Vom Erwachsenwerden
Die Siegener Romanistin Walburga Hülk legt eine dickleibige Biografie des
französischen Romantikers Victor Hugo (1802–1885) vor. Hugo war der bestimmende
Autor des 19. Jahrhunderts in Frankreich, er ist in Deutschland aber
hauptsächlich als Autor von Abenteuerromanen bekannt: Der Glöckner von
Notre-Dame, Die Elenden oder Die Arbeiter des Meeres galten
hierzulande als gehobene Jugendliteratur und standen oft genug im Schatten der
Abenteuerromane von Alexandre Dumas Vater und Sohn wie etwa Der Graf von
Monte Christo. Hülk zeigt dagegen unabweisbar, dass Hugo nicht nur der
wichtigste Vertreter der französischen Romantik und Freund und Ziehvater von
George Sand, Charles Baudelaire, der Gebrüder Goncourt, Gustave Flaubert und
vielen anderen zu gelten hat. Er war es, der in seinen Romanen Volkstümlichkeit
und Avantgarde, Spiritismus und Rationalität und einen demokratischen Kampf
gegen die Todesstrafe und die Sklaverei mit einem konservativen Sinn verband.
Seine Gedichte nehmen die moderne Lyrik eines Baudelaire und eines Heinrich
Heine vorweg und seine Zeichnungen, Aquarelle und Fotografien weisen ihn als
eine vielfach begabte Künstlernatur aus, der auch eine Selbstdarstellung nicht
fremd ist. Es gelingt der Biografin, sein Leben in vielen Details und Bezügen
zur heutigen Zeit (wie der Restauration von Notre-Dame 2024 nach dem Brand von
2019) wieder auferstehen zu lassen. Nicht ohne Grund ist dieses Buch für den
Deutschen Buchpreis der Kategorie Sachbuch für das Jahr 2025 nominiert. Und es
hat anscheinend gute Chancen, den Preis zu gewinnen.
Wie ein Pfeil fliegt man daher, als ob man selber einer wär‘
Die Aufteilung des Stoffes in die drei Teile des Buches vor, im und nach dem
Exil zeigt die verschiedenen Lebensstationen Hugos an, während derer er zur
persönlichen Allegorie der französischen Dichtung des 19. Jahrhunderts
avancierte, auf die das Bonmot von Jean Cocteau zutrifft, das Walburga Hülk
genüsslich zitiert: Hugo sei ein Verrückter gewesen, der sich für Hugo hielt!
Man merkte der Autorin in jedem Satz an, wie viel Freude ihr das Schreiben
gemacht hat. Das überträgt sich auf Leserin und Leser. Für jede Periode trägt
sie unendlich viele Anekdoten und Details bei, sodass man zuweilen den Eindruck
hat, sie verbessere dieses Leben noch einmal, sodass auch dieses Buch als ein
letztes Werk von Hugo selbst erscheint. Der Wind der Welt geht auch durch sie.
Die Kategorien von Darstellung, Interpretation und Nacherzählung verschwimmen
daher oft in ihrem rauschhaften Schreiben. Aber immer, wenn man denkt, dass es
doch vielleicht etwas zu viel des Guten sei, fängt sie sich wieder und bleibt
bei den Fakten. Mit ihrem Sinn für die Form spart sie zugleich auch die
problematischen Seiten des großen Demokraten und Kämpfers für die Einheit
Europas und die Rechte der Frauen, gegen die Kolonialisierung und für die Rechte
der Kinder nicht aus: seine erotische Manie kommt ebenso zur Sprache wie seine
Sammelsucht und der Hang zu Dingen und Einrichtungen, den schon Immanuel Kant
pathologisch genannt hat.
Der wichtigste Romantiker
Zunächst wird der Sohn eines Generals Napoleons in seiner Epoche vorgestellt,
der als Royalist und Anhänger Karls X. frühe literarische Erfolge feiert. In
rascher Folge entstehen romantische Dramen, Oden und Balladen wie Bug-Jagal,
Cromwell, Les Orientales, Le Dernier jour d‘ condamné,
Hernani, Notre Dame de Paris und viele andere. Die Aufstände 1830
schockieren Hugo, er nimmt Partei für die Unterprivilegierten. Seine Ehe mit
Adèle Foucher wird offen geführt. Zahllose weitere Liebesverhältnisse mit
Schauspielerinnen, Schriftstellerinnen oder Frauen aus dem Dienstpersonal
begleiten seine literarische Produktivität anscheinend so notwendig wie
diejenige von Johann Wolfgang v. Goethe oder Martin Heidegger. 1833 verbindet er
sich mit seiner lebenslangen Geliebten Juliette Drouet. Sie folgt ihm und seiner
ersten Familie wie ein Schatten und wohnt nie weit von Hugo entfernt. Zwischen
den Unruhejahren 1830 und 1848, in denen er sich vom Königtum abkehrt, festigt
sich Hugos Stellung als führender Kopf der französischen Romantiker. Im Jahr
1848, in dem nach dem Juni-Aufstand die II. Französische Republik
ausgerufen wird, ist Hugo Abgeordneter und hält Parlamentsreden zu Demokratie,
Armut, Bildung und Frauenrechten.
Insell(i)eben und Ozean
Der zweite Teil des Buches beschäftigt sich mit den 19 Jahren des Exils. Nach
dem Staatsstreich vom 2. Dezember 1851 von Louis Napoleon Bonaparte und dem
Beginn des Zweiten Kaiserreichs, flieht Hugo mit Familie und Geliebter,
erst nach Brüssel, anschließend auf die Kanalinseln Jersey und Guernsey. Hülk
schildert liebevoll jedes Detail des Familienlebens und der Produktivität des
Patrons, seiner Kinder und der Geliebten, die fleißig seine Texte abschreibt.
Die Beschäftigung mit der Fotografie wird ebenso beschrieben wie die Einrichtung
der Wohnhäuser und der Zustand der Liebesbeziehungen. Während dieser Zeit
beendet Hugo seinen Roman Die Elenden, der ihn endgültig reich und
berühmt macht. Der Aufenthalt auf den Kanalinseln regt ihn zu weiteren Romanen,
Gedichten und Erzählungen an, unter denen insbesondere der Abenteuerroman Die
Arbeiter des Meeres hervorsticht. Der Kampf des tapferen Fischers Gilliat um
seine Geliebte Déruchette findet eine epische Darstellung. Die Bergung der
Überreste eines Dampfschiffes, bei der der Held mit einem großen Kraken kämpft,
findet aber keine Anerkennung. Giliat wird bei Deruchette vom Priester Ebenezer
ausgebootet und stirbt auf dramatische Weise auf einem Felsenthron in der
auflaufenden Flut. Das Buch entwickelt weniger eine explizite sozialkritische
Position als eine epische Auseinandersetzung der Menschen mit Naturgewalten. Wie
bei allen anderen wichtigen Veröffentlichungen berichtet die Biografin die
Umstände der Entstehung und gibt eine genaue Inhaltsangabe der Handlung mit,
sodass ihr Buch nicht nur gut zu lesen ist, sondern auch wissenschaftlichen
Ansprüchen genügt.
Pariser Commune und Hugomania
Der dritte Teil befasst sich mit den schrecklichen Jahren 1870/71. Hülk nimmt
das Leben Hugos zum Anlass, um daran auch die politischen Verwicklungen
aufzuzeigen. Der politische Gegner Hugos, der kleine Napoleon, der ihn
ins Exil zwang, kapituliert im Krieg gegen die Preußen. Die neue französische
Regierung unter Adolphe Thiers führt den Krieg gegen die eigene Bevölkerung
weiter. Erst beschießen die Kruppkanonen Paris, nachdem auch die Regierung
aufgibt, erhebt sich die Pariser Kommune. Diese wird im darauffolgenden
Bürgerkrieg und Klassenkampf von den eigenen französischen Truppen in einer
Weise niedergeschlagen, die selbst die Brutalität der Preußen in den Schatten
stellt. Hugo, der sich zunächst gegen die Kommune ausspricht, stellt sich dann
auf die Seite der Opfer. Das bringt ihm ein erneutes Exil in Belgien und
Luxemburg ein, bevor er wieder nach Paris zurückkehrt. Es beginnt die Zeit, die
unsere Autorin die Zeit der Hugomanie nennt. Trotz einiger Angriffe, ihm
das Eintreten für die Kommunarden verübeln, wird er endgültig der Star der
Pariser Kulturszene. Es gelingt ihm 1873 noch ein weiterer epischer Roman mit
dem Titel 1793 über die Französische Revolution und den sich
anschließenden Terreur. Auch setzt er sich weiter für Entrechtete ein, gegen
Pogrome und für die Freiheit in Amerika. Sein Projekt der Vereinigten Staaten
von Europa wird ernsthaft erst im nächsten Jahrhundert in Angriff genommen. 1885
stirbt Hugo und wird neben Rousseau und Voltaire im Pantheon beigesetzt.
Hugo – ein Freigeist, Dichter, Libertin und die Arbeiterinnen des Sexes
Die Biografin schildert lebensnah alle Stationen und bespricht alle wichtigen
Veröffentlichungen des Jahrhundertdichters. In ihrem letzten Kapitel resümiert
sie Hugos Nachleben – unter anderem seine Ablehnung durch die Postmodernen. Sie
hofft auf eine Renaissance nicht nur in Frankreich, sondern auch in Deutschland.
Dazu liefert sie mit ihrem Buch einen gewichtigen Beitrag. Die
Aufklärung über die Unübersichtlichkeit der einzelnen Geschehnisse im 19. Jahrhundert in Frankreich,
auch als Spiegelbild der Entwicklung in Deutschland, trägt zu einem
gegenseitigen Verständnis der Geschichte und der Kultur beider Nationen bei.
Entsprechendes steht z. B. für Friedrich Nietzsche noch aus. Zu loben ist Hülks
Fokussierung auch auf Hugos erotische Fixierungen und damit auf eine Praxis, die
vermutlich nicht immer einvernehmlich vonstattenging. In dem Kapitel
Dienstmädchen Jahre – Hugo und seine Frauen wird dem Thema, wie überall
sonst auch in dem Buch, detailliert nachgegangen. So erfahren die Leser, dass
Hugo bei den Pariser Prostituierten beliebt war. Am Schluss der Biografie wird
davon berichtet, dass er, der gottgläubig war, aber die Kirche nicht leiden
konnte, das Salbungsangebot Kardinal Guiberts zurückwies. Anschließend heißt es:
»Die
erzkonservative Presse hatte den Zorn des Aktivisten jedoch keineswegs
vergessen, die katholische Zeitung La Croix, die nach der Absage an
Kardinal Guibert grollte, nannte die Bestattung im
Pantheon einen Irrtum und versuchte, das Ereignis des Todes und der
Glorifizierung kleinzureden. Manch einer höhnte auch, Gott habe aus dem Pantheon
weichen müssen, um Hugo Platz zu machen. Goncourt, der ebenso wie der
mittlerweile verstorbene Flaubert seine Verachtung der Menschenmassen nie
verhehlt hatte, schrieb, dass ihn diese „Kirmes“ anekelte, die mit einer Million
Teilnehmern die Größenordnung der Pilgerströme zu katholischen Festtagen im Rom
des 15. Jahrhunderts erreichte. Er mischte sich „wegen übergroßen Schmerzes“
nicht unter die Pariser Bevölkerung, die anstelle der „Parade des
Faschingsochsen“ nun in republikanischem Eifer das Begräbnis Hugos feierte,
nachdem zwölf Dichter in der Nacht zuvor Totenwache gehalten hatten. Und da
Goncourt sich im Journal oft über Hugos Erotomanie lustig gemacht hatte,
konnte er es nicht lassen, ein „kurioses Detail der Polizeimeldungen“ zu
erwähnen: „In den priapischen Nächten nach Hugos Tod arbeiteten auf den Wiesen
der Champs-Élysées alle ‚Fantines des gros numdros‘, ihre ‚Mösen trugen
Trauer‘.“ Es hieß noch, die Prostituierten hätten allen im Gedenken an Hugos
Großzügigkeit ihre Dienste kostenlos angeboten.«
L'Intransigeant
schrieb am 3. Juni: „Das Jahrhundert ist vorbei, ungeachtet der Jahreszahl.
Victor Hugo nimmt es mit in sein Grab.“
Paris, Paris: Victor-Hugo-Stadt
Solche Stellen zeigen, dass es die Biografin fertigbringt, einen rauschhaften
Stil mit Witz und Sachinformation und vor allem einer Gewichtung der einzelnen
Facetten Hugos zu verbinden. Sie schafft damit das, was anderen Biografinnen und
Biografen im Dschungel des Geschlechterkampfes nicht immer gelingt. Dieses Buch
ist also kritisch, aber zugleich auch engagiert. Im Kontext einer Libertinage
wird so nicht nur die Bedeutung der französischen Romantik herausgestellt, die
in Deutschland oft genug (wie auch diejenige der englischen und den anderen
europäischen Ländern) von den nationalistischen Betrachtungen überblendet
werden.
Es wird aber auch noch einmal die Ernsthaftigkeit von Hugos Literatur deutlich,
der damit keineswegs nur ein Jugendbuchautor ist. Auch in Walter Benjamins
Passagen-Werk, dass sich ebenfalls panoramatisch mit dem 19. Jahrhundert in
Frankreich beschäftigt, kommt Hugo eine wichtige Rolle zu. Dazu, das zu
erkennen, trägt Hülks Buch auch bei. Es kann durchaus für sich und seinen
Gegenstand dastehen, denn es erschließt das 19. Jahrhundert exemplarisch in
Frankreich. Hülks Darstellung hilft aber auch, die modernen Bezüge im
Passagen-Werk ebenso deutlicher hervortreten. Es steht damit in einer Reihe
mit einem weiteren Paris-Buch, nämlich demjenigen von Anne Weber.
All das trägt zur Aktualisierung des Bildes von Paris als Welthauptstadt des 19.
Jahrhunderts bei. Nicht unwesentlich also, dass bei Walburga Hülk von den
Bestrebungen die Rede ist, die Stadt überhaupt nach Victor Hugo zu benennen! Das
hat Folgen auch für die Romanistik: Jede zukünftige Beschäftigung mit dem Mythos
von Paris wird ohne Hülks Buch unvollständig sein.
Artikel online seit 02.05.25
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Walburga Hülk
Victor Hugo. Jahrhundertmensch
Eine Biografie
Matthes und Seitz Berlin
500 Seiten
38,00 €
978-3-7518-2033-2
Siehe auch:

»Alles
oxidiert.«
Alexander Pschera ist tief in
Victor Hugos Ozean
aus Notizbüchern, und Skizzenheften
eingetaucht.
Von Jürgen Nielsen-Sikora
Text Lesen
„Wer bin ich? Allein bin ich niemand. Mit einem Grundsatz bin ich
alles. Ich bin die Zivilisation, ich bin der Fortschritt, ich bin
die Französische Revolution, ich bin die soziale Revolution.“
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