Eine lange Reise
Das Buch ist eine
gewaltige Erzählung über drei Generationen einer Patchworkfamilie in Ostafrika.
Die Handlung zieht sich von der deutschen Kolonialzeit am Ende des 19. bis in
die Unabhängigkeit der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts. Der spätere Buchhalter
Khalifa kommt als junger Mann in die Gegend von Tanga in Tanganjika. Erzählt
wird zunächst sein Leben, dann das seines Freundes Ilyas und dessen Schwester
Afiyas. Ilyas geht zu den Askari-Soldaten der deutschen Schutztruppe. Er gelangt
später, nachdem die Engländer nach dem Ersten Weltkrieg Deutsch-Ostafrika
übernommen hatten, nach Deutschland. Die Haupterzählung geht auf den als Kind
versklavten Hamza über, der ebenfalls Askari-Soldat in der Schutztruppe ist. Er
erlebt Schreckliches im Krieg in Afrika und wird in den Bergen vom eigenen
Feldwebel aus Gründen der Eifersucht schwer verwundet. Dennoch überlebt er und
gelangt irgendwie zurück an die Küste nach Tanga. Dort trifft er auf Afiya, die
bei ihrem „Onkel“ Khalifa lebt. Die beiden heiraten und sie bekommen einen Sohn,
den sie nach seinem verschollenen Onkel ebenfalls Ilyas nennen. Er wird
Journalist, gelangt nach Deutschland und recherchiert seine und die Geschichte
seines Onkels.
Figuren und Grund
Die Erzählung ist
berührend, weil sie vor dem Hintergrund der politischen Wirrungen in der
ehemaligen deutschen Kolonie den Weg der Menschen nachverfolgt. Gurnah
beschreibt verschiedene Schicksale und ihre Bedingungen. Es geht dabei immer um
die grundlegenden Bedürfnisse, um Liebe und Zuneigung, darum, aufgenommen zu
werden. Es geht um Wohnraum, um Teilhabe am sozialen Leben, um eine Position in
diesem. Verwundet sind alle Protagonisten und Figuren, sei es durch die
Gemeinheit innerhalb der Familie, sei es durch die Sklaverei oder die
Kolonialmächte. Zugleich aber entfaltet sich ein soziales Leben, das weitergeht.
Dieses lesend, versteht man etwas von der Idee einer traditionellen
ostafrikanischen Gemeinschaft, die in Kenia von Jomo Kenyatta als Harambee
und in Tansania von Julius Nyerere als Ujama beschrieben wird. Das
Erstaunliche, ja das kleine literarische Wunder, dass dem Autor gelingt, besteht
darin, eine Familiengeschichte zu schildern, die auf das Wesentlichste der Dinge
reduziert – Tisch, Bett, Stuhl, Moskitonetz – eine Menschheitsgeschichte
erzählt. Darin findet sich eine wunderbar sublimiert geschilderte
Liebesgeschichte, in der zwei jungen Leute, beide geschlagen und verkrüppelt,
dennoch zueinander finden. Ausgiebig werden ihre Sorgen und Hoffnungen im
Vorfeld geschildert, das Zusammenkommen geht dann ganz rasch und ohne
voyeuristische Effekte vonstatten.
Ein Erzählstrom
Das Eindrucksvolle des
Buches ist sein unspektakulärer Erzählstrom, der warm und seine Umgebung
zugleich gläsern beschreibend, immer durch die Herzen der Personen hindurch ihr
Leben schildert. Die äußeren zivilisatorischen Umstände, die Übergänge der
politischen Regierungsformen spielen eine Rolle als Bedingungen, aber auch als
Verunmöglichungen des Lebens. Der Ton ist so gehalten, dass der Leser diese
Figuren sofort in sein Herz schließt, an ihren Leiden und Freuden teilhat und
mit ihnen in ihren Häusern wohnt. Fremdes afrikanisches Leben erscheint wie das
der eigenen Leute, ganz so, wie man selbst auf Reisen in Afrika und anderswo
erlebt, dass die Hautfarbe irgendwann völlig uninteressant wird.
Das Leben als Kampf
Und so bleibt am Ende
der Eindruck eines stetigen Kampfes gegen die Dämonen, die den Menschen das
Leben überall auf der Welt schwer machen, stammen diese nun aus dem Miteinander
oder von den äußeren Mächten. Man gewinnt das Vertrauen, dass der Kampf trotz
all der Verletzungen, denen die Protagonisten unterworfen sind, doch gewonnen
werden kann. Gurnahs Figuren leben jedenfalls und sie lehren mit all ihren
Unzulänglichkeiten und Schicksalen dennoch auch zu leben. Das Buch überzeugt
durch sein formales Spiel mit Erzähltempo, das zunächst langsam durch
verschiedene Namen; Plätze und Geschehnisse mäandert, um dann aber zwischendurch
und besonders am Ende derartig an Fahrt zuzunehmen, dass die letzten Seiten vom
Leser atemberaubend überschlagen werden. Und trotzdem endet das Ganze nicht in
einem Katarakt und in einer Katastrophe.
Eine Welt
Klappt man das Buch zu,
ist man nicht nur völlig durchschienen von der afrikanischen Sonne, sondern wie
in einer Schneekugel schießt das eigene Leben in Europa mit dem der
Protagonisten in Afrika zusammen. Das aber kommt nicht dadurch zustande, dass
die Unterschiede zwischen den Kulturen eingeebnet würden. Im Gegenteil, gerade
durch die Schilderung des lokalen Kosmos erschließen sich die Gemeinsamkeiten
mit den andern. Wir leben in einer Welt, nicht in der ersten, zweiten oder
dritten, heißt man nun Littlefield, Da Silva, Mkufi oder Schulze.
Die Europäer allerdings profitieren vielfältig vom Leben auf den anderen
Kontinenten, die sie kolonialisieren, wenn auch anders als gemeinhin angenommen.
Die künstlerische Avantgarde lässt sich ohne den sogenannten Primitivismus kaum
denken, wie unlängst der Ethnologe Karl-Heinz Kohl wieder gezeigt hat.
Und der Psychiater Andreas Heinz erinnert daran, dass auch die modernen
Krankheitsbilder nicht ohne die Kolonialisierten auskommen: Der Schweizer
Psychiater Eugen Bleuler verglich die Schizophrenie mit dem Unvermögen der
Afrikaner, eine innere Ordnung aufrechtzuerhalten; sie zerlegten sich
stattdessen in verschiedene Stimmen.
Gurnah zeigt das genaue Gegenteil. In seinem Text ist die Einheit in der
Vielheit apriori vorhanden. Es stellt sich vielmehr erneut die Frage, wer hier
der Verrückte ist.
Vgl.
https://glanzundelend.de/Red24/J-K/karl_heinz_kohl_neun_staemme.htm.
Vgl.
https://www.glanzundelend.de/Red23/G-I/andreas_heinz_das_kolonisierte_gehirn_oder_der_weg_in_die_revolte.htm
Artikel online seit
01.09.24
|
Abdulrazak Gurnah
Nachleben
Aus dem Englischen von Eva Bonné
Penguin Verlag
384 Seiten
26,00 €
978-3-328-60259-0
|