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»Der Dritte Kontinent«

Mohamed Mbougar Sarrs labyrinthischer Roman
»Die geheimste Erinnerung der Menschen« ist reich an Textsorten und gibt uns den Glauben an die Literatur zurück.

Von Lothar Struck
 

Der 1990 geborene senegalesische Schriftsteller Mohamed Mbougar Sarr hatte zwischen 2014 und 2018 vier Erzählungen bzw. Romane veröffentlicht, bevor 2021 Die geheimste Erinnerung der Menschen im Verlag Éditions Philippe Rey erschienen war. Es bedurfte der Auszeichnung dieses Romans mit dem Prix Goncourt, dem höchsten französischen Literaturpreis, um das Interesse für diesen Autor im deutschsprachigen Raum zu wecken. Und so sicherte sich der Hanser Verlag die Rechte. Mit Holger Fock und Sabine Müller wurden zwei renommierte Übersetzer gefunden und so liegt der prämierte Roman mit dem etwas sperrigen Titel seit kurzem in deutscher Sprache vor.

Im Hauptstrang des Romans geht es um einen gewissen T. C. Elimane, einem verschollenen Autor, der, soweit bekannt, senegalesischer Herkunft war und 1938 mit Das Labyrinth des Unmenschlichen einen epochalen Roman verfasst hatte, der ihn im (weißen) französischen Literaturbetrieb zunächst den Titel des »schwarze Rimbaud« einbrachte und als »Meisterwerk eines jungen Schwarzafrikaners« gefeiert wurde. Außer, dass es sich um ein Pseudonym handelte und dass der Autor 23 Jahre alt war, wusste man nichts weiteres über ihn. Nach den Lobreden wurden jedoch Plagiatsvorwürfe laut, die wiederum negative Rezensionen nach sich zogen. Zusätzlich wurde reklamiert, dass Elimane die Kulturgeschichte einer senegalesischen Ethnie ausgebeutet haben soll. Autor und Verlag weigerte sich, die entsprechenden Stellen zu kennzeichnen bzw. zu tilgen. Schließlich gab der Verlag dem Druck nach und zog nach Drohungen von Schadenersatzklagen das Buch zurück. Das Meisterwerk gab es plötzlich nicht mehr; es kursieren nur  noch Zitatschnipsel. Dies steigerte den Kultfaktor des Buches insbesondere in der afrikanischen (Exil-)Literaturszene. Sarr beginnt seinen Roman über den Roman erstaunlicherweise mit dem Fazit seines Erzählers Diégane Latyr Faye, der nach umfassenden Recherchen um die Person gestehen muss, immer noch nicht zu wissen, ob er »Elimane nun besser kenne oder ob das Geheimnis um ihn undurchdringlicher geworden ist.»

Irgendwie schafft es Mohamed Mbougar Sarr den Leser trotz dieser ernüchternden Bilanz bei der Stange zu halten. Es beginnt zunächst 2018. Frankreich ist gerade zum zweiten Mal Fußballweltmeister geworden. Diégane Faye studiert in Paris, müht sich mit einer »literaturwissenschaftliche[n] Doktorarbeit«, die er, der Schreiber von Liebesgedichten mit »hinkenden Versen«, »ziemlich schnell als Verbannung aus dem Eden des Schriftstellers erlebte«. In seiner Publikationsliste steht ein Kurzroman (Anatomie der Leere), der sich 79 Mal verkaufte und dessen Facebook-Post von »eintausendeinhundertzweiundachtzig Menschen … geliked« wurde. Er trifft sich abends mit seiner »literarischen Klasse«, einer »junge[n] Garde afrikanischer Schriftsteller mit Wohnort Paris«. Im Zentrum stehen vier traurige Tiger. Dazu gehören unter anderem Béatrice Nanga, 30 Jahre alt, glühende Katholikin aus Kamerun (bisher zwei erotische Romane) und der Kongolese Musimbwa, drei Jahre älter als Faye (vier Bücher). Immer wieder irrlichtert der Name T. C. Elimane durch die Szene; Faye hatte ihn schon zu Schulzeiten im Handbuch der schwarzafrikanischen Literatur bemerkt und später die Rezensionen der 1930er Jahre zu diesem Buch durchforstet, aber er war nicht weitergekommen.

Dies ändert sich als Marème Siga D. aus Amsterdam auftaucht, eine »senegalesische Schriftstellerin um die sechzig, die sich für manche wegen der Skandale um jedes ihrer Bücher in eine bösartige Pythia, einen Ghul oder glattweg einen Sukkubus verwandelt hatte.« Für Faye ist sie »der schwarze Engel der senegalesischen Literatur«, welche »die jüngste senegalesische Literaturproduktion vor ihrer verheerenden Einbalsamierung in Klischees und blutleere Phrasen« gerettet habe. Der Sex zwischen den beiden ist allerdings ernüchternd; noch hängt Faye an Aïda, einer algerisch-kolumbianischen Aktivistin, die eines Tages alle Verbindungen gekappt hatte um in Algerien eine Revolution zu unterstützen. Siga D. überlässt Faye zum Abschied ein abgegriffenes Exemplar von Elimanes Labyrinth. Der Kult wird plötzlich stofflich, greifbar, lesbar.

Faye liest mit den Songs von »Super Diamono« und gibt sich der Stimmung hin. Er liest mehrmals, lernt das Buch fast auswendig, gibt es weiter und die Clique ist begeistert, konsterniert, erbost, ratlos – alles gleichzeitig: »Wir debattierten wütend und exzessiv. Wir stritten böswillig. Wir fluchten.« Faye will dem Buch, dem Autor, der Bedeutung, auf den Grund gehen.

Spätestens hier wird das Motto, welches dem Roman voran steht, deutlich. Es stammt von Roberto Bolaño aus den Wilden Detektiven. Sarr hat mehrmals den Einfluss Bolaños auf sein Schreiben betont. Wie in dessen Monumentalroman 2666 geht es um einen verborgenen, unbekannten Schriftsteller und dessen Standing innerhalb der Literaturkritik, die mehr über den Autor erfahren muss, um ihren Exegeseapparat am Leben zu erhalten. Sarrs Protagonisten kritisieren eine Kritik, die in »enge[n] Tunnelröhren […] die Werke wie Vieh jagte, wobei einige erstickten und eingingen unter der Last der Konzepte, dem schmierigen Kritikerjargon, den langweiligen Themen…«. Und sie erkennen den grassierenden Feuilletonismus, der außerliterarische Bezüge in den Fokus nimmt: »Wird über Literatur, über ästhetische Werte gesprochen, oder spricht man über Personen, über ihre Hautfarbe, ihre Stimme, ihr Alter, ihr Haar, ihren Hund, das Fell ihrer Katze, ihre Wohnungseinrichtung, die Farbe ihres Sakkos? Spricht man über das Schreiben oder über die Identität, über den Stil oder die medialen Bilder, die es erübrigen, einen Stil zu haben, geht es um die literarische Schöpfung oder die Sensationsgier, den Personenkult?«

Faye und seine Freunde sind Verfechter einer ästhetisch geprägten, reinen Literatur. Sie kämpfen für ihre Auffassung und nehmen dabei alle Beteiligten in die Pflicht. Gleich zu Beginn wird klargestellt, was das bedeutet: »Ein echter Schriftsteller […] löse bei echten Lesern, die sich immer im Krieg befänden, tödliche Debatten aus. Wenn ihr nicht bereit seid, für seinen Balg in die Arena zu treten und zu kämpfen wie beim Buzkaschi, dann haut ab, ihr werdet in eurer lauwarmen Pisse sterben, die ihr für erstklassiges Bier haltet: Ihr seid alles, nur keine Leser, und erst recht keine Schriftsteller.«

Literatur wird dabei nicht als elitär verstanden. Béatrice Nanga wäscht Faye dahingehend deutlich den Kopf. Als sie ihn und Musimbwa zum Dreier einlädt, drückt sich Faye und während er die Geräusche aus dem Nebenzimmer halb verzagt und halb gelangweilt mitbekommt, steigt der Gekreuzigte vom Kruzifix an der Wand zu ihm herab und spendet kurz Trost – eine umwerfend komische Szene. Als er sich dann ein paar Tage später mit ihr zum Abendessen trifft, vergleicht sie ihn mit seinem Freund Musimbwa: »Ihr seid euch in vielem ähnlich, aber er hat einen Blick für Menschen. Er ist mit ihnen auf der Erde. Er fickt, wenn man ficken muss, trinkt, wenn man trinken muss, tröstet, wenn er kann, hat keine Angst, sich hinzugeben, sich zu täuschen. Er ist ein Mann. Und ein umso besserer Schriftsteller. Er ist warmherzig. Du dagegen bist kalt. Blind gegenüber den Menschen, gegenüber der Welt.«

Aber Faye kann nicht anders. Auch wenn er sich am Ende selber nicht nach den strengen Imperativen seiner literarisch-ästhetischen Ansprüche richtet und immer detaillierter in die Lebensgeschichte von T. C. Elimane einsteigt, die ihm in dosierten Portionen von Siga D. in Amsterdam erzählt wird. Sie hatte einst selber Recherchen angestellt, Dokumente gesammelt und mit Zeitzeugen gesprochen, denn Siga D. ist seine Kusine, sie ist die Tochter von  Ousseynou Koumakh, der ihr auf seinem Sterbebett 1980 die Geschichte von ihm und seinem Zwillingsbruder Assane erzählt hatte. Die beiden waren charakterlich Antipoden, kamen nicht miteinander zurecht, aber sie liebten beide Mossane. Assane bekam sie schließlich zur Frau und Ousseynou fragte sich für den Rest des Lebens, warum sie sich gegen ihn entschieden hatte. Das Kind der beiden ist Elimane Madag Diouf, 1915 geboren. Wenig später besucht Assane seinen inzwischen erblindeten Zwillingsbruder auf und bittet ihn, seine Frau und das Kind für kurze Zeit aufzunehmen. Er zieht für die Franzosen in den Krieg nach Europa – aber er wird nie mehr zurückkommen. Elimane wächst bei Ousseynou und Mossane auf. Das Kind ist, so würde man es heute nennen, hochbegabt, es geht auf die Missionsschule, liefert Bestnoten und als sich die Lehrer dafür einsetzen, Elimane zum Studium nach Paris zu schicken, widersetzt sich Ousseynou zunächst, aber er kann sich nicht durchsetzen. So bricht der knapp 20jährige 1935 nach Frankreich auf. Der anfangs regelmäßige Briefaustausch bricht 1938 urplötzlich ab. Assane ist in Sorge und wird darüber wahnsinnig; ihre Spur verliert sich 1945. Was sie nicht weiß: Elimane hatte 1938 einen Brief geschrieben und sein Buch, Das Labyrinth des Unmenschlichen, beigelegt. Ousseynou hatte ihr dies verheimlicht. Jetzt, auf Ousseynous Sterbebett, bekam Siga D. das Buch. 

Endet hier die Spur des geheimnisvollen Elimane? Nein. Es geht erst richtig los. Denn Siga D. hat sie alle getroffen: Thérèse Jacob, zusammen mit Charles Ellenstein die Verlegerin des Labyrinths, dann eine namenlos bleibende haitianische Schriftstellerin, die Elimane in den 1950er-60er Jahren in den argentinischen Literatursalons unter anderem mit Witold Gombrowicz und Ernesto Sábato getroffen hatte und eine Journalistin, die 1948 eine Publikation zu Elimane veröffentlichte. Wie ein Archäologe legt Faye immer neue Puzzlesteine frei. Zwischendurch entstehen interessante Nebenstränge, etwa die des jüdischen Mit-Verlegers Charles Ellenstein, der, wie es einmal heißt, Jude sei, »ohne darüber nachzudenken«. Auch er suchte seinen ehemaligen Autor und verließ dafür in den 1940er Jahren sein sicheres Haus in Nordfrankreich, begab sich ins von den Nazis verwaltete Paris und traf dort seine ehemalige Sekretärin und deren Verlobten – einen gewissen Josef Engelmann, Hauptmann des Generalstabs, der behauptete, Elimane begegnet zu sein. Der arglose Ellenstein starb in einem Lager der Nazis; später wird Elimane Engelmann in der ganzen Welt suchen.

Ja, es gibt auch mystische Elemente, etwa wenn es daran geht, dass alle Rezensenten, die Das Labyrinth des Unmenschlichen 1938 negativ besprochen hatten, innerhalb einer kurzen Zeit zu Tode kamen. Oder der énardmässig lange Erinnerungstext Assanes, eine ihrer letzten klaren Momente; in Wirklichkeit nur ein Satz, eine Litanei, die ein Geheimnis offenbart, das den Leser verblüfft. Manches wirkt ein bisschen überorchestriert, etwa die Geschichte mit der an Sichelzellenanämie erkrankten und irgendwie besessenen oder verfluchten Tänzerin und diesem mystischen Gast, der Züge von Elimane tragen soll.

Subkutan kreist der Roman um die Frage nach dem Sinn von Literatur und deren Funktion im Leben. Als der in den Kongo zurückgegangene Musimbwa Faye eines Tages eine Nachricht schickt und in einem der ergreifendsten Texte, die ich in den letzten Jahren gelesen habe erzählt, wie seine Eltern im kongolesischen Bürgerkrieg auf bestialische Weise abgeschlachtet wurden und er jetzt genau an dem Ort sitzt, an dem sich dies ereignete, stellt sich die Relevanzfrage existentiell. Musimbwa hat sie für sich als afrikanischer Schriftsteller beantwortet: »Erfindet eure eigene Tradition, gründet eure eigene Literaturgeschichte, entdeckt eure eigenen Formen, erprobt sie in euren Räumen, macht eure unerschöpfliche Vorstellungskraft fruchtbar, besiedelt ein Land, das eures ist, denn nur dort werdet ihr für euch, aber auch für andere existieren.« Elimane war zwar der Augenöffner, aber seine Intertextualität, die sich an den Kanon der französischen Literatur orientierte und dies den Weißen zeigte, musste in der Rezeption in Frankreich scheitern.

Ein roter Faden ist der von außen herangetragene und dann geweckte Ehrgeiz der Afrikaner, sich in die westliche Welt zu begeben, deren Bildung und Kultur nicht nur kennenzulernen, sondern zu adaptieren. Für die Zurückgebliebenen kommt dies ‹einem Verrat gleich. Assane zog in seiner blinden Frankophilie für Frankreich als senegalesischer Tireilleur in den Krieg; ein ähnliches Motiv gibt es in Abdulrazak Gurnahs »Nachleben«. Auch dort meldeten sich Afrikaner freiwillig für die deutschen Hilfstruppen, die Askari. Die weißen Missionare, die Elimane Madag unterrichteten, drängten gutmeinend auf ein Studium in Paris; für seinen Onkel war dies wie eine Desertion. Auch Siga D. verließ nach dem Tod ihres Vaters, den sie hasste, weil er sie in einer mystischen Kette von Unglücken verstrickt sah, den Senegal für immer. Als Faye das Dorf Elimanes besucht, will man nichts von ihr hören; ihr wird Undankbarkeit gegenüber ihren Verwandten vorgeworfen. Die jungen, zeitgenössischen Studenten und angehenden Schriftsteller in Paris balancieren ständig zwischen der europäischen Massenkultur und ihren afrikanischen Traditionen.

Faye wird schließlich mit der Frage nach den politischen und sozialen Implikationen seines Handelns, seiner Schriftstellerei konfrontiert. Wenn aus dem Beginn des Labyrinths von dem König zitiert wird, der nach einer Prophezeiung die absolute Macht bekommen soll, wenn die Erde mit der »Asche der Alten« gedüngt wurde, so wird dieses Bild in den realen Selbstverbrennungen der 2010er Jahre in der arabischen und afrikanischen Welt fortgeschrieben. Als Faye ankommt, gab es kurz zuvor die Selbstverbrennung einer politischen Aktivistin. Das Land hält den Atem an; eine Revolution liegt in der Luft. Er trifft auf politisierte Menschen und sogar wieder auf Aïda. Die Beziehung flammt neu auf. Er begegnet seinem zurückgekehrten Studienfreund Chérif, der sich warum auch immer schuldig für den Tod der Aktivistin fühlt und versucht, sich ebenfalls zu verbrennen. Hier greift Faye ein; verhindert Schlimmeres.

Ansonsten bleibt er überwiegend Beobachter. Eine Nachricht an Aïda, in der er ankündigt, die Demonstration gegen die Regierung mitzumachen, löscht er. Die Politik des Landes sieht er als unreformierbar an; zu deutlich sind schon die Spuren des Bestehenden auch in der Protestbewegung. Aïda verlässt ihn erneut; er lässt es geschehen. Musimbwa wandelt sich. War er es zu Anfang noch, der Fayes Zweifel beseitigte und ihn bestärkte, so zu tun, »als wäre Literatur die wichtigste Sache der Welt«, so befragt er jetzt aus dem Kongo, dem Ort des Massakers an seinen Eltern, Fayes Ansicht, dass die »kulturelle Ambiguität« das eigentliche Zuhause der afrikanischen Gemeinde sei und schlussfolgert dann: »Nur fürchte ich, was Du Ambiguität nennst, könnte wieder nur eine List unserer fortschreitenden Vernichtung sein«. Dennoch fordert er Faye auf, weiterzuschreiben – freilich nicht wie in seinem Erstling. Er selber bleibt in seiner Heimat: »Was ich wirklich schreiben muss, kann nur hier geschrieben werden, in der Nähe meines Brunnens.«

Faye erkennt die Herausforderung, bleibt aber bei sich, bei »seinem« Elimane, seinem emphatischen Literatur-Verständnis. Zuweilen schämt er sich zwar dafür, dass er nur wegen ihm in den Senegal gefahren ist und in das Dorf von Elimanes Kindheit möchte, um ihm nachzuspüren, vielleicht inspiriert zu werden. Aber er bleibt dabei,  schiebt die Chérifs, Aïdas und Musimbwas zur Seite. Wie es ausgeht, was Faye erlebt und welche Fragen offen bleiben – dies soll hier nicht erzählt werden.

Mohamed Mbougar Sarr hat einen vielschichtigen, polyphonen, aber dennoch sehr strukturierten Roman geschrieben. Er scheut keine Stil-, Perspektiv- und Figurenwechsel. Nicht immer ist sofort klar, wer gerade »Ich« sagt, manchmal verschwimmen die Zeiten in den diversen Rückblenden, aber der Leser wird es herausarbeiten. Sarr changiert gekonnt zwischen Tagebuch, Monolog, Traumdarstellung, Mystik, oralem Erzählen und Essay. Das Buch ist dem malischen Schriftsteller Yambo Ouologuem (1940-2017) gewidmet. Die Parallelen zwischen der Rezeption von Ouologuems 1969 publizierten Roman Das Gebot der Gewalt und dem fiktiven Werk Elimanes sind deutlich. So gab es auch gegen Ouologuem Plagiatvorwürfe, die zum Verbot des Buches in Frankreich führten, bis es schließlich 2003 wieder aufgelegt wurde und seit 2019 in deutscher Übersetzung wieder vorliegt. Es bleibt auch nicht aus, dass man einige von Sarrs Figuren decodieren möchte. So werden Parallelen zwischen der weiblichen Hauptfigur des Romans, Marème Siga D., mit der senegalesischen Schriftstellerin Ken Bugul nahegelegt. Der kulturinteressierte Nazi-Offizier in Paris trägt Züge von Gerhard Heller. Und der geneigte Leser vermag in Diégane Faye Mohamed Mbougar Sarr selber erkennen. Oder man konstatiert ein Oszillieren der Position des Autors zwischen Faye und Musimbwa.  

Aber es ist kein Schlüsselroman und nicht nur nach den von den Freunden um Faye ausgesprochenen ästhetischen Imperativen liefert diese kritikerhafte Analogie- und Personalsuche keine relevanten Erkenntnisse. Man würde damit auch dem Zauber dieses Buches nicht gerecht werden. Denn am Ende schafft es Sarr, dass der Leser wieder ein neues, oder, besser: ein anderes Gefühl für Literatur bekommt, eine Literatur jenseits der dominierenden zeitgenössischen Betroffenheitsfilibuster mit ihren in Moralismus getauchten weltvergessenen Phrasenroutinen. Schließlich beginnt man, über den Titel nachzudenken. Und für einen Augenblick ist alles klar. Ein schöner, ein seltener Moment.  

Artikel online seit 17-12-22
 

Mohamed Mbougar Sarr  Die geheimste Erinnerung der Menschen
Aus dem Französischen übersetzt von Holger Fock und Sabine Müller
Hanser Verlag
448 Seiten - 27,00 €
 978-3-446-27411-2
Leseprobe


Zitat: »Ich glaube, es gibt keinen brutaleren Weg, Probleme anzugehen, als zu versuchen, sie durch Schreiben zu überwinden.«
»Je pense qu’il n’y a pas de façon plus brutale de s’attaquer aux problèmes que d’essayer de les dépasser par l’écriture.« MMS in Frédérique Roussel, »Mohamed Mbougar Sarr et «le troisième continent«, Libération, 27. August 2021

Die Playlist zum Buch:
Ai Du (with Ry Cooder)
- Ali Farka Touré

Salmon Faye (Reprise) - Yandé Codou Sène

Mona Ki Ngi Xica - Bonga

Por el amor de amar (Necesito amor) - Buika

El Arado - Victor Jara

Miniyamba - Coumba Gawlo

Malaika (Original single 1974)
- Miriam Makeba

Njilou - Baaba Maal

Mambety Blues - Wasis Diop

Je suis un soir d'été
- Jacques Brel

Sinnerman - Nina Simone

A Love Supreme - Pt. 1 Acknowledgement
- John Coltrane

Volver - Carlos Gardel

Innuendo (Remastered 2011)
- Queen

 

 


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