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Abgesang auf eine Epoche

Mit seinem neuen Roman »
Dämmerung« schließt Michael Kleeberg
seine Karlmann-Trilogie. E
ine deutsche Mentalitätsgeschichte, ein
Sittenbild des Bürgertums der letzten fast 40 Jahre.


Von Lothar Struck
 

Nach Karlmann (2007) und Vaterjahre (2014) legt Michael Kleeberg nun mit Dämmerung den dritten (und letzten) Band der fiktiven Biographie von Karlmann Renn, genannt Charly, vor. Charly, Jahrgang 1959, erlebte in Karlmann die Zeit zwischen 1985 (es beginnt mit Boris Beckers erstem Wimbledon-Sieg) und September 1989. Vaterjahre spielt zwar nur an zwei Tagen (10.9.-11.9.2001), fasst aber in Rückblenden die Ereignisse der langen Neunziger Jahre zusammen. Charly hatte sich von seiner ersten Frau scheiden lassen, blieb jedoch nicht lange alleine. Mit der aus Ostdeutschland kommenden Ärztin Heike hat er zwei Kinder, Luisa (1995) und Max (1998). Das Buch endet mit zwei Katastrophen: Zum einen für die Welt (die terroristischen Angriffe auf die USA) und zum anderen für die kleine Luisa (der unausweichliche Krebstod der geliebten Hündin).  

Und nun, in Dämmerung, feiert Charly 2019 seinen 60. Geburtstag in seinem Golfclub in Hamburg, mit 80 Gästen. Zunächst stellt er einmal fest, wer abwesend ist: seine erste Frau Christine etwa, aber auch Heike, von der er seit einigen Jahren getrennt in gutem Einvernehmen lebt (geschieden sind sie nicht). Die beiden Kinder fehlen ebenfalls. Mit Luisa ist er seit vielen Jahren verkracht; sie, besser: ihre pubertären Allüren und die Unbeherrschtheiten Charlys darauf, waren, wie sich später herausstellt, die entscheidenden Gründe für die Trennung. Und Max, der Sohn, ist gerade beruflich unabkömmlich in Vancouver.

Auch die vier Frauen, mit denen Charly nach der Trennung mehr oder weniger lange und innig zusammen war und die er zunächst der Einfachheit halber nummeriert (die Auflösung erfolgt dann im Laufe des Räsonnements), fehlen. Sobald sich am Horizont eine Beziehung mit entsprechenden Konsequenzen für ihn zu verfestigen drohte, zog Charly die Reißleine. Im Moment ist es Madleen, die sich bemüht, die Gastgeberin zu spielen (auch hier beginnt er schon zu zweifeln; auch sie ist nur eine Episode).

Seelische Bad-Bank

Seit mehr als zwanzig Jahren ist er kaufmännischer Geschäftsführer einer traditionsreichen Hamburger Handelsfirma für Kautschuk. Die Stellung beendete einst seine mitunter rastlose berufliche Odyssee. So scheiterte einst die Mitarbeit in der Firma seines Vaters. Der alte Chef des Handelshauses, der noch Spuren Buddenbrook'schen Kaufmannsgebarens pflegte, hatte vor einigen Jahren an seinen Sohn übergeben. Charly hat seine Freiheiten und sein Auskommen (einmal ist von einer sechststelligen Einkommensteuerlast die Rede); wohnt in einer opulenten Wohnung im Hamburger Speckgürtel. In den drei Jahren, in denen er ein Verhältnis mit einer Mitarbeiterin hatte, bekam er allerdings keine Jahresendprämie. Später erfährt er, warum: Der Chef hatte selber Ambitionen. Lakonisch wird der "Verlust" beziffert und festgestellt, dass es sich gelohnt hatte.

Charly Renn ist zwar weder Psycho- noch Soziopath, aber eine sympathische Figur, wie sie dem Leser zeitgenössischer Romanen allzu gerne präsentiert wird, weil sie so leicht Identifikationspotenzial bieten, ist dieser Mann nicht. Er ist auch kein Intellektueller und hat dazu seine gut gehüteten Vorurteile (immerhin passt er sich für kurze Zeit einer Geliebten diesbezüglich an, geht mit ihr ins Theater und in Museen – so häufig wie nie zuvor in seinem Leben). Seine erste Ehe nennt er wahlweise "unernste Kinderei" oder vergleicht sie mit einer überstandenen Krankheit. Für die Vergangenheit hat er eine "seelische Bad-Bank" erfunden und "Techniken zur Regulierung des Herzens" entwickelt, die ihm helfen, das "entgeisterte Nachsinnen über die Wucht der einstigen Emotionen" nicht nur zu regulieren, sondern bei Bedarf auszublenden, vor allem, wenn es schmerzhaft zu werden droht. Rückschauen sind für ihn wie "abgelegte Schlangenhaut…am Wegrand der Vergangenheit", bestenfalls Basis dafür, nicht mehr unbedarft in allzu hohe "Gefühlsinvestitionen" zu verfallen.

Dabei ist nicht nur das beschriebene Milieu, sondern auch die bisweilen aufblitzende Sympathie mit dessen pragmatischer Lebensweise in der zeitgenössischen Literatur, die sich eher in Schriftsteller-, Künstler-, oder Intellektuellenkreisen bewegt, ungewöhnlich. Kleebergs Karlmann-Bücher kreisen um Menschen, denen es gelungen war, sich mit "angeborener Cleverness und befeuert vor allem von Scheitern und Wut" eine "goldene Nase" zu verdienen, wie Frank Bascombe, der schrullige Held aus Richard Fords Romanen sie charakterisiert. Bascombe, ehemaliger Sportreporter und Immobilienmakler, vermeidet es immer, mit ihnen zu reden, "weil die einzige Lebensgeschichte, die sie kannten, immer ihre eigene war." Als wäre es bei ihm jemals anders.

Und so betrachtet Charly nun seine Geburtstagsgesellschaft, beispielsweise Erika, seine Schwester; längst eine Vertraute geworden. Dann seine besten Freunde seit Abiturzeiten Kai und Thomas. Er stellt mit Befriedigung fest, welche Gruppen keinen Einlass erhalten hatten: "Fanatiker aller Couleur" etwa und "Toskanafraktionäre" oder "Morgenthau-Grüne" – dafür allerdings "zuhauf" jene, die er "opportunistische SUV-Grüne" nennt. Seine Welt ist das Großbürgertum oder das, was sich dafür hält: "Anwälte, Ärzte, Zahnärzte", Menschen mit eigenen Firmen, Techniker, Juristen, Banker. Es sind Individuen, denen ihre Freiheit am wichtigsten ist, wie es einmal etwas pathetisch heißt.

Beim Gäste-Scannen rekapituliert Charly Renn deren "Medikationen", ihre Krankheiten und "Dorian-Gray-Interventionen" wie künstliche Nasen, Zähne oder Hüften, wer fremdgegangen ist bzw. fremdgeht, oder, bei den Männern, sich beim Sex von Viagra helfen lässt (wie er - es gibt eine Geschichte, wie es dazu kam). Sie sind alle "verkleidete Jugendliche", trotzen dem Verfall, zelebrieren ihre ewige, oberflächliche Jugend indem sie "Aperol Spritz" trinken. Nichts entgeht Charlys Blick. Da ist diese 50jährige Frau, die im ärmellosen Kleid zu alten Rhythmen morgens um drei selbstvergessen tanzt. Oder die saturierte Betrunkenheit seines Freundes Kai, der angehalten werden muss, seiner Frau nicht sein Geheimnis zu erzählen. Manchmal erzeugen die Resultate seines Schauens, die dann doch entstehende  Unerbittlichkeit der nagenden Zeit, ein peinlich berührtes Innehalten beim Lesen. Insgeheim weiß Charly, dass sie sich alle bemühen, in der Öffentlichkeit eine Rolle zu spielen (inklusive er selber). Nur als sich ein Freund einer Nichte seiner Schwester als AfD-Mann entpuppt, droht kurz die Party zu entgleisen, weil dieser Mensch die Gäste mit seinen immergleichen Parolen beschallt. Nach außen großmütig, ist Charly verärgert, weil eine derartige Figur nicht in die liberale Klientel passt. Immerhin gelingt es Erika, die Nervensäge zu zügeln.

Der Stillstand

Das panzerhafte Selbsterhaltungskonzept Charlys funktioniert auch in der Schau auf seinen fremdkörperhaft teilnehmenden Vater Karl, der 84jährig im Rollstuhl sitzt und seit vielen Jahren zunehmend in Demenz verfällt. War es wirklich der Schmerz über den Tod seiner Frau, ihr "Aus-der-Welt-verschwunden-sein" nebst dem schleichenden Kontaktverlust zu einer Außenwelt? Kurz nur sein Aufbäumen im Schreiben elaborierter Leserbriefe (die dann irgendwann nicht mehr abgedruckt wurden) gegen tatsächliche oder vermeintliche Missstände oder das Ehrenamt im Lessing-Haus, einer Kulturstätte, das er einst leitete. Seit vier, fünf Jahren nun rund um die Uhr Betreuung von Malgorzata, selbstverständlich in seinem Haus. Präzise beschreibt Charly den sichtbar physischen Verfall seines Vaters, die Speichelfäden, die verunglückten Sprechversuche, was so gar nicht zu dem starken "blauen Blick" passt, den er immer noch hat und bezeichnet den sorgfältig hergerichteten, aber teilnahmslos dreinschauenden Mann abfällig als "Gemüse". Erinnerungen werden wach an seine Mutter, ihre nivellierenden Eigenschaften in Bezug auf das Zusammenhalten der Familie und ihr Wegsehen vor den Affären des Patriarchen. Kurz nach der Goldenen Hochzeit verstarb sie an Krebs.

Nach der Feier kommt der Kater in Form eines Zeitsprungs in das Jahr 2020, die beginnende Pandemie. Er lebt bei Heike, auch seine Kinder sind dort; das Verhältnis zu Laura hat sich normalisiert, sie macht eine Lehre. Max kann nicht zurück zu seinem Arbeitsplatz nach Vancouver. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten hat er keine Partnerin: "Alle Lustschlösser sind zu Luftschlössern geworden". Aber Charly ist überrascht, wie schön ein Frühling sein kann, beginnt erstmals, so etwas wie Natur und Garten zu schätzen, stürzt sich ins Netflix-Serien-Schauen und engagiert einen Personal Trainer, einen gewissen Francesco Federhut, einen 180 kg-Mann, ursprünglich aus dem Osten stammend, ein Selfmade-Man, der sich alles alleine aufgebaut hat. Charly fremdelt mit dem Home Office, das Geschäft ist mäßig. Mitinhaber und hohe Angestellte wie er erhalten für 2020 keinen Jahresbonus. Das kostet seinem Chef schließlich die Loyalität der Gesellschafter, die aus Sohn und Schwiegersohn bestehen. Er wird gestürzt. Als erstes verordnen die neuen Chefs Vornamen-und-Sie-Pflicht in der Anrede. Es ist nur eine Frage der Zeit und dann ist klar: Charly muss gehen.

Inmitten dieser Turbulenzen starb im Oktober 2021 Karl Renn. Er hatte zwei Wochen zuvor aufgehört, Nahrung zu sich zu nehmen. Ärzte kennen dieses "Sterbefasten" und die Geschwister wurden belehrt: "Der Mensch stirbt nicht, weil er nichts mehr isst, sondern er möchte nicht mehr essen, weil er stirbt". Man kam überein, es zuzulassen, teilte sich die Zeit ein, den Vorgang zu begleiten. Diese Situation, dieser grauenerregende letzte Kampf, überforderte Charly emotional. Der Vater starb, als Charly Dienst hatte, aber eingeschlafen war. Gegen dem Geist des Testaments des Vaters bemächtigte sich die Politik des Verstorbenen. Es gab ein Senats-Begräbnis, Ausnahmegenehmigungen trotz Covid inklusive. Sogar der Ex-Regierende war da und schüttelte Charly die Hand. Der war beeindruckt, bekam das Gefühl eines "Epochenbewußtseins", genoß die Bach-Suiten, die zu Ehren seines Vaters gespielt wurden und suchte – häufig vergebens - die Trauer, genauer: die Stimmung, die zur Trauer führt und sich nicht immer dann zeigt, wenn man dies möchte. Ein Gefühl, das sich nicht steuern oder aussortieren lässt.

Ehrenamt (Achtung: mit Spoiler)

Und dann lässt sich Charly Renn überreden, die Geschäftsführung des Lessing-Hauses zu übernehmen. Er soll frischen Wind in die nicht nur durch die Pandemie nahezu brachliegende Kultureinrichtung bringen, Sponsoren und Mäzene suchen, das Programm publikumswirksam trimmen ohne den Kulturanspruch zu vernachlässigen. Um die Dynamik und das Außergewöhnliche der neuen Lebenssituation zu verdeutlichen, wechselt die Erzählung vom Präteritum ins Präsens.

So steht er am ersten Arbeitstag vor der Tür, die allerdings verschlossen ist. Über Umwege kommt er schließlich hinein und es dauert einige Stunden, bis die Mitarbeiter eintröpfeln. Es ist kein einfacher Job; die Zahlen zeigen mitleidlos, dass das Haus ohne Subventionen längst insolvent wäre. Charly kennt so etwas nicht, ist wirtschaftliches Denken gewöhnt. Aber hier gibt es Subventionen, keinen direkten existentiellen Druck, was sich auf die Leistungsbereitschaft der Mitarbeiterinnen niederschlägt (es gibt nur einen Mann unter ihnen), die dem ehemaligen Kaufmann und seinen Ideen mit "souveräner Verachtung" und Dünkel begegnen. Dieser fängt sofort Feuer für die Programmleiterin, Dr. Yelda Dereli (Berlinerin, Jahrgang 1987), flirtet mit ihr (rein auf der intellektuellen Ironieebene, wie es der Erzähler dem Leser ausgiebig erklärt und ohne Zweideutigkeiten). Charly versucht, Teile seines Netzwerks für Kultursponsoring zu gewinnen und zugleich Verkrustungen in der Institution aufzubrechen. Als bei einem Streitgespräch zur Energiewende der Vertreter der Grünen (eine "Mischung aus Prophet und Politkommissar") gegen einen ehemaligen Kraftwerkingenieur rhetorisch den Kürzeren zieht, ist Dereli zerknirscht, weil "der Falsche" gewonnen habe. Eine Reaktion, die Charly vollkommen fremd ist.

Mit dem Ausbruch des Russland-Ukraine-Kriegs ändert sich noch einmal alles. Charly ist beseelt davon, den Flüchtlingen aus der Ukraine zu helfen, wirbt in seinen WhatsApp-Gruppen hartnäckig um Spenden und spricht, wenn es sein muss, seine Freunde direkt und mitunter provokativ an. Auch Thomas, der auf der Geburtstagsfeier noch eine Tonio-Kröger-Rede der Bewunderung auf Charly gehalten hatte. Aber der Freund sperrt sich, empfindet Charlys Drängen übergriffig. Die Frotzeleien zünden nicht, im Gegenteil: sie erzeugen ein "Tiefenbeben aus Groll". Am Ende genügte eindreiviertel Stunden Messenger-Kommunikation, um eine jahrzehntelange Freundschaft zu zerstören. Aber er wäre nicht Charly Renn, wenn er auch das schnell abhaken würde, "ein wenig erstaunt, wie leicht das fällt". Wieder jemand mehr in seiner "Bad-Bank".

Intern wird von ihm am 20. März verkündet: "Alles auf Ukraine". Es gibt Foren und Diskussionsveranstaltungen zum Krieg (die Politik möchte mehr von ihren Leuten auf dem Podium vertreten haben; Charly muss balancieren). Das Haus stellt sich im Dienst der Flüchtlingshilfe. Das im Gebäude untergebrachte Corona-Testzentrum muss weichen, um Mütter mit ihren Kindern aufzunehmen (einmal bis zu 15 Personen). Die Mitarbeiter sind wenig begeistert. Das einseitige Engagement sei themenfremd; einige sperren sich gegen die pauschale Verdammung Russlands. Hauptgrund scheint jedoch zu sein, dass es viel Arbeit ist und Überstunden verlangt. Charly setzt sich durch, mietet für ein halbes Jahr ein Apartment in der Nähe des Lessing-Hauses und kauft sich ein Fahrrad, um mit der Zeit zu gehen, sich seinen Mitarbeitern anzupassen. Zusammen mit seiner Freundin Ines aus Potsdam (es ist jene Frau, mit der er auf seiner ersten Hochzeit vor mehr als 30 Jahren seine Frau betrogen hatte) wird eine Spendengala nach amerikanischem Vorbild mit 500 Euro Eintritt organisiert. Dabei lernt er die Modalitäten und Verhaltensweisen der Kunst- und Medienmenschen kennen. Anfangs finden sich keine Prominenten, aber als es Dereli gelingt für eine veritable fünfstellige Summe einen bekannten TV-Moderator als Präsentator zu gewinnen, lösten sich die Probleme in der weiteren Besetzung und auch der potentiellen Spender rasch.

Die Gala wird zu einem vollem Erfolg, nicht zuletzt wegen der Geschmeidigkeit und Professionalität des Moderators (die umwerfend erzählt wird). Man sammelt Zusagen für 600.000 Euro ein. Danach wird im Haus heftig gefeiert. Alles fällt von Charly ab und er klinkt sich zwei Tage aus, holt Schlaf nach, erholt sich. Dann ist die Welt jedoch eine gänzlich andere. Denn es gibt Fotos, die ihn zeigen, bei denen er Frauen sexuell übergriffig berührt haben soll. Der Shitstorm in den sogenannten sozialen Medien läuft auf Hochtouren; das Urteil ist natürlich längst gebildet, Zweifel ausgeschlossen. Zwei ukrainische Frauen berichten, von Charly Renn belästigt worden zu sein. Er streitet alles ab (die Formel von den "romantischen Berührungen", die man für Kevin Spacey fand, war noch nicht entdeckt), aber der Senat zwingt ihn, sich in einer Pressekonferenz "in den Staub" zu werfen. Charly stellt sich zwar, beteuert allerdings seine Unschuld, aber das will man nicht hören; man bezichtigt ihn der Arroganz. Zweifel gibt es zwar, aber die Politik beugt sich; das Risiko ist zu groß. Erst wird er freigestellt, kurz darauf fristlos entlassen. Er ist "ganz real zutiefst entehrt". Alles spricht dafür, dass es Dereli war, die den Frauen die Hand bei den Schreiben geführt hatte. Aber das ist egal, denn er geht in die Schweiz, kommt unter bei weitläufigen Verwandten, denen er zuletzt (und teilweise zum ersten Mal) bei dem Begräbnis seines Vaters begegnet war. Charly Renn, inzwischen 63, wollte es beruflich nach seinem erzwungenen Abgang noch einmal wissen, es allen zeigen, aber "seine Dummheit, seine Verblendung, sein kindischer Jugendwahn" führten ins Desaster.

Ein Abgesang

Dass Charly und seine Freunde (verblüffend: weniger die Frauen, die sich zukunftsoffener zeigen) "aus der Zeit gefallen" sind, sich der Gegenwart oder dem, was man "Zeitgeist" nennt, sukzessive entfremden, dämmerte ihm schon bei seinem 60. Geburtstag. Aber noch lebt seine Generation sehr gut mit der Verdrängung dessen, was man als "tiefe Zeitwende" am Horizont erkennt. Man suhlt sich im Gefühl einer nicht nur ökonomischen sondern auch sozialen Sicherheit. Aber spätestens mit dem Ausscheiden aus dem aktiven Berufsleben schwindet schleichend die gesellschaftliche und auch politische Relevanz.

Einmal bekannte Charly, dass er Probleme habe, berufliche Projekte anzuschieben, deren Verwirklichung er voraussichtlich nicht mehr miterlebe. Die Jugendlichkeitsvergewisserung bekommt Risse. Ironische Volten werden falsch verstanden, stattdessen bekommen Befindlichkeiten Priorität, verlangen Anpassung. Die Pandemie beschleunigte diese Prozesse. Mit Weggang des Chefs – seine Generation! - musste er erfahren, dass seine Methodik und Expertise nicht mehr gefragt sind. Die ungeduldigen, potentiellen Nachfolger beseitigen die störenden Dauerjugendlichen, wenn es sein muss mit üppigen Abfindungen. Charly beklagt dies nicht, er konstatiert und glaubt nicht daran, dass sie es besser machen. Eigentlich müsste er diese Erosion des scheinbar Unzeitgemäßen bedenklich finden, aber er kennt seine intellektuellen Grenzen.   

Kleebergs Dämmerung ist ein Abgesang, freilich ohne Jammern oder gar Sentimentalität. Das ist kongenial zum nüchternen und phänomenologisch-analytischen Blick Charlys. Nur einmal – beim Tod des Vaters – bricht es (wörtlich) aus ihm heraus. Entsprechend ist die (kurzzeitige) Verwirrung. Ansonsten fallen die Rückschauen, die es zu Beginn reichlich gibt, kühl, gelegentlich schroff aus, denn Melancholie oder gar Sehnsucht kennt diese Figur nicht; sie würden sein Lebens- und Liebeskonzept konterkarieren.

Verstärkt wird dieser Effekt mit einem unprätentiös-allwissenden Erzähler, der nicht auf seiner Position verharrt, sondern sich auch schon einmal direkt an seine Hauptfigur wendet, diesen zu Wort kommen lässt oder den Leser anredet. Im Epilog nimmt sich der Erzähler seinen Charly Renn noch einmal besonders zur Brust. Immer habe dieser in existenzieller Harmonie mit der Zeit gelebt, aber jetzt sei alles anders. Mehrere mögliche Fortsetzungsvarianten werden durchgespielt und dem Leser angeboten. Sie wären allesamt nur noch Gegenstand für einen Unterhaltungsroman. Und so wird das Publikum (oder, um es weniger pauschal zu formulieren: so werde ich) davon überzeugt, dass eine weitere Darstellung von Charlys restlichem Leben keinen (literarischen) Sinn mehr machen würde. Sowohl die Flucht in die Verzweiflung wie auch der Aufbruch in eine verheißungsvolle, spektakuläre Zukunft fallen aus. Charly wird womöglich sein Golfspiel verbessern, später vielleicht die ein oder andere Frau kennenlernen (natürlich mit der entsprechenden Herzregulierung), vielleicht in die Schweiz übersiedeln und ansonsten in eine amorphe Masse eintauchen.

Die Figuren der Karlmann-Trilogie, zuvörderst Charly, sind Archetypen; auch Dämmerung ist (trotz des leicht erkennbaren Ex-Bürgermeisters und des Showmasters) kein Schlüsselroman. Die Handelsfirma, das Künstlerhaus, die Politiker – sie stehen exemplarisch, ohne dass der Autor in Klischeedarstellungen abrutscht. Alles könnte so sein, denn dieses Milieu ist recht gut getroffen. Insgesamt zeigt die Trilogie eine deutsche Mentalitätsgeschichte, ein Sittenbild des Bürgertums der letzten fast 40 Jahre, die sich auch in vielen kleinen, aber feinen Mikroszenen zeigt. In Dämmerung ist es etwa die nahezu satirische Beschreibung der in der Spendengala versammelten Kaufmannschaft, die in Wahrheit längst zu Traditionsposeuren degeneriert sind und mit ihren "Spenden" noch einmal ihre zunehmende Bedeutungslosigkeit camouflieren können. Oder das feinsinnige Portrait des Fitnesstrainers (mit seiner tiefen Covid-Maßnahmenskepsis). Da ist die pensionsreife Bischöfin, die mit einem neuen Glaubenseifer den verstorbenen Vater Charlys für ihre Rede auf die "richtige Seite" bringen möchte. Oder die scheinbar banale Geschichte von Luisas Kaninchen aus Kindertagen, die eine nahezu metaphysische Dimension bekommt.

Karlmann erschien 18 Jahre nach der erzählten Zeit, bei Vaterjahre betrug die Differenz 13 Jahre. Dämmerung hingegen endet im Mai 2022. Es besteht eine gewisse Gefahr, wenn zeitgeschichtlich grundierte Romane zu nahe an die Gegenwart herangeführt werden. Der Blick droht zu stark im Jetzt und Hier verhaftet zu sein; die Wunden, die die Ereignisse (womöglich) hinterlassen haben, sind noch nicht verheilt. Und so ist Dämmerung anders zu lesen als die beiden vorherigen Romane. Bisher waren wir, die Leser, bei und nach der Lektüre klüger, wussten aus der zeitlichen Entfernung heraus mehr, konnten uns über so manche Entscheidung der Protagonisten erheben. Jetzt sind Hauptfigur und Leser auf einer Ebene. Wir wissen nicht, wie der Krieg in der Ukraine ausgeht, wer der nächste US-Präsident oder Bundeskanzler sein wird und wie sich diese Welt entwickelt. Die (bequemen) Bewertungen, die sich aus der Entfernung von mehr als zehn Jahren einstellten, fehlen. Diese Aura der Unschärfe verleiht diesem fabelhaften Roman von Michael Kleeberg einen zusätzlichen Reiz. Und das wird – nehmen Sie mich beim Wort! – dazu führen, dass man Dämmerung in zehn Jahren noch einmal zur Hand nehmen und mit einer Mischung aus Verwunderung und Unverständnis über die einstigen Unbilden und sicherlich auch einer Prise Melancholie lesen wird.

Artikel online seit 30.08.23
 

Michael Kleeberg
Dämmerung
Roman
Penguin Verlag
Hardcover mit Schutzumschlag
480 Seiten
26,00 €
978-3-328-60011-4

 

 


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