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Abend, mehrfach

Virginia Woolfs Gesellschaftsroman »Mrs.  Dalloway« neu übersetzt

Von Wolfram Schütte
 

Der 1925 erschienene vierte Roman Virginia Woolfs evozierte zu seiner Zeit gewissermaßen zeitgleich ein Stück britischer Upperclass-Gegenwart, vornehmlich im Zentrum Londons, wo  Clarissa, die zweiundfünfzigjährige Ehefrau des konservativen Abgeordneten Richard Dalloway, am Abend des 23. Juni 1923 in ihrer »Westminster«-Wohnung einen Empfang gibt, zu dem auch der Premierminister als special guest erwartet wird.

Das mittlerweile weltberühmte Buch (mehr als siebzig Jahre nach seiner Publikation gelesen) ist heute zu einem nachviktorianischen Historischen Roman aus der Spätzeit des Britischen Empires geworden. Dessen selbstverständliche Präsenz ragt ebenso in das Geschehen, wie die auch von anderen britischen Autoren problematisierten traumatischen Kollateralschäden des 1. Weltkriegs, den viele britische Soldaten in den Schützengräben »auf dem Kontinent« davongetragen haben.

In »Mrs. Dalloway« ist es der immer tiefer im Wahnsinn versinkende Septimus Warren Smith, den seine italienische Ehefrau Lucrezia nicht davor bewahren kann, sich aus dem Fenster in den Tod zu stürzen – just an diesem Tag. Clarissa erfährt von dem grauenhaften Tod des ihr Unbekannten durch eine medizinische Koryphäe, die als eine der eingeladenen prominenten Gäste auf ihrer Party erschienen war. Dieser High-Society-Psychologe hatte den traumatisierten Soldaten erfolglos behandelt – indem er die anwachsende Verwirrung des verstörten jungen Kriegsteilnehmers nicht ernst genommen hatte. Über den Tod seines besten Freundes & sein eigenes Überleben war er nicht hinweg gekommen & klagte darüber, seither nichts mehr empfinden zu können.

Der Verlauf der Krankheit, ihre Folgen für den Wahnsinnigen & seine in der britischen Fremde isolierten Ehefrau fungiert gewissermaßen als düsterer Kontrapunkt zu Clarissa Dalloways gesellschaftlichem Erfolg in der High-Society. Virginia Woolf hat bei der Beschreibung des Wahnsinns aus eigen bedrängten Erfahrungen geschöpft. Sie lässt ihre Titelheldin fast akribisch alle die bekannten Touristenorte (wie z.B. Whitehall, Regent´s Park oder Fleetstreet) besuchen & entwirft ein vielstimmiges, fluides Panorama der imperialen Metropole: räumlich – indem sie Mrs.Dalloway zu Einkäufen quer durch die City & deren bekannteste Orte schickt; & zeitlich, indem Big Ben das Fortschreiten des Tages markiert. Tod, Alter, Sterblichkeit wetterleuchten hinter dem Geschehen, dessen Fluten zwischen Gegenwart & Vergangenheit, Reflexion & Erinnerung ständig wechselt.  

Nach dem Paris Flauberts in der »L'Education sentimental« ist das überwältigend vielstimmige Faszinosum des Londoner Straßenlebens, das Woolf aus Geräuschen, Farben & Bewegungen von Menschen, Tieren & Dingen wie ein pulsierendes impressionistisches Gemälde (z.B. Caillebotte) episch beschwört, die zweite große literarische Evokation  der modernen Urbanität in der europäischen Literatur. (Döblins »Berlin Alexanderplatz« wäre die dritte.)

Um die Suggestionskraft ihrer Prosa bei ihrer zeitgenössischen Londoner Leserschaft zu steigern, beschreibt sie nicht nur die »Erscheinung« eines abgedunkelten Autos mit königlichem Passagier, das viel beäugt durch die Stadt fährt, sondern auch eine jüngste Attraktion am Himmel über London: ein Flugzeug fügt aus von ihm erzeugten Wolkenbuchstaben den Namen »Tofee« zusammen – ohne dass diese  Luftnummer der Reklame eine Funktion oder metaphorische Bedeutung für »Mrs. Dalloway« hätte.

So gestaltenreich das Personal des Romans ist – vom Dienstpersonal über gehasst-geliebte Freundinnen bis zu Parlamentariern -: in seinem Zentrum befinden sich neben Clarissa zwei ihrer ehemals engsten Jugendfreunde, zu deren Inneren Monologen & Reflexionen der Roman immer wieder zurückkehrt. Das ist einerseits die burschikose, eigenwillige Sally Seton, in die Clarissa einmal verliebt war & anderseits der umtriebige Peter Walsh, der einmal um Clarissas Hand angehalten hatte. Damals, im Urlaubsparadies von Bourton in den herrlichen Cotswolds, war sie von der kühnen Sally auf den Mund geküsst worden & sie hatte sich dort für den langweiligen Richard Dalloway als Ehemann entschieden – statt das Abenteuer des Lebens an der Seite des attraktiveren Peter Walsh zu erleben.

Keiner der drei Jugendfreunde ist geworden, wovon er damals womöglich geträumt hatte: Sally hat einen stinkreichen Geschäftsmann geheiratet, lebt als sechsfache Mutter feudal & unglücklich auf  dem Lande in der Nähe Manchesters in der Provinz; der abgewiesene Peter war nach Indien »geflohen« mit einer ungeliebten Frau & war eben jetzt nach London zurückgekehrt, um seine Scheidung & Wiederverheiratung mit einer noch verheirateten Mutter zweier Kinder durch versierte Anwälte betreiben zu lassen.

Und Clarissa, die stolze Mutter ihrer bildschönen Tochter Elisabeth? Clarissa wird durch die zwei Freunde, die ja beide durch Clarissas Lebensentscheidung, Mrs. Dalloway zu werden, aus ihren Lebensbahnen geworfen worden waren, in der Sicherheit ihres bisherigen Selbstbewusstsein erschüttert, wenn auch weder nachhaltig noch folgenreich.

Vor allem diese drei Fünfzigjährigen steigen, jeder für sich, tief in den Brunnen ihrer (gemeinsamen) Vergangenheiten hinab – ohne aber je offen über ihre ursprünglichen, abgetriebenen Lebensentwürfe miteinander zu sprechen. Dem Leser jedoch, der im gleitenden Wechsel der Inneren Monologe durch die vielperspektivische Woolfsche Erinnerungswelt mäandriert, bewegt sich auf einem fein geknüpftem Erzählteppich, dem er das Unausgesprochene, schmerzlich einander Verschwiegene über die allesamt einsamen, vereinsamten Personen mit tiefer Bewegung ablesen kann. Auch legt sich die Angst vor dem Tod als atmosphärisches Dämmerlicht auf die Szene, obgleich die hochherrschaftliche Party & ihre Teilnehmer nicht selten satirisch aufleuchten. Z.B hier: >Da war ihr alter Freund Sir Harry. »Lieber Sir Harry!«, sagte sie und ging zu dem netten alten Burschen hin, der mehr schlechte Bilder (…) angefertigt hatte als zwei andere akademische Maler (immer Bilder von Kühen, die bei Sonnenuntergang in einem Teich standen und sich Kühlung verschafften oder, denn er hatte ein gewisses Repertoire, ein Bein hoben und die Hörner aufrichteten, um »das Kommen eines Fremden« zu bezeigen -, all seine Betriebsamkeit, auswärts zu speisen, zu Rennen zu gehen, gründete auf Kühen, die sich bei Sonnenuntergang im Teich Kühlung verschafften)<.

Obwohl es das Ziel Virginia Woolfs ist, als auktoriale Erzählerin so unauffällig bis zum Verschwinden zu sein, tritt die Autorin dem Leser durch solitäre Eigenarten ihrer Prosa doch laufend entgegen. Zum einen durch die Vielzahl von Klammersätzen, die den Erzählfluss unterbrechen & als Einsprengsel beachtet/ bedacht sein wollen; zum anderen durch eine Vielzahl additiver Charakterisierungen, die Woolf zur einzigartigen Königin des Semikolons machen. Das heute gänzlich ungebräuchliche Satzzeichen des schwebenden Innehaltens zwischen Komma & Punkt wurde von niemandem häufiger gebraucht als von der englischen Epikerin, um sowohl die Informationen zu verknappen als auch durch gleichförmige Addition zu beschleunigen.

Gelegentlich kommt die mit Klammersätzen gesprenkelte Prosa ins Stottern wie z.B. hier: >»Worüber lachen Sie?«, fragte Clarissa ihren alten Freund Sir Henry. Denn Willie Titscomb und Sir Henry und Herbert Ainsty lachten. Doch nein, Sir Henry konnte Clarissa Dalloway (denn er hatte sie sehr gerne; für seinen Geschmack war sie die vollkommene Verkörperung ihres Frauentyps, und er droht, sie zu malen) seine Geschichten von der Music Hall nicht erzählen.<

Die Übersetzerin Melanie Walz konnte, um den spezifischen Charakter der Woolfschen Prosa im Deutschen zu bewahren, nicht anders verfahren, als der englischen Autorin auch dorthin zu folgen, wo es stilistisch prekär wird, wie hier.   

Artikel online seit 09.08.22
 

Virginia Woolf
Mrs. Dalloway
Neuübersetzung von Melanie Walz,
Nachwort Vea Kaiser,
Manesse-Verlag, München 2022
400 Seiten
24,00 €  
978-3-7175-2556-1

Leseprobe

 

 


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