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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Glanz&Elend
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Petits riens (siebzehn)

Von Wolfram Schütte


Foto: © Roderich Reifenrath

Eingeweide-Mahnung Plötzlich ist mir klar geworden, was mich kürzlich bei einem Foto aus der von Bomben zerstörten Innenstadt von Homs oder Aleppo so besonders bewegt hat. Und zwar verdanke ich die Einsicht dem Zufall, dass ich kurz nach den aktuellen Bildern der städtischen Zerstörung durch Bomben in Syrien historische Fotos von den Zerstörungen der alliierten Bombenangriffen in deutschen Großstädten sah.

Das Flächenbombardement der Spreng- & Brandbomben des 2.Weltkriegs hinterließen: Berglandschaften von Steinhaufen, manchmal auch ein ganzes Mehrfamilienhaus, dem pittoresk eine Außenwand fehlte, so dass man in seine Stockwerke blickte; vornehmlich aber: endlose Ruinenfelder, hügelig aufgeschüttet. Die Hinterlassenschaft des Flächenbombardement – aufgenommen aus einem Flugzeug über Hamburg, Berlin, Köln etc. - fasste das Grauen der Zerstörung in Inbildern des Ausgehöhlten & der Leere oder der horizontal aufgehäuften Steinhaufen.

Dagegen sieht das, was von Aleppo etc. nach Luftangriffen übrig bleibt, wie die herausgerissenen Därme eines erlegten Tieres aus. Die unterschiedlichen Inbilder des modernen Kriegs – hier die leere Höhle, dort das aus dem Leib gerissene Gekröse – ergeben sich aus den unterschiedlichen Baumaterialien. Die im Zweiten Weltkrieg in Europa durch Luftangriffe zerstörten Häuser stammten aus einer Zeit, in der noch weitgehend mit (Back-)Stein & Eisenträgern gebaut wurde & die Bombenzerstörung die Bauteile in Einzelstücke zerlegte.

Mit dem Beton, in dem Eisengitter eingelassen sind, entstehen größere Baustücke, die auch bei der Zerstörung noch fester verbunden bleiben, wenn auch oft nur verbogen & an den gebogenen inneren Stahlteilen hängend. Eben diese herabhängenden Betonstücke erzeugen die Imago eines verletzten Leibes, aus dem die Gedärme hervorquellen. Darin ist das besondere Grauen dieser Bilder zu sehen.

Wenn ich jetzt  erinnernd von der Gegenwart zurückdenke, wann ich derlei städtische Kriegsbilder zum ersten Mal gesehen habe, fallen mir das tschetschenische Grosny ein oder Gaza-Stadt. Also an Städte als Schlachtfelder, in den die einen, militärisch-technisch unterlegen, die Zivilbevölkerung & die Zivillokalitäten zur Geisel ihres Guerillakampfes gemacht haben & die waffentechnisch überlegenen Anderen genauso skrupellos mit ihren  Flugzeugen & Bomben hantieren.

Maos Metapher vom Guerilla-Kämpfer, der in der Bevölkerung „untertauchen solle wie der Fisch im Wasser“, bezog sich noch auf eine punktuelle, vor allem sabotierend kämpfende Kriegsführung auf dem Lande – oder im Dschungel. Wie der Vietkong im Krieg gegen die USA, die damals mit ihren bis heute nachhaltig giftigen Entlaubungsmittel „Agent Orange“ auf die „Zivilbevölkerung“ auch keine humanitäre Rücksicht nahm.

Die „Batteillen“ der europäischen Erbfolgekriege über die napoleonischen Gemetzel bis hin zum 1.Weltkrieg, so grauenhaft sie alle waren, fanden noch auf Schlachtfeldern statt, heute aber in den Schlachthäusern der Städte. Das Wort „Zivilbevölkerung“ & die Klage darüber, dass sie nicht geschont werde, klingt fast obszön, weil sie die Geisel beider Krieg führenden Parteien ist. Seit „Vietnam“ ist im Krieg heute alles noch hoffnungsloser geworden.

         *

Hase & Igel mit Pedalen Ohne dass es weiter aufgefallen wäre, hat das sogenannte Ebike unter Obhut unserer rüstigen Rentner massenhaft Karriere gemacht. Nun können sich nicht bloß nur jene lebenslangen „Sportskanonen“ drahtig & schlank aufs feine Rennrad schwingen & sich beweisen, dass einer wie sie (es sind fast nur Männer) noch im Rentenalter „jung geblieben“ ist. Sondern auch schwergewichtigere erkennbare Freunde des vom Reinheitsgebot geschützten deutschen Gerstensafts & ihre späten Lebensabschnittsbegleiterinnen haben in letzter Zeit dem Fahrrad einen neuen Boom verschafft. Allerdings seinem jüngsten hybriden Modell, das aber offenbar genau für sie als finanziell potente Klientel zugedacht & entwickelt worden war.

Die Ebiker hängen nun besonders bei Steigungen mühelos die ehrlichen  Radsportfreunde-der-Landstraße ab & versammeln sich auf  Mittelgebirgshöhen, um die einst so stolzen Amateur-Sportler, die von keinem Eigenblutdoping beflügelt wurden, bei ihrer verspäteten Ankunft auf der Höhe grinsend zu begaffen. Waren die munteren Ebiker doch, bloß scheinbar durch die Muskelkraft ihres Pedaltritts, an den einst einsam strampelnden Radsportlern unterwegs vorbeigezogen. Kein knatternd-stinkender Kleinmotor – wie bei den ersten zum Moped umgerüsteten Fahrrädern – hat den heutigen Triumph der Alten über die Jungen lautstark als Maschinenwerk ausposaunt. Das täuschend echt wirkende Pedaltreten der Ebiker suggeriert ein herkömmliches Radfahren, dem jedoch, wenn nötig, zwar nicht unter die Arme gegriffen, aber doch insgeheim mit einem Elektromotor hilfreich Beine gemacht werden.

Das Offene Geheimnis des Ebikes ermöglicht nun eine massenhafte Altersmobilität auf den Radwegen. Sie lässt auch jene Greise aus den vermögenderen Kreisen sich auf die motorisierten „Drahtesel“ schwingen & mühelos Höhen erklimmen, die sie sich, gewiss zurecht, noch nicht einmal mehr zu Fuß noch zugetraut hätten.

Wie nach einer treffenden Bemerkung Michael Kleebergs heute die Mütter sich einkleiden & anziehen, als seien sie die älteren Schwestern ihrer Kinder, so suggerieren die Ebiker, dass sie auch im Alter mithalten & die Jugend auf ihre Plätze verweisen können. Auf Dauer werden sie sich aber damit keine Freunde machen.

Absehbar ist jedoch zweierlei: eine verschärfte Konkurrenzsituation auf den Fahrradwegen, die bislang nur den fitten Jüngeren vorbehalten waren; und dass, nach ersten von Ebikern verursachten schweren Rad-Unfällen, der Verkehrsminister sich gezwungen sehen dürfte, neue Verkehrsregulatorien für die bis zu 50 kmh schnellen Gefährte zu erlassen. Ein Führerschein für Radfahrer, nicht nur die neuen elektrisch aufgerüsteten, scheint in Sicht.

Jedenfalls wird, wer in einem städtischen Mehrfamilienhaus wohnt,  noch notwendiger als schon bisher darauf achten müssen, mit den Augen erst mal Witterung aufzunehmen, wenn er von der Haustür auf den Fußgängerweg treten will – um der Gefahr zu begegnen, nicht unversehens auf dem städtischen Trottoir zum Opfer eines blitzschnell um die Ecke gebogenen Ebikers zu werden.

                                            *

Nachhilfe-Kommentatoren -„Vier Tage nach seinem Geburtstag (…)  veröffentlichte die SZ eine `Würdigung´[W1], deren Fehlen die bessere Lösung gewesen wäre“, beginnt ein Leserbrief, den die Süddeutsche Zeitung kürzlich in ihrer Nr.240 unter dem Titel „Herabwürdigung“ publizierte. Was so spitz begann, geht ebenso munter weiter. Den Brief eines Münchner Lesers namens Anselm Rapp sollte man in toto genießen: „Dass der ein halbes Jahrhundert nach Quinn geborene Autor einen Großteil des zugewiesenen Platzes – neben den üblichen Mutmaßungen über Quinns unklare Herkunft und seinen umstrittenen Lebenslauf – nicht anders als mit Willy Millowitsch, bayrischen Volksschauspielern und dem aus dem Ruhrgebiet stammenden Ministerpräsidenten Mecklenburg-Vorpommerns zu füllen wusste, ist verständlich. Unverständlich ist aber, dass die SZ keinen erfahrenen Autor (…) beauftragte, der Quinn wirklich zu würdigen gewusst hätte, seine mehr als eine Generation begeisternden Lieder, seine Filme, seine Theaterstücke, seine Zirkusauftritte, seine 60 Millionen verkauften Tonträger. Quinns Anpassung an seine Wahlheimat als `große Leistung´ hervorzuheben und seine Lebensleistung unter den Tisch fallen zu lassen, das ist zum 85. Geburtstag des einst erfolgreichsten deutschsprachigen  Liedinterpreten keine Würdigung, sondern eine Herabwürdigung“.

Was hier ein offenbar kundiger Kenner & Liebhaber Freddy Quinns der SZ kritisch ins journalistische Stammbuch schreibt, ist brillant formuliert & auch für den nicht von dem Vorfall betroffenen Leser nicht ohne Reiz. Solches Vergnügen kann man sich öfters mit den Leserbriefen der SZ machen.

Dieses journalistische Genre der Printpresse ist gewissermaßen die Visitenkarte der jeweiligen Adressatin. Das dafür zuständige Redaktionsmitglied versieht eine oft unterschätzte, jedoch höchst delikate, verantwortungsvolle Redaktionsarbeit, deren gelungene Ausübung sowohl Intelligenz als auch Fingerspitzengefühl voraussetzt & verlangt.

Nicht nur, weil die Leserbriefredaktion unter den eingegangenen Schreiben auswählen & der Mehrzahl der Ungedruckten diplomatisch ihr Pech so erklären muss, dass möglichst keine „bad feelings“ bei den Verschmähten zurückbleiben. Schließlich hatte der Leser – als das noch Zeit, Überlegung,  die Schreibmaschine traktieren, Eintüten, Frankieren & in den Briefkasten werfen bedingte – beträchtliche Energien aufgebracht, um seinen Brief zu schreiben.

Wer je einmal Einblick in den Alltag einer Leserbriefredaktion bei einer Zeitung (früher) gehabt hat, wird wissen, dass sich dort mehrheitlich & regelmäßig ein ebenso ignoranter wie kleinlich-rechthaberischer Typus austobt, zumeist gepaart mit Arroganz & Herablassung gegenüber der „Journaille“. Schon in den Printpresse-Zeiten war zu ahnen, dass genau dieser unangenehme, aber produktive & immer auf der Lauer liegende Leserbriefschreibertypus  mit dem Internet, der Anonymität & der Leichtigkeit, überall seinen Senf dazugeben zu können, ins Kraut schießen würde. (Die heute dort stattfindenden „Diskussionen“ & „Kommentierungen“ führen es einem oft deprimierend vor Augen.)

Die Leserbriefredaktion hat in der Printpresse die notwendige Aufgabe, die Spreu vom Weizen zu trennen. Nicht nur, weil der Platz dafür beschränkt ist, sondern auch aus verschiedenartigen prinzipiellen & aus qualitativen Gründen. Sicher: man kann mit diesem Filter-Instrument „Zensur ausüben“ oder „Politik machen“, will sagen: zeitungskritische Zuschriften unterdrücken oder nur das an Leserbriefen drucken, was einem politisch zupass kommt, um eine Leserresonanz vorzutäuschen, die mit den real eingegangenen Äußerungen nichts zu tun hat. Beides trifft in der SZ nicht zu.

Die Qualität der SZ- Leserbriefe liegt in der engen Beziehung zwischen der intellektuellen, sachkundigen Qualität ihrer Schreiber mit der Intelligenz & Liberalität der Redaktion, die sie zur Publikation ausgewählt hat. Denn offenbar ist die Maßgabe für die Aufnahme nicht die pure zustimmende oder abweichend-widersprechende Meinung des Lesers. Sondern: wenn nicht einzig, so doch primär liegt der Wert einer publizierten Zuschrift darin, dass die in ihr geäußerten (abweichenden) Ansichten die kritisierte SZ-Darstellung oder -Kommentierung produktiv durch rationale Argumentation korrigiert oder durch  ins Feld geführte Sachkenntnis transzendiert.

Da kann es schon vorkommen, dass die Zeitung oder ihre Autoren von sachkundigen Lesern die Leviten gelesen bekommen (wie in dem zitierten Beispiel); häufiger aber erfährt man durch die Leserbriefe kundiger Kenner mehr & substantiell anderes, als die Zeitung oder ihre Autoren geäußert hatten. Manchmal, wenn die Redakteure zu flau, diplomatisch oder gar ängstlich kommentiert & man sich darüber geärgert hatte, relativieren dann Leserbriefe die Haltung der Zeitung – und zwar durch intellektuelle Qualität & begründete Sach-Kompetenz. Solche Liberalität (die zu ermöglichen  & zu bewahren ein täglicher journalistischer Trapezakt ist, über dessen Schwierigkeit ihre lesenden Nutznießer sich keine Gedanken machen) folgt unausgesprochen dem Nietzsche-Satz: „Wieviel Wahrheit verträgt, wieviel Wahrheit wagt ein Geist?“ Mag es sich hier bei den Leserbriefen  auch nur um die Begründung eines kategorischen Widerspruchs oder einer „dissenting opinion“;oder bloß um den Corpsgeist der SZ handeln, der entschiedenen Leser-Widerspruch „vertragen“ muss, der ihm durch den Wagemut der Leserbriefredaktion vor aller Augen entgegen gehalten wird.

Artikel online seit 31.10.16
 

»Petits riens«,
nach dem Titel eines verloren gegangenen Balletts, zu dem der junge Mozart einige pointierte Orchesterstücke schrieb, hat der Autor seit Jahren kleine Betrachtungen, verstreute Gedankensplitter, kurze Überlegungen zu Aktualitäten des
Augenblicks gesammelt. Es sind Glossen, die sowohl sein Aufmerken bezeugen wollen als auch wünschen, die
»Bonsai-Essays« könnten den Leser selbst zur gedanklichen Beschäftigung mit den Gegenständen diesen flüchtigen Momentaufnahmen anregen.
»
Kleine Nichtse« eben - Knirpse, aus denen vielleicht doch noch etwas werden kann. 

Petits riens (IX)
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