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Psychoanalyse und Revolution |
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Im Anschluss an seine
Darstellung der Psychoanalyse im Zusammenhang des Horkheimer-Kreises und Leo
Trotzki von 2019 legt der Darmstädter Soziologe Helmut Dahmer 2022 weitere
Aufsätze zu historischen und aktuellen Fragen vor.[1]
Der titelgebende Essay befasst sich mit dem Verhältnis des russischen
Revolutionärs zu dem Wiener Seelenforscher; die weiteren Texte verfolgen
Nebenwege, die sich aus Konsequenzen eines aktuellen Trotzkismus unter anderem
mit Blick auf den Krieg in der Ukraine ergeben.
Leo Trotzki über Psychoanalyse, Kunst und Revolution
1923-26 oder: Die verratene russische Revolution »Trotzkis technokratisch orientierter utopischer Entwurf ist nun schon hundert Jahre alt. Der Verfasser, Theoretiker der russischen und der Weltrevolution, Organisator des Oktoberaufstands und der Roten Armee, rechnete mit der Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise, wenn nicht binnen Jahren, so doch im Laufe von Jahrzehnten. Er konnte nicht wissen, dass die Russische Revolution nicht zum Auslöser einer internationalen Kettenreaktion wurde, sondern isoliert blieb und die SU (unter Stalins Herrschaft) zu einer Agentur der Konterrevolution mutierte; dass die kapitalistische Wirtschaft (auch nach 1929 und nach 1945) in der Lage sein würde, die (durchschnittliche) Arbeitsproduktivität zu steigern, und dass infolge blinder Akkumulation privaten Kapitals Produktivkräfte in steigendem Maße zu Destruktionskräften wurden (der Weg von der Kernspaltung zu Hiroshima und Tschernobyl); dass „totalitäre“ Regime imstande waren, die Spontaneität ihrer Bevölkerungen durch neue Formen von Massenterror (wie den Archipel GULag und Hitlers Vernichtungslager) langfristig zu lähmen; dass keine der antikapitalistischen Widerstands- und Unabhängigkeitsbewegungen dem Schicksal der Isolation und Degeneration entgehen würde und keines der als „sozialistisch“ firmierenden Regime in der Lage wäre, jenes Niveau des Lebensstandards und der politischen Partizipation zu erreichen, das zeitweilig in den höchstentwickelten kapitalistischen Gesellschaften (zumindest für den privilegierten Teil ihrer Lohnarbeiter-Bevölkerung) realisiert wurde. Er hätte es nicht für möglich gehalten, dass das privilegierte Fünftel der (heutigen) Erdbevölkerung, das in irdischen „Paradiesen“ lebt, seine Chance nicht nutzen werde, die Atomwaffenarsenale zu schleifen und die überfällige Umverteilung des Weltreichtums in Angriff zu nehmen — dass dies Fünftel vielmehr seine Wohlstandsoasen wie Festungen gegen jenes andere Fünftel verteidigt, das in von unaufhörlichen Kriegen und zunehmender Verwüstung des Planeten verheerten Elendsgebieten vegetiert (und dessen aktive Vorhut ihr Heil in der Migrations-Flucht sucht). […] Zurückblickend auf das, „was noch kam“, wissen wir, dass die kolonialen und industriellen „Errungenschaften“ früherer Generationen den nicht-intendierten, unerkannten „Neben“-Effekt einer Klima-Erwärmung (um ein oder zwei Grad Celsius) hatten, dessen katastrophale Folgen nun wie ein ungeheurer Bumerang die heutige Generation treffen, die noch immer mit Hunger, Seuchen, Ungleichheit und Kriegen zu kämpfen hat und darum kaum imstande scheint, zu verhindern, dass die Erde unbewohnbar wird. (S. 39-41)« Was Leo Trotzki im Anschluss an Charles Fourier und die Saint-Simonisten über Literatur, Politik, Surrealismus und Technik dachte, ist danach längst nicht erledigt. In Dahmers mit Belegen, Fußnoten und Nebenbemerkungen oft sehr kleinteilig gehaltenem Diskurs scheint eine andere Welt auf als diejenige, die sich letztlich in Russland und anderswo verwirklicht hat.
Im türkischen Exil 1929-32: Die Russische Revolution und Mein Leben »Das höchste theoretische Bewusstsein der Epoche“ — also das der bewusstlos verlaufenden, komplementären Prozesse der politischen und der seelischen Ökonomie — wird aber nur in seltenen Augenblicken praktisch relevant, wenn es nämlich „mit der [...] Handlung der zutiefst unterdrückten und der Theorie am fernsten stehenden Massen [verschmilzt]“. Das geschieht, „wenn die Masse durch einen elementaren Ansturm die Türen der sozialen Routine einschlägt und den tiefsten Bedürfnissen der historischen Entwicklung [...] Ausdruck gibt.« (Trotzki, Mein Leben) Diesen Passus, in dem von der gegenseitigen Beeinflussung und von spontanem Elan und gründlicher Theorie die Rede ist, hält Dahmer mit Recht für die Schlüsselstelle des Werks.
1933-35: Notizbücher in Frankreich
Moskauer Prozesse und revolutionäre Kunst
Ukrainekrieg und Weltrevolution [1] Vgl. Helmut Dahmer, Freud, Trotzki und der Horkheimer-Kreis, Münster: Westfälisches Dampfboot 2022; 45 €, siehe https://www.soziopolis.de/psychoanalyse-und-revolutionstheorie.html [2] Vgl. Helmut Dahmer, Libido und Gesellschaft: Studien über Freud und die Freudsche Linke (1973), Münster: Westfälisches Dampfboot; 2. korrigierte und erweiterte Auflage 2013. [3] „Die proletarische Persönlichkeit hat sich in der Masse noch nicht ausgebildet und differenziert. Der wertvollste Inhalt jenes kulturellen Aufstiegs, an dessen Schwelle wir jetzt stehen, ist gerade die Steigerung der objektiven Qualifikation und des subjektiven Selbstbewußtseins der Individualität.“ (Leo Trotzki, „Kunst, Technik und Natur – Die Umschmelzung des Menschen – Gewissheiten und Mutmaßungen“, in: Literatur und Revolution 1923, S. 187). [4] Vgl. Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, hg. Tiedemann u. Schweppenhäuser, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989, Band VII, S. 350-384. Anhand der erst kürzlich aufgefundenen zweiten Fassung wird umgekehrt deutlich, wieviel Benjamins Konzeption sich der Lektüre der Schriften Trotzkis verdankt. Vgl. z.B. Benjamins Ausführungen zur Masse im XII. Abschnitt, Fußnote 12, S. 370-371, wo es heißt: „[Der Faschismus] weiß: je kompakter die Massen sind, die er auf die Beine bringt, desto mehr Chance, daß die konterrevolutionären Instinkte des Kleinbürgertums ihre Reaktionen bestimmen. Das Proletariat seinerseits aber bereitet eine Gesellschaft vor, in der weder die objektiven noch die subjektiven Bedingungen zur Formierung von Massen mehr vorhanden sein werden.“ (Ebd.) Ähnliche Phänomena lassen sich heute bei der Formierung neuer faschistischer Massenbewegungen z.B. in Italien oder bei der AfD beobachten. [5] Max Eitingon war Freudschüler, Finanzier und Organisator des Berliner Psychoanalytischen Instituts und 1927-32 Präsident der Internationalen Psychoanalytischen Gesellschaft, bevor er 1933 von den „arischen“ Psychologen zur Ausreise genötigt wurde (vgl. Wolfgang Bock, Dialektische Psychologie. Adornos Rezeption der Psychoanalyse, Wiesbaden: Springer 2018, S. 493-496). [6] Auch diese Abschnitte besitzen viele Anschlüsse. Vgl. dazu z.B. Robert Seethaler, Der Trafikant, Zürich: Kein und Aber Verlag 2013 oder zur Verbindung von Surrealismus, Ästhetik und Politik bei Peter Bürger, Theorie der Avantgarde (1974), Neuausgabe Göttingen: Wallstein 2017. [7] Vgl. Diego Rivera und Andre Breton (1938): «Pour un art révolutionnaire indépendant.» [Texte definitif et Texte des Archives Trotsky]. In: Léon Trotsky (1984): CEuvres, Bd. 18, Paris (Institut Léon Trotsky), S. 198-211.
Artikel online seit 08.01.23 |
Helmut
Dahmer |
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