Neben dem 17 Jahre älteren Stendhal (Marie-Henri Beyle)
und dem 22 Jahre jüngeren Gustave Flaubert bildet Honore de Balzac die Mitte im Triptychon der großen französischen Realisten des 19. Jahrhunderts.
Sein voluminöses Hauptwerk, das er in Anlehnung an Dantes »Göttliche«,
»Die menschliche Komödie« (»La Comédie humaine«) genannt hat, blieb
trotz seiner rund 90 fertiggestellten Bände unvollendet. Kolossales
Fragment eines auf 137 Romane und Erzählungen angelegten, in Sektionen1)
unterteilten, weit verzweigten Gesamtwerks, dessen Einzelbände zu einem
Gewebe aus von Roman zu Roman wiederkehrender Personen wurden.
»Von den rund 2.000 Personen, die in der Comédie humaine ihren Auftritt
haben, sind es insgesamt 593 Darsteller, die mehrfach in Haupt- oder
Nebenrollen in den einzelnen Werken figurieren.« (Willms, Balzac, S.
182)
Mit dieser literarisch revolutionären Idee einer vernetzten Personage entwarf Balzac mit seinem psychologischen Realismus ein opulentes
Sittengemälde der französischen Gesellschaft der ersten Hälfte des 19.
Jahrhunderts, als deren Sekretär er sich bezeichnet hat:
»Der Zufall ist der größte Romandichter der Welt: um fruchtbar zu
werden, braucht man nur zu studieren. Die französische Gesellschaft
sollte der Historiker sein, ich nur ihr Sekretär. Wenn ich die Inventur
der Laster und Tugenden aufnahm, wenn ich die hauptsächlichsten Daten
der Leidenschaften sammelte, wenn ich die Charaktere schilderte, wenn
ich die wichtigsten Ereignisse des sozialen Lebens auswählte, wenn ich
durch die Vereinigung der Züge vieler gleichartiger Charaktere Typen
schuf, so konnte es mir vielleicht gelingen, die von so vielen
Historikern übersehene Geschichte zu schreiben: die der Sitten.«
Lesen
Sie gefälligst Balzac!
Ich kann mich nicht erinnern, daß es so etwas schon mal gegeben hat. In
der Programmvorschau für Herbst und Winter 2007/08 des Diogenes Verlages
liest der Verleger Daniel Keel uns die Leviten.
In einem als Brief gestalteten Text an die »Lieben Kolleginnen, lieben
Kollegen, liebe Leser«, schreibt er engagiert:
»Zweimal haben wir versucht, den deutschen Leser mit Balzacs
vollständiger 'Comédie Humaine' in 40 Bänden zu beglücken. Zweimal
erwies sich das Vorhaben als vergebliche Liebesmüh. Vielleicht war es
zuviel aufs Mal. Jetzt machen wir einen dritten, ich fürchte letzten,
Versuch, uns auf eine Art 'Best of...'Aktion beschränkend: sieben
Romane, sieben Erzählungen, gründlich revidierte Übersetzungen,
kompetente Einführungen, Neusatz und Nachworte von Friedrich Dürrenmatt,
Hugo von Hofmannsthal, Wolfgang Koeppen, W. Sommerset Maugham, Hans-Jörg
Neuschäfer, Georges Simenon, Oscar Wilde, Stefan Zweig. Dazu erscheint
die mitreißende neue Balzac-Biographie von Johannes Willms.
Ich bitte Sie, überwinden Sie ihre Indolenz. Gönnen Sie sich endlich den
Genuß der genialen Werke dieses Shakespeare des Romans.
Ich danke Ihnen, auch in Ihrem Namen.
Herzlich,
Daniel Keel«
Bravo, Herr Keel. Recht haben Sie! Betrachtet man allein die Tonnen
sinnlos bedruckten Papiers, die uns stapelweise das abstruse,
pseudo-historisierelnde Leben von Wanderhuren oder Quacksalbern auf dem
literarischen Niveau der neuen deutschen »Volksmusik« vorgaukeln, und
damit die Buchandlungen verstopfen und zu seelenlosen 'Points of Sale'
degradieren. Lesen ist kein Wert an sich! Dies wird es erst durch ein
'gutes' Buch. Das Dumme ist nur, daß man den Leser nicht zu seinem Glück
zwingen kann...
Balzac betreffend, hat die von Herrn Keel angesprochen Indolenz der
Deutschen tiefe Wurzeln:
So urteilte kein Geringerer als der von uns so
verehrte Geheime und ebenso intrigante Rat Goethe bereits am 27. Februar
1832 ebenso geringschätzig wie überheblich über Balzac: »Man kann an
jedem Detail Anstoß nehmen, auf jeder Seite Übertretungen, Extravaganzen
bemerken, kurz, es fallem einem mehr Unvollkommenheiten ins Auge, als es
brauchte, um ein gutes Buch zu ramponieren, aber dennoch ist es
unmöglich, darin nicht das Werk eines über dem Durchschnitt gelegenen
Talents zu erkennen und es nicht ohne Interesse zu lesen.« (Willms,
Balzac, S. 7)
Und das »Meyers Großem Konversationslexikon« von 1904 weiß genau: »...
seine Schilderungen sind jedes idealen Elements bar, die letzten Gründe
menschlicher Handlungen führt er auf die Geldsucht und den gemeinsten
Egoismus zurück, besonders seine Schilderungen des weiblichen Herzens
sind oft von empörendem Naturalismus. Dazu kommen häufig große
Flüchtigkeit in der Anordnung des Stoffes, Geschmacklosgkeit im Ausdruck
und viele Mängel im Stil.« (ebenda, S. 7/8)
Balzac - eine Biographie
Johannes Willms setzt den
Schlußstein im Gebäude der Menschlichen Komödie
Hier kommt Johannes Willms
mit seiner grandiosen Biographie über den Berserker und Verschwender
ins Spiel. Auf 350 Seiten erklärt er uns das Phänomen Balzac. Mit seiner
ausgeprägten Lust am Erzählen erzeugt Willms eine lebendige
Unmittelbarkeit zu dem ewig großen Jungen Balzac, der zeitlebens über
seine Verhältnisse gelebt und gearbeitet hat. Der Schlüssel zu Balzacs
Leben
liegt für Willms dabei in dessen Kindheit und Jugend, die der junge
Honoré
größtenteils in Internaten und kasernenartigen Schulen verbringen mußte,
in die ihn seine Mutter verfrachtet hatte, die, zur mütterlichen Liebe
offenbar unfähig, das Kind als
unzumutbare Belastung empfunden haben muß.
Im Stile eines psychologischen Portaits führt uns Willms durch das
abenteuerliche Leben
des Romanciers, der uns die Erfahrungen anderer zwar meisterhaft schildern
konnte, für sein eigenes Leben daraus jedoch keine Lehren gezogen,
sondern zeitlebens daran geglaubt hat, daß sich der Schein im Sein verzinsen würde.
Zum einen lernen wir einen reaktionären, geltungssüchtigen Opportunisten
kennen, der, süchtig nach Ruhm und Reichtum, nichts unversucht läßt, in
der postnapoleonischen Gesellschaft Frankreichs, deren oberstes Gesetz
»enrichez vous!« (Bereichert Euch!) lautete, Karriere zu machen. Aber
auch einen liebenswert (?) unbelehrbaren Glücksritter, der sich
rettungslos in hanebüchende Geschäftsideen verstrickt.
Glanz und Elend liegen bei Balzac stets sehr dicht beieinander,
überlagern sich regelrecht, wobei der
Glanz selten Widerschein eigenen Leuchtens, meist Abglanz eines Popanzes
ist, während das Elend in form stetig steigender Schulden zunehmend
existenzbedrohende Dimensionen erreicht. Es scheint, als wäre der
Schriftsteller Balzac, Alexis Sorbas und Don Quichotte in einer Person,
die Entelechie des ewigen (traumatisierten) Kindes, der, um sein
grandioses Werk zu schaffen, sein Leben, gemessen an heutigen
bürgerlichen Maßstäben, ebenso glorreich verfehlen mußte.
Willms widersteht allerdings standhaft der Versuchung, diesen Mythos zu
etablieren, dazu ist seine Quellenarbeit zu präzise. An den
biographischen Schlüsselstellen finden sich stets die passenden Stellen
aus Briefen Balzacs oder dessen Zeitzeugen.
In diesem Herbst sind zahlreiche Biographien erschienen, allein zu
Joseph Conrad und Ernst Jünger jeweils zwei. Willms Buch ragt aus der
Masse dieser Werke auch wegen seiner literarischen Qualität heraus. Mit
seinem »Balzac« hat er den paßgenauen Schlußstein im Gebäude der
Menschlichen Komödie gesetzt. Herbert Debes
Johannes Willms -
Balzac
- Eine Biographie
Diogenes Leinen, 368 S.
ISBN 3-257-06624-4 7 Euro 24.90
1)
- Études de moeurs
- Scènes de la vie privée
- Scènes de la vie de province
- Les Célibataires
- Les Parisiens en province
- Les Rivalités
- Scènes de la vie parisienne
- Histoire des Treize
- Les parents pauvres
- Scènes de la vie politique
- Scènes de la vie militaire
- Scènes de la vie de campagne
- Études philosophiques
- Études analytiques
- Pathologie de la vie sociale
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