Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik

 

Home  Termine   Literatur   Krimi   Biografien, Briefe & Tagebücher   Politik   Geschichte   Philosophie  Impressum & Datenschutz


 











Überbordende Erzähllust

»Es war eine Endzeit. Aber man hatte sich an diese gewöhnt. Sie würde nie enden.«

Peter Handke erzählt sein neuestes Buch »Der Große Fall«
als ein Feuerwerk von Bildern, Begegnungen, Geräuschen, Gerüchen und Reflexionen.

Von Lothar Struck
 

In Zeiten einer inflationären Verschlagwortung auch innerhalb der Literaturkritik könnte man bei einigem guten (oder schlechtem?) Willen die letzten Erzählungen von Peter Handke (mit Ausnahme der Jugoslawien-Reiseberichte und -Essays) salopp auch (oder gerade?) unter »Fantasy« oder mindestens als »Märchen« verorten (dabei bekam nur »Die Abwesenheit« vom Autor diese Bezeichnung). Zwar bleibt der Leser von Zauberern, Aliens, Kämpfern mit Laserschwertern um die Weltherrschaft oder ähnlichen Ingredienzien modernen Harry-Pottertums verschont. (Nebenbei gefragt: Hatte nicht schon Prospero (s)einen Ariel und Ibsens Peer Gynt die Trolle, die den Fortgang einer Geschichte bestimmten?) Aber die Phantasie wird in und durch diese Erzählungen nicht nur angeregt, sondern geradezu herausgefordert. Freilich wäre die kommode Rubrizierung abwegig, denn auf »Action« und »Plot« heruntergekommen wie das Genre sind Handkes Bücher trotz ihrer in der Zukunft spielenden Geschichten und gelegentlichen magisch-surrealen Momente wirklich nicht.

Zunächst einmal sind Handkes Figuren Forschungsreisende in eigener Sache; einsame Sucher nach einem Platz in der trost-losen Welt, nach einem Aufgehoben-Sein. Dabei transformiert Handke seine Helden mit jedem Buch immer weiter in eine Zukunft hinein. »Mein Jahr in der Niemandsbucht«, 1994 herausgekommen, zeigte Gregor Keuschnigs Sesshaftigkeit und Selbstvergewisserungsversuche am Rand einer Metropole im fiktionalen Jahr 1997 (während in Deutschland ein Bürgerkrieg tobte). 1997 erschien die Erzählung vom Apotheker aus Taxham, der von seinem »stillen Haus« aus einer »dunklen Nacht« aufbrach (»In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus«), zunächst mit zwei Kumpanen, später dann alleine; ein monatelanges Reisen und Stocken, von Salzburg bis nach Spanien (und schließlich wieder zurück). Fünf Jahre später begab sich eine »Bankfrau« auf die Expedition in die mit jugoslawischen Versatzstücken durchzogene spanische Sierra de Gredos, um ihrem »Bildverlust« zu entkommen (oder auch nicht). In beiden Büchern bleiben die Dimensionen des Zeitsprungs diffus, obwohl es sich deutlich um ein Erzählen aus einer Zukunft heraus handelt. Konkreteres erfährt der Leser vom ehemaligen Autor in der »Morawischen Nacht« (2008), der sich auf seine Lebensabschiedsreise zwanzig Jahre nach dem letzten großen Krieg in der Region begibt - also 2019.

Endzeit und Nachbarnkrieg

Und das neue Buch, »Der Große Fall«? Es war eine Endzeit. Aber man hatte sich an diese gewöhnt. Sie würde nie enden. In den U-Bahnen sitzen Menschen mit Telefonhelmen, die vorgeschrieben sind, um den Mobiltelefonlärm abzudämpfen. Und gegen Ende sieht man den Staatspräsidenten auf einem großen Bildschirm und der Held der Geschichte liest ihm von den Lippen eine Kriegserklärung ab, die sich nicht so nannte, sondern »Eingriff«, »Intervention«, »Gegenschlag«, »Reaktion«. Die Menschen - zum Krieg verurteilt, bis ans Ende der Zeit? -  befinden sich nicht im Bürgerkrieg (der sei ausgereizt - so der kleine Hieb gegen Enzensberger), sondern im größten oder grausamsten, dem Nachbarnkrieg, ein irreführender Ausdruck, weil da immer nur zwei aufeinander losgingen und sich deren Familien, wenn sie, keine Seltenheit, überhaupt eine hatten, in der Regel aus den Kampfhandlungen heraushielten. Kein Psychophysiker vermag dies zu erklären. An Friedensschluß war nicht zu denken. Der Nachbarnkrieg konnte nur enden mit dem Tod, dem so oder so gewaltsamen, eines der beiden oder der beiden kriegführenden gemeinsam. Worte standen außer Frage, und sowie nicht mehr geschrien wurde, hieß da: der tödliche Ausgang, ein- oder zweifach, war nahe.

Seltsam, dass diese gewalttätige Stimmung dann doch nicht ernsthafter die Reise der Hauptfigur, eines Schauspielers, bestimmt. Zwar wird er einmal kurz als Terrorist, als lächerlicher Alleintäter von der Polizei festgenommen (und sein Tascheninhalt als Bombenwerkzeug missdeutet) und einmal stinkt es förmlich nach Gewalt, ein wahrer Pestgestank. Und gegen Ende der Reise entdeckt er ein Graffiti mit dem Text »Nicht versöhnt« (der Titel der Böll-Verfilmung »Billard um halbzehn« von Straub/Huillet; der Titel heißt weiter: »Es hilft nur Gewalt, wo Gewalt herrscht«). Es gibt also immer wieder subtile Bedrohungsbilder. Aber irgendetwas geht von diesem ehemaligen Schauspieler, der vor Jahren feststellte, dass für ihn nichts mehr darzustellen war, aus; eine Art Gleich- oder Sanftmut gepaart mit Unscheinbarkeit. Er ist jemand der sich genügt…als er. Handke erzählt einen Tag im Leben dieses Schauspielers; einen ganz besonderen Tag - den Tag des Großen Falls. Geweckt von einem Donnerhall im stillen Haus einer abwesenden, geschäftlich erfolgreichen Frau, die er nicht liebt, aber verehrt, duschend im Gewitterregen, eine Amokgeschichte lesend, sich dann ankleidend und auf den Weg machend in die Stadt, eine Metropole, wo er am Abend geehrt und am nächsten Tag - endlich - einen neuen Film drehen soll; es ist die Rolle eines Amokläufers. 

Kippbilder zwischen Wildnis und Welt, Illusion und Realität

Eine Expedition (oder eher Wallfahrt?) - erzählt als ein synästhetisches Feuerwerk von Bildern, Begegnungen, Geräuschen, Gerüchen und Reflexionen. Dabei kippen dem Schauspieler, dessen Geschichte von jemandem erzählt wird, der um den Fortgang weiß und fast fürsorglich von «seinem« Schauspieler spricht, ständig die Bilder und Eindrücke. Er kommt kaum mit dem Erzählen nach: Eben noch das wohlige Hervorheben der Einsamkeit in der Waldlichtung. Dann schnurstracks die Entzauberung auf dem Fuss: Und siehe da: auch die schöne Weglosigkeit der Lichtung, einzig weit und breit das durch sie hinziehende hohe Gras, hatte getäuscht. Welch Heiterkeit in dieser neuen Weltsicht liegt und dennoch: Die frühere Weltferne oder Wildnis spielte freilich noch in die Welt da hinein. Trotzdem werden die Menschen nicht mehr als störend oder gar bedrohlich empfunden. Stattdessen stellt sich eine Harmonie ein; eine Harmonie für eine lange Sekunde aufblitzend, die ihn verband mit den anderen auf der Lichtung und die Unbekannten bildeten unter dem bläuenden Himmel und den vom Meer oder von sonstwo daherziehenden Wolken ein Miteinander, sich zeigend im gegenseitigen oder Vorweg-Grüßen des anderen. Parallelen zu Martin Bubers »Ich und Du« sind unverkennbar. Es erfüllt sich - eben für diese eine lange Sekunde - die in so vielen Büchern Handkes immer wieder aufflammende Menschheits- oder Geborgenheitsutopie, freilich nicht mehr als (gesellschafts-)politisches Projekt sondern als Produkt eines zwischen Illusion und Realität schwankenden Geistes, der die Erhabenheit der Illusion nur mit sozialer Kälte erreichen kann, während das In-der-Welt-Sein zwar den erhabenen Phantasieraum zerstört, aber das mindestens zeitweise so ersehnte Miteinander ermöglicht. »Das neue Diesseits« möchte der Schauspieler einen zu drehenden Film nennen. Diese Lust auf Dasein setzt voraus, die reale Welt über das Erhabene hinweg wahrzunehmen. Also müssen Handkes Wallfahrer ständig zwischen beiden Welten »pendeln«.

Da ist es auch kein Widerspruch das Menschenfeindschaft und Menschenfreundlichkeit abwechseln, ja einander zu bedingen scheinen. Und so changiert der Schauspieler zwischen Mordlust, der Variante des Vaterunser mit …und erlöse uns von uns, dem Übel und Van Morrisons »…a wonderful night for a moondance«. Nie bleibt es beim vordergründigen oder vordergründig hintergründigen; es gibt keine Eindeutigkeiten. Dies ermöglicht den zweiten Blick, der Wahrheit und Wahrhaftigkeit hervorbringt - im Gegensatz zum ersten Blick, der nur ein Vorurteil war und mögliche Weitere verstellte.

Balancierend in Zeit- und Raumschwellen

Es gelingen Handke wunderbare Bilder und Szenen, beispielsweise vom Schnuppern der Nachregenluft. Die Rettung einer Biene, die in einem Regenwassertrog um ihr Leben kreiselte. Oder von einem Brombeersammler, der zugleich auch Börsenmensch ist und mit herunterbaumelnden Ohrhörern entzückt die Früchte erntet (denn die Epoche des Überflusses ist vorbei). Oder die Erzählung vom Niemandsland zwischen Stadt und Peripherie, diesem Nichts-und-wieder-Nichts, wo einmal etwas gewesen war und obwohl es da kaum etwas zu sehen gab, war es, als könne man sich daran nicht satt sehen. Parallel die Zeichen der Entfremdung von der Natur, etwa was das Vergessen der Zeitschwellen angeht: Das Platzen des Springkrauts, wenn man es nur leicht streifte: eine Zeitschwelle im Jahr, im Sommer, so wie das Nachwehen der gerade aufgeblühten Haselkätzchen in dem sonst unmerklichen Wind eine Zeitschwelle im Vorfrühling war, und das feine Aufreißen der Nußschalen eine Zeitschwelle im Vorherbst. Noch und noch solche Zeitschwellen im Jahr hatte er einmal gekannt. Aber inzwischen hatte er die allesamt vergessen. Er wußte sie nicht mehr, oder wollte sie nicht mehr wissen; sie hatten, für ihn, ihre Bedeutung verloren. Aber auch hier gleich wieder die Ausnahme: Nur eine der Zeitschwellen konnte und wollte er nicht vergessen: das Kreisen des Adlers, hoch und höher im Himmel, ruhige Spiralen im Blau, sich entfernend und zuletzt wiederkehrend und weiter die Kriese ziehend, während unten auf der Erde, nach Stunden der Stille, die Stunde der noch im einen Grad tieferen, einer stofflichen Stille anberaumt war… (Hieß nicht die Apotheke aus Taxham »Zum Adler«?)

Zufällige Wiederbegegnungen mit einstigen Freunden oder Nachbarn geraten ernüchternd. Sie sind übermäßig gealtert, verstört, heruntergekommen; fremder Hilfe bedürftig. Ein früherer Blickfreund schreit vor lauter Verzweiflung(?), wird zum Ur-Menschen. An einer Bushaltestelle begegnet er einem ehemaligen Wirtschaftsmann (wieder ein »ehemaliger«) und einstigem »Fast-Freund« mit einer Begleiterin. Am Ende flieht der Schauspieler fast vor der Aufgabe, sich diesem Menschen zu widmen und phantasiert die Pflegerin als bösen Geist. Eher werden neue Bekanntschaften geschlossen, wie mit dem Priester, der für ihn alleine in einer kleinen Kirche mitten in der Trubelmetropole die Messe liest und dringlich predigt (Josef K. im Dom?). Danach gibt es der Sakristei einen Schmaus und der Priester verwandelt sich in einen Mann mit blaue[r] Arbeitskleidung und redet den Schauspieler mit Christoph an, der das Gewicht der Welt (sic!) zu tragen habe.

Handke zeigt seinen Schauspieler im »Großen Fall« auf Zeit- und Raumschwellen balancierend wie auf einem Schwebebalken. Der Leser ist eingeladen, mitzubalancieren, beim Gehen querwaldein, waldaus oder querstadtein nicht zu stolpern, den Unterschied zwischen Stehenbleiben und Innehalten zu erleben, der Differenz zwischen Helfen und Retten gewiss zu werden und diese Mischung aus Leichtigkeit und gleichzeitig Ernsthaftigkeit nachzuempfinden. Es gibt skurril anmutenden Ideen, wie zum Beispiel dem Irrtumslehrpfad (gegen den Waldlehrpfad), in dem der blickschärfende Blitzmoment, der die Erkenntnis des Irrtums begleitet gefeiert wird. Zuweilen laviert Handke zwischen gelungener, belebender Poetisierung und schwerer, metaphysischer Instrumentierung, was jedoch selten ins düster-allegorische umkippt, weil sich der Erzähler immer wieder selbstironisch spiegelt und seinem eigenen Zeugnisablegen gegenüber mit einer gewissen Skepsis ausgestattet zu sein scheint. So folgt der Leser willig dem Sog dieser Geschichte, die Ereignis auf Ereignis aneinanderreiht und doch mehr ist als nur Abfolge.

Spiel mit Motiven und Assoziationen

Einige Motive dieser Expedition des Schauspielers erkennt man aus dem erwähnten Apotheker-Roman wieder. Beispielsweise der mobile Kaufladen eines »Steppenhausierers« mit dem Ladenschild ULTRAMARINOS (freilich: einmal auch in der Sierra de Gredos). Oder das gelegentliche Rückwärtsgehen des Helden. Oder das Zittern; die Augenblicke der physischen Kraftlosigkeit. Schließlich begegnet man abermals nur halbreifen Brombeeren - für immer auf einer Seite grün bleibend. Oder der zumeist auf dem Boden verharrende Blick des Protagonisten; das Umhergehen mit gesenktem Kopf (und nur wenige Male den Kopf in den Himmel ragt; einmal, um dem Gestank seines Mitmenschen auszuweichen). Und natürlich spielt eine (diesmal) abwesende und dadurch gerade präsente Frau eine wichtige Rolle (!). Handke spielt auch mit den Assoziationen des Lesers: Das Überqueren der Autobahn im Lärm der Fahrzeuge erinnert zunächst an Bruno Ganz' Rolle in Handkes Film »Die Abwesenheit«, aber das Bild, hier Bruno Ganz wallfahren zu sehen wird jäh zerstört, als es heißt, der Schauspieler habe noch nie einen Engel gespielt.

Es ist schon gekonnt, wie Handke diese Motive neu ordnet und so eine Art Kontinuum erschafft. Da kreuzen sich (scheinbar) die Spuren der Verirrten und man fragt sich, ob es nicht sein könnte, dass sich die Figuren irgendwann einmal treffen oder getroffen haben oder vielleicht Nachfahren voneinander sind? Nur die Spatzen scheint es nicht mehr in dieser Endzeit zu geben (und das ist ja schon heute immer mehr der Fall).

Zuletzt beschließt der Schauspieler die Ehrung auszulassen und überlegt auch dem Filmdreh am nächsten Tag fern zu bleiben. So stromert er durch die Stadt (»The whole man must move at once« - Hofmannsthals Zurückgekehrten zitierend), hört der Straßenmusik zu, schreibt einen Brief an seinen Sohn (also ein Gegen-Kafka!) und verabredet sich mit der Einen. Auf dem Platz vor der Kathedrale, die Frau sehend, verharrt er: Er stand, und stand, und stand. Und dann geschieht er (es?), der Große Fall. Aber eine Sekunde vorher ist das Buch zu Ende.

Und was ist das nun, dieser »Große Fall«? Vielleicht das große Zittern? Vielleicht ein Herunterfallen vom »Schwebebalken« der kippenden Schwellen-Bilder? Ein Schlag eines ihn im Gemenge erkennenden Nachbarn? Der Weltuntergang? Nur eine falsche Fährte des Autors, der das Buch, wie man ganz am Schluss lesen kann, in »Great Falls, Montana« geschrieben hat? Oder etwas ganz anderes?

Die kursiv gedruckten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch.

 

Peter Handke
Der Große Fall
Suhrkamp
Gebunden, 280 Seiten
24,90 €
978-3-518-42218-2

Leseprobe


Glanz & Elend
- Magazin für Literatur und Zeitkritik
Home   Termine   Literatur   Blutige Ernte   Sachbuch   Politik   Geschichte   Philosophie   Zeitkritik    Impressum - Mediadaten