Frantz Fanon
(1925-1961) war ein radikaler Widerstandskämpfer für eine afrikanische
Revolution. Er beschäftigte sich mit dem Inneren und dem Äußeren der schwarzen
Seele und starb an einem Überschuss von weißen Blutkörperchen – am 6. Dezember
1961 erlag er einer Leukämie. Die Graphic Novell des Zeichners
Frédéric Ciries und des Autors Romain Lamy, die 2021
in der Hamburger Edition erschienen ist, hat es in sich: Sie zeichnet die
Geschichte des schwarzen antillesischen Psychiaters nach, der sein Leben der
Befreiung Algeriens gewidmet hatte.
An drei Tagen im August 1961 treffen sich in Rom Fanon, die Philosophen und
Schriftsteller Simone de Beauvoir, Jean-Paul Sartre und Claude Lanzmann, der
Herausgeber der Zeitschrift Les Temps Modernes und späterer Regisseur des
Holocaust-Dokumentarfilm Shoah für ein Wochenende in einem Hotel zum
Austausch. Fanon hat das Manuskript seines letzten Buches Die Verdammten
dieser Erde dabei. Er übergibt es Sartre und bittet ihn um ein Vorwort zu
dem Text. In den intensiven Gesprächen zwischen den Vieren erzählt Fanon sein
Leben. Der Leser und die Leserin sitzen mit dem Zeichner auf der Bettkante und
sehen ihnen zu.
Die in matten Farben gehaltenen Zeichnungen sind etwas ungenau. Sie zeigen
durchgehend Talking Heads mit still gestellten karikaturähnlichen Figurinen, die
in ihrer Abstraktion an byzantinische Ikonendarstellungen erinnern. Im
Hintergrund ahnt man das Weichbild der Stadt Rom mehr, als dass man es
identifizieren könnte. Ähnliches gilt für die Hotellobby oder die Restaurants
und Cafés, in denen die Gespräche stattfinden. Fanon berichtet in Rückblicken
von seiner Kindheit auf der französischen Karibikinsel Martinique als dunkelster
Sohn eines Zollinspektors und einer weißen Geschäftsfrau, von den Stationen
eines militärischen Ausbildungslagers, als er sich freiwillig meldet, um in der
französischen Armee gegen die faschistische deutsche Wehrmacht zu kämpfen; wir
sehen Bilder aus einem Krankenhaus in Lyon, wo er sich zum Psychiater ausbilden
lässt und erfahren von seinen Erfolgen und Misserfolgen bei der Sozialtherapie
in Krankenhäusern in Algerien und Tunesien. Schließlich rückt seine Rolle als
Sonderbotschafter der provisorischen Regierung Algeriens in Ghana in den Fokus.
Auch treten politische Mitstreiter auf wie Aimé Césaire und Leopold Senghor auf
– Granden der Bewegung der Négritude, der Bewusstseins- und
Widerstandsbewegung der französisch kolonialisierten Schwarzen auf Martinique,
in Afrika und in Amerika.
Die Panels erzählen Fanons Geschichte im Stil eines Storyboards für einen
Dokumentarfilm. Das Buch ist aber zugleich textlastig und intellektuell
anspruchsvoll. Den Sprechblasen wird dafür einiges an persönlichen und
politischen Details zugemutet. Überdies sind einige Gespräche auf
Martinique-Kreolisch gehalten und werden – wie auch arabische und französische
Briefe, Zeitungsschlagzeilen und Textfragmente aus Fanons Büchern – in winziger
Schrift unterhalb der Bilder ins Deutsche übersetzt. Das Ganze gerät so auf
manchen Seiten trotz der anregenden Farbigkeit zum Augenpulver.
Inhaltlich steht Fanons Aufruf zur Gewalt gegen die brutal vorgehende
Kolonialmacht Frankreich im Mittelpunkt. Er setzt auf eine Gegengewalt und wird
hier von Sartre in seinem Vorwort unterstützt, der die kolonialisierte Gewalt
auch für heutige Leser immer noch anschaulich und eindrucksvoll erklärt. In
dieser Hinsicht am wichtigsten ist immer noch Fanons Rede auf dem Zweiten
Kongress der Schwarzen Schriftsteller in Rom 1959:
»Wenn
der Mensch das ist, was er tut, dann besteht die dringlichste Aufgabe des
afrikanischen Intellektuellen im Aufbau seiner Nation. Wenn dieser Aufbau wahr
ist, das heißt, wenn er den ausdrücklichen Willen des Volkes darstellt, die
afrikanischen Völker in ihrer Ungeduld offenbart, dann ist er notwendig von der
Entdeckung und Schaffung universalisierender Werte begleitet. Anstatt die Nation
von den anderen Nationen zu entfernen, führt der nationale Befreiungskampf sie
auf der Bühne der Geschichte ein. Innerhalb des Nationalbewußtseins entwickelt
und belebt sich das internationale Bewußtsein. Und diese doppelte Entwicklung
ist letztlich der Nährboden jeder Kultur.«
Dem Autor
ist daran gelegen, die schwarze Kultur nicht zu feiern, sondern sie aufzuheben.
Anders als seine damaligen Kollegen der Negritude feiert er nicht das
Schwarzsein als eine neue woke Kultur, sondern will es kritisch in Richtung der
Menschenrechte überwinden. Auch soll es kein Sonderrecht für die
dekolonialisierten Staaten geben, sondern die sich befreienden Nationen treten
ebenbürtig mit allen rechten und Pflichten ohne Sonderrolle in die
Weltgesellschaft ein.
Das unterscheidet Fanons Position deutlich von derjenigen Achille Mbembes, die
heute diskutiert wird.
Mbembe will umgekehrt das Leben der Letzten, zu dem der Ersten machen. Das
ähnelt eher einem katholisch-christlichen Programm. Mbembe konkurriert dabei im
historischen und im weltpolitischen Horizont auf unglückliche Weise mit den
Juden um die historisch schlimmste Behandlung.
Micha Brumlik bescheinigt ihm allerdings dabei, dass er bei seiner Kritik der
Politik des Staates Israels aus palästinensischer Befreiungsperspektive sich
durchaus richtig auf israelische Quellen beziehe.
Dennoch will Mbembe in einen Hammelsprung um die Frage eintreten, wem in der
Weltgeschichte am elendesten mitgespielt wurde: den schwarzen
deterritorialisierten Sklaven oder den durch den Holocaust gebrandmarkten Juden.
Diese Frage ist unfruchtbar, wie nicht zuletzt im letzten Jahr auch auf der
Documenta 15 in Kassel deutlich wurde.
Aus der Not eine Tugend machen zu wollen und die Rollen von Herr und Knecht
herumzudrehen, führt nicht weiter. Dafür beruft sich Mbembe zu Unrecht auf Fanon.
Er ist nicht, wie er selbst annimmt, der Erbe von dessen Ansatz in Schwarze
Haut, weiße Masken, das Buch, in dem Fanon vor allem die gespaltene
Innenseite, die Psychologie des Kolonialisierten als Psychiater schildert.
Mbembe fällt vielmehr hinter die von Fanon erreichte Position zurück, wenn er im
Namen eines ethnischen Identitätsdiskurses eine schwarze Superiorität predigt.
Diese hatte Fanon im Namen einer Menschheit gerade hinter sich lassen wollen.
Wenn Fanon in Die Verdammten dieser Erde seine schwarzen Brüder und
Schwestern davor warnt, sich auf dem Weg zum Gipfel gegenseitig zu loben, so
nimmt er damit hellsichtig vorweg, was sich jüngst im Zusammenhang mit der
Übersetzung des Gedichts von Amanda Gorman mit dem Titel The Hill We Climb
ereignet hatte.
Von Fanon lässt sich dagegen lernen, wie ein strenges und radikales Denken
aussieht. Bei ihm findet sich keine Rückkehr zum ach so temperamentvollen
Schwarzen und seiner vermeintlich wilden Triebnatur, mit dem Mbembe an Aimé
Césaires Fassung der Monologe des Sklaven Caliban aus Shakespeares Drama Der
Sturm anschließt.
Wo Fanon die Kritik einer schwarzen Vernunft zu einer Abkehr von der
instrumentellen Rationalität im Allgemeinen und der schwarzen im Besonderen
führt, da fällt Mbembe hinter diesen wieder zurück. Mbembe will die Diskurse
Foucaults und Guattari/Deleuzes über den Wahnsinn, in diesem Fall des Rassismus,
selektiv aufnehmen und bezieht sich u.a. auf Deleuzes Buch über Friedrich
Nietzsche.
Als Resultat dieses Versuches erscheint dabei allerdings nun wieder der
delirante Schwarze und sein verrückter Caliban-Monolog.
Fanon orientiert sich dagegen an Sartre und dessen Idee der Freiheit und
Befreiung. Und wer glaubte, Sartre und de Beauvoir schon angesichts der
postmodernen französischen Philosophen ad acta gelegt zu haben, der findet sich
anhand dieser Graphic Novell über das Leben Fanons eines Besseren belehrt.
Gewiss, vieles an Fanons Verve für den algerischen und den afrikanischen
Befreiungskampf stammt aus der Zeit der 1960er Jahre. Heute erleben wir in
Ägypten, Algerien oder Mali den Zerfall der sich zu der Zeit
dekolonialisierenden Nationen unter der Herrschaft neuer einheimischer Clans,
dem fundamentalistischen Islamismus und neualten kolonialen Abhängigkeiten. Von
Fanon aber lässt sich lernen, wie ein Denken auf der Höhe der Zeit funktioniert,
dass eine materialistische und kritische Innenperspektive mit der äußeren
politischen verbindet. Wir erfahren zudem, dass Sartre und Fanon gemeinsame
Familienhintergründe im Elsass haben (Sartres Großonkel war Albert Schweitzer
und Fanons Großmutter stammte aus der Nähe von Colmar) – ohne dass sie daraus
eine identitäre Befreiung der Elsässer ableiten wollten. So lässt sich anhand
der Storyboards von Frédéric Ciries und Romain Lamy erkennen, dass die
entsprechenden Auseinandersetzungen Konsequenzen bis in die heutige Zeit in sich
tragen.
Darüber hinaus zeigt sich, dass dem Medium Comic inzwischen einiges zuzutrauen
ist. Es hat sich von Hergés (Georges Prosper Remi) Tim und Struppi und
Uderzos und Goscinnys Asterix emanzipiert. Obwohl Ciries einen ähnlichen
Strich wie Remi führt, so teilt er doch nicht dessen katholischen
Fundamentalismus, aus dem heraus dessen Held Tim mit einer V2-Nazirakete auf den
Mond fliegt und die Russen und vor allem und die Kongolesen Mores lehrt.
Comics sind keine lustigen Heftchen für Kinder. Sie sind es nie gewesen. Walt
Disney war politisch extrem konservativ und arbeitete für das amerikanische FBI,
um seine Kollegen in Hollywood zu denunzieren; Georges
Prosper Remi stand den belgischen katholischen Faschisten nahe und Rolf
Kauka, der Erfinder von Fix und Foxi, setzte noch 1966 Grußworte an „den
Gefangenen von Spandau“ – das war der im Gefängnis einsetzende
Hitler-Stellvertreter Rudolf Hess – in sein schneidig geschriebenes Vorwort zum
Weihnachtsheft.
Ein aufgeklärtes Geschichtsbewusstsein sollte in der Lage sein, nicht allein
früher verschlossene Episoden der Historie auszuschließen, sondern auch die
heutigen Debatten und die der Zukunft zu verstehen. Diese Grafik Novel trägt
dazu bei.
Artikel online seit 04.02.23
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Frédéric Ciriez /
Romain Lamy
Frantz Fanon
Aus dem Französischen von Michael Adrian
Hamburger Edition
232 Seiten,
gebunden, vierfarbig
25,00 €
978-3-86854-352-0
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