Habe (Jahrgang 1911) wurde nie eingeladen. Es wäre ein Fehlschluß, diese Protagonisten politisch über einen Kamm zu scheren. Habe war zwar konservativ, aber er ging vor den Nazis ins Exil (er war nach dem Krieg kurze Zeit zusammen mit Stefan Heym Chefredakteur der "Neuen Zeitung" in München). Zwerenz desertierte von der Wehrmacht und floh später aus der DDR. Ihnen gegenüber stand jemand wie Holthusen, der mit 20 in die SS und mit 24 in die NSDAP eingetreten war und im Nachkriegsdeutschland im Universitätsbetrieb reüssierte, Mitglied der Bayerischen Akademie der Künste wurde und das Bundesverdienstkreuz erhielt. Blöcker wurde Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.

Helmut Böttiger spricht in seinem Buch über die Gruppe 47 von einem "'Kulturkampf'" gegen die Gruppe 47 in den 1960er Jahren (er setzt den Begriff allerdings in Anführungszeichen), geführt vom "deutschen Restbürgertum" mit der "pseudoaristokratische[n] Kontinuität antidemokratischer Affekte". Publizistisch bot ihnen Sieburg eine Plattform als Gegenforum zur politischen wie auch ästhetisch-literarisch immer stärker werdenden Hegemonie der Gruppe 47. Sieburg beklagte diese in einem privaten Brief mit deutlichen Worten und sprach von einem "Terror" der "Bande, die sich in der ZEIT zusammengerottet hat" (gemeint ist Reich-Ranicki, der damals für die "Zeit" schrieb). Den "Terror sieht er vor allem ökonomisch – "große Sortimenter" würden sich ihm beugen. 

Im Nachwort wird das Paradoxon erwähnt, dass in den letzten zwanzig Jahren zwar drei Biographien über Friedrich Sieburg erschienen sind, aber aktuell kein einziges Werk von ihm lieferbar ist. Mit "Die Fliege im Bernstein" sind nun ausgerechnet diese vor Larmoyanz und falscher Loyalität triefenden Tagebucheintragungen der einzig aktuell zur Verfügung stehende Text von ihm. Die Lektüre fällt schwer, liefert aber dennoch Einsichten und Erkenntnisse über die Gemütslage eines Intellektuellen, der es nicht wahrhaben will, sich einem Verbrecherregime ausgeliefert zu haben. Dabei ist Hochmut nicht angebracht. Besser ist Neugier.

Artikel online seit 05.09.22
 

Friedrich Sieburg
Die Fliege im Bernstein
Tagebuch vom November 1944 bis zum Mai 1945
Hg. und mit einem Nachwort von Joachim Kersten unter Mitarbeit von Klaus Deinet
Wallstein Verlag
232 S., 8 Abb., geb., Schutzumschlag
€ 29,90
978-3-8353-5219-3

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