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Hungrig in Kristiania

Knut Hamsuns großartiges
»Buch« nach der Erstfassung von 1890 unter Berücksichtigung des 2022 erschienenen Kommentars der Dänischen
Sprach- und Literaturgesellschaft
neu übersetzt von Ulrich Sonnenberg.

Von Lothar Struck
 

Knut Hamsuns Hunger wurde 1890 erstmals als gebundenes Buch (ohne Genrebezeichnung) veröffentlicht, nachdem Teile des Textes zwei Jahre zuvor in der dänischen Zeitschrift Ny Jord anonym erschienen waren. Die Veröffentlichung sorgte sowohl in Kopenhagen wie auch in Kristiania (so hieß die norwegische Hauptstadt Oslo damals) für Furore. Bald danach wird der Name des Autors bekannt. Knut Hamsun war 30 Jahre alt. Noch im Jahr der Erstveröffentlichung übersetzte Marie von Borch das Buch ins Deutsche. Es wurde in Deutschland ein großer Erfolg.

Hunger spielt in Kristiania, irgendwann in den 1880er Jahren. Damals gab es rund 130.000 Einwohner. Hauptfigur ist ein namenlos bleibender Ich-Erzähler, ein wie man heute sagen würde, »freischreibender« Feuilletonist mit sehr geringen Einkünften. Zu Beginn wohnt er noch in einer Kammer, aber er kann die Miete nicht mehr bezahlen. Bevor er gekündigt wird, verlässt er selber die Wohnung und erklärt dies seiner Wirtin in einem Brief. Hier zeigt sich ein durchgängiger Zug dieser ansonsten unsteten, launischen, bisweilen paranoiden Figur: Er hat den Wunsch trotz seiner Armut, seinem Hunger und der Obdachlosigkeit »anständig« zu bleiben. So plagen ihn arge Gewissensbisse, als er einmal irrtümlich in einem Geschäft Wechselgeld ausbezahlt bekommt, weil die Angestellte ihn mit einem anderen Kunden verwechselt. Zwar gönnt er sich daraufhin ein großes Essen (was er rasch wieder erbricht, weil der Körper nach Tagen des Hungerns schlichtweg überfordert ist), gibt am nächsten Tag jedoch das Geld wieder zurück. 

Die Ursache für den Abstieg bleiben unklar. Einmal ist die Rede davon, dass er seit sieben, acht Monaten »nicht eine wirklich sorgenfreie Stunde« mehr erlebt habe. Als die Erzählung beginnt, spitzt sich die »Verwahrlosung« zu. Er kann zwar noch einmal ein Feuilleton verkaufen, aber das Geld ist rasch aufgebraucht. Für körperliche Arbeit kommt er nicht infrage; man sortiert ihn aufgrund seiner physischen Erscheinung rasch aus. Er ist abgemagert, hat Kopfschmerzen, leidet unter Haarausfall und im strengen Winter umwickelt er seine Hände, um bei Frost Schreiben zu können. Irgendwann trägt er nur noch lumpenähnliche Kleidung. Er lebt teilweise auf der Straße, gegen Ende des Buches bewohnt er eine Art Seemannspension und hält die Wirtin mit der Aussicht, sein Theaterstück zu verkaufen, kurzfristig bei Laune. In seiner Verzweiflung will er sogar seine Brille verpfänden; später seine Knöpfe. Aber der Pfandleiher lacht ihn aus. Einmal kommt er in Polizeigewahrsam, aber die Regeln und das frühe Abschalten des Lichts gefällt ihm nicht. Betteln kommt für ihn eigentlich nicht infrage; er sieht sich aber irgendwann dazu gezwungen. Bisweilen scheinen die durch den Hunger erzeugten Halluzinationen sogar Inspirationen für sein Schreiben zu sein. Er gerät in Schreibräusche, hat eine »kleine Charakteristik Correggios« fertiggestellt und will diese einer anderen Zeitung verkaufen. Der Redakteur dort, den er »Kommandeur« nennt, rät ihm, populärer zu schreiben. Sein Stolz packt ihn im falschen Moment, denn das Angebot, einen Vorschuss zu nehmen, lehnt er ab (später wird er dann 10 Kronen nehmen).

Der Leser wird Zeuge eines wirren Umhertreibens, aber vor allem der schwankend-delirierenden Gemütslage des Erzählers. Nach zwei, drei Tagen ohne Nahrung ist der Hunger so groß, dass er auf Holzspänen kaut, sich von einem Metzger einen Knochen für seinen nicht existierenden Hund erbettelt und diesen abknabbert, auf der Straße liegende Apfelsinenschalen aussaugt oder auch nur einen Stein lutscht. Schließlich versucht er sogar, ein Stück von seinem Finger abzubeißen. Der Hunger lässt ihn verzweifeln, schimpfen aber auch träumen. So erschafft er sich eine Prinzessin, nennt sie »Ylajali« und tatsächlich begegnet er eines Tages Marie, einem schüchternen und zugleich koketten Mädchen, die sich mit der abgehalfterten Gestalt nicht nur abgibt, sondern ihr Sympathie entgegenbringt. Ein Kuss von ihr stürzt die Verklärung in Verliebtheit. Das Ende ist eher abrupt: Er verdingt sich auf einem Schiff als Matrose und wird, obwohl ohne jegliche Erfahrung, genommen.

Die Erzählung lebt von dem flirrenden, intermittierenden Stimmungen des Ich-Erzählers, seinen zwanghaften Handlungen und seinen übertrieben-emphatisch vorgebrachten Predigten, die sich mit Scham, Wut aber auch Spott und Schalk vermischen und den Leser kaum einen Moment Ruhe gönnen aber ihn auch gleichzeitig zu fesseln vermögen. Dabei versteht es sich von selbst, dass die Sprache hier eine entscheidende Rolle spielt. Und da kommt dann die Übersetzung ins Spiel.

                                      ***

Hunger wurde bisher mehrfach ins Deutsche übersetzt. Die Transkription von Marie von Borch wurde in den 1920er Jahren von Julius Sandmeier abgelöst. Seit den 1950er Jahren erscheint Hunger in Deutschland in mehreren Verlagen in der Übersetzung von Julius Sandmeier und Sophie Angermann (die auch andere Werke Hamsuns zusammen übersetzt hatten). Diese Übertragung bildete für mehrere Jahrzehnte die Grundlage zur Rezeption dieses Buches. 2009 erschien zum 150. Geburtstag Hamsuns ein weiterer Versuch von Siegfried Weibel. Und nun, 2023, abermals eine neue Übersetzung. Diesmal von Ulrich Sonnenberg, der zuletzt vollkommen zurecht für seine Editions- und Transkriptionsarbeit der wunderbaren Himmerlandsgeschichten von Johannes V. Jensen gefeiert wurde.

In der (leider viel zu kurzen) editorischen Notiz weist er nicht nur darauf hin, dass Hamsun die Genrebezeichnung Roman ablehnte und lieber von einem »Buch« sprach. Der Autor wollte vermeiden, dass man seinen Text mit der damals noch weitverbreitete Definition, ein Roman sei eine (eher triviale) Liebesgeschichte, verwechselte. Gravierender ist der Tatbestand, dass Hamsun bei Neuausgaben mehrmals Veränderungen, meist Streichungen, vorgenommen hatte, zuletzt 1934 im Alter von 74 Jahren. Sonnenbergs Übertragung von Hunger basiert auf der Erstausgabe von 1890. Und dies eröffnet dem Leser neue Perspektiven.

Zudem gibt es einen vorzüglichen Anmerkungsapparat. Sonnenberg weist in ihm auf die zum Teil versteckten Stellen im Text hin, die eine biblische Konnotation aufweisen bzw. nahelegen. In diesem Kontext kontrastieren sie mit den »Gotteslästerungen« des Erzählers, in denen Gott unter anderem als »Scheißkerl« bezeichnet wird. Die Wut bricht sich einmal ungehindert Bahn: »Lass dir sagen, lieber wäre ich ein Lakai in der Hölle als ein freier Mann in deinen Wohnungen«. Er sei »voller glückseliger Verachtung deiner himmlischen Erbärmlichkeit« und konstatiert in einem Rundumschlag, dass der Himmel »voll der schwachköpfigsten Idioten und Armen im Geiste« sei. Diese Passage wurde vom Autor später entfernt. Dabei ist sie nicht nur phasenweise komisch, sondern zeigt in seiner Theatralik die Verzweiflung eines Desillusionierten.

In anderem Licht erscheint auch die Liebes-Szene in Hunger, die Hamsun später entschärfen ließ. Tage nach dem Kuss Maries treffen sich die beiden verabredungsgemäß. Sie lädt ihn ein, ihr Haus zu betreten; die Mutter und das Dienstmädchen sind nicht zu Hause. Zunächst ist der Feuilletonist sehr schüchtern, möchte lieber in der Tür stehenbleiben, um das Mädchen nicht in Verlegenheit zu bringen. Aber sie besteht darauf und es kommt nach einigen eher absurden Dialogen zu Annäherungen. Sie knöpft für ihn schließlich das Mieder auf, aber plötzlich zuckt sie zurück, ekelt sich vor dem Haarausfall des Mannes, der jedoch nicht mehr an sich halten kann. »Hoch mit dem Flanellunterrock« - so befeuert er sich selber. Marie wehrt sich »mit erstaunlicher Kraft«, bietet ihm ihre Brust als eine Art Kompensation an. Erst die Aussicht, dass bald das Dienstmädchen zurückkommt, hält ihn ab. Vollkommen versagen seine physischen wie psychischen Kräfte, als sie ihn »wahnsinnig« nennt. Er stürzt wieder in die übliche Mischung aus Schwermut und Selbsterniedrigung. Sie verabschieden sich schließlich umarmend. Später imaginiert er sie noch einmal in anderer männlicher Begleitung und er fällt in Verbitterung.

Neben diesen für die meisten Leser bisher unbekannten Einfügungen aus der ersten Version von Hamsuns Erzählung weist Sonnenbergs Übersetzung durchaus feine, logisch erscheinende Differenzen zur Wortwahl von Sandmeier/Angermann (im weiteren »S/A« abgekürzt) auf. Mein (unvollständiger) Abgleich stützt sich auf eine dtv-Ausgabe von 1982, 14. Auflage 2007. Leider ist nicht angegeben, welche Version der Übersetzung zugrunde liegt.

Dennoch ist ein Vergleich reizvoll. So wird bei Sonnenberg beispielsweise aus der »Bosheit« »Boshaftigkeit«, aus dem (sperrigen) »Probierstein« das »Versuchskaninchen«, aus »Unbehagen« das leicht präzisere »Unwohlsein«, statt »elend« wird »armselig« verwendet, aus »verstockt« das leicht andere »verbittert«. Manches wird verschärft, etwa wenn erzählt wird, dass Wut in den Protagonisten aufkocht, während S/A hier »Zorn« aufsteigen sahen. Das »Wohlsein der Abgesondertheit«, die den Hungerhelden kurzzeitig befällt, macht Sonnenberg zum treffenderen »Wohlbehagen der Abgeschiedenheit« . Die »zarte Rechtschaffenheit« wird zur »mimosenhaften«.

Sonnenberg macht aus »Wahnsinn« »Wahnwitz« und verwendet statt »Phantasien« »Hirngespinste«. Hier wird deutlich, dass unterschiedliche Textversionen herangezogen wurden. Ähnlich dürfte der Fall bei Sonnenbergs »Hökerhirn« statt dem »Krämergeist« bzw. dem »Hökerchef« statt »Kaufmann« (S/A) liegen. Hier bedarf es des Vertrauens dem Übersetzer gegenüber.

Interessant jene Stelle, in der die Hauptfigur überlegt, seine Knöpfe zu verpfänden. Bei S/A beginnt es mit »Aber die Knöpfe! Mit den Knöpfen hatte ich es noch gar nicht versucht!«. Sonnenberg überrascht hier mit einem anderen Satzzeichen: »Aber die Knöpfe? Ich hatte es noch gar nicht mit den Knöpfen versucht?« Die Figur wird hier noch rätselhafter, ambivalenter, zögerlicher. Aber Sonnenberg kann auch, je Situation, anders: Aus »Ich wurde verbittert« (S/A) wird dann »Ich war verbittert«.

Manche Begriffe, die bei Sandmeier/Angermann noch ambivalent verwendet werden, überführt Sonnenberg sanft in einen zeitgemäßen Kontext, so etwa die »Dirne«, die als »Mädchen« oder »Frau« übersetzt wird, insofern nicht dezidiert die »Hure« gemeint ist. Schwieriger ist wohl die Unterscheidung zwischen »Speichel« und »Spucke«. Insgesamt erscheint die neue Transkription rhythmischer, aus einem Guss, Dabei wird die Skurrilität und Wundersamkeit der Hauptfigur weder abgeschwächt noch denunziert. Da verzeiht man auch das »Licht am Ende des Tunnels«. 

Sonnenberg sieht die Streichungen Hamsuns weniger literarisch-ästhetisch als »moralisch-weltanschaulich« motiviert und bringt die später virulent werdende »nationalchauvinistische Gesinnung« Hamsuns ins Spiel, während im Nachwort die Schriftstellerin Felicitas Hoppe eher eine Art Rachemotiv ausmacht, weil Hamsun als Neunjähriger von seinen Eltern an die evangelikale Familie seines Onkels praktisch »verkauft« worden sei und dort »nicht nur den Schreiber und Boten spielen« sondern auch aus der Bibel und Andachtsbüchern vorlesen musste. Sicher dürfte sein, dass Hamsun der Religion skeptisch bis ablehnend gegenüberstand, sie aber als gesellschaftliche Überlieferung akzeptierte. Im »Nobelpreisbuch« Segen der Erde werden aufkeimende Frömmeleien der Protagonisten (insbesondere von Isaks Frau Inger, die zwischenzeitlich eine religiöse Phase hatte) vom Erzähler mit dezentem Spott kommentiert (wobei der deutsche Titel des Romans vom Segen missverständlich ist). Der Radikalität und dem Nonkonformismus des Hungernden schwor Hamsun im Laufe der Zeit ab. Er machte Konzessionen.

Aber es waren wohl diese Szenen, die die Herren in der Schwedischen Akademie 1918 mit der Auszeichnung zögern ließen. Walter Baumgartner hat diesbezüglich recherchiert. Einer der Akademie-Mitglieder, der schwedische Chemiker, Schriftsteller und Übersetzer Per Hallström, stellte in einem »Gutachten« fest, dass Hamsun der »psychologischen Analysierungsmanie« Dostojewskis verfallen sei. »An Hamsuns Durchbruchsroman Hunger rühmt Hallström den traumähnlichen, raschen Stil, aber er bemängelt, daß man nicht richtig wisse, ›wieviel der Mann [der Protagonist] wert ist‹, und daß er in widerwärtige und unwahrscheinliche Liebesabenteuer verstrickt sei.« Hallströms Urteil über Hamsuns Werk fällt trotz der attestierten »stilistischen Virtuosität«  eher negativ aus. Er kritisiert vor allem, dass seine Figuren nicht ethisch vorbildhaft seien. Dieses »Argument« mutet heutzutage überraschend »modern« an.

1918 wurde aufgrund des Krieges der Nobelpreis nicht vergeben. Erst zwei Jahre später raufte man sich zusammen. Den Nobelpreis für das Jahr 1919 vergab man rückwirkend an Carl Spitteler für sein Werk Olympischer Frühling. Und »mit großen Bedenken« (Baumgartner) wurde Knut Hamsun der Nobelpreis für das Jahr 1920 zugeteilt – aber eben nur für Segen der Erde. So wurden beide Nobelpreise an spezifische Werke vergeben; ein nachher nur noch selten praktiziertes Verfahren.

Ohne Zweifel ist Hunger im Vergleich zu Segen der Erde nicht nur der ambitioniertere Text, sondern auch der bedeutendere. Er löste in der modernen Literatur eine große Wirkung aus. Die Liste der Autoren, die dieses Buch vorbildhaft für sich und ihr Schreiben nannten, ist Legion. Den inneren Monolog praktizierte Hamsun hier weit vor Schriftstellern wie z. B. Arthur Schnitzler oder James Joyce und auch als (Groß-)Stadtroman war Hunger ein Pionierbuch, bevor Dublin, New York oder Berlin in episch breiteren Topographien erzählt wurden.

Umso überraschender und ärgerlicher der Versuch von Felicitas Hoppe in ihrem Nachwort einen zwanghaften Aktualitätsbezug zu konstruieren, in dem sie in Kristiania 1880 Parallelen zu einem »prostituierende[n] Schriftstellerwesen« der Gegenwart erkennt. Das ist in Anbetracht der zumindest im deutschen Sprachraum üppig ausgestatteten Subventions-, Stipendiats- und Preislandschaften fast ein bisschen obszön, sofern man Hamsuns Schilderungen ernst zu nehmen gedenkt. Auch die Klassifizierung als »Hartz-4-Roman« ist ein bisschen weit hergeholt, aber es genügt, um entsprechend zitiert zu werden.    

Dieser Eindruck soll die (Wieder-)Entdeckung dieser großartigen Erzählung in keinem Fall trüben. Und auch Hamsuns spätere Verirrungen sind ja noch weit entfernt.

Artikel online seit 06.2.23
 

Knut Hamsun
Hunger
Roman
Manesse
Aus dem Norwegischen von Ulrich Sonnenberg Originaltitel: Sult
Mit Nachwort von Felicitas Hoppe
Hardcover mit Schutzumschlag,
256 Seiten
25,00 €
978-3-7175-2560-8

 

 


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