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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Sprachgewaltige Tragödie

Stefano D'Arrigos monumentales Epos »Horcynus Orca« -
eine neuzeitliche Odyssee ohne Happy End.

Von Jürgen Nielsen-Sikora




 

Im Anfang war der Mythos. Und das Abenteuer. Ein Abenteuer wie die Irrfahrt des Odysseus. Es handelt von der Begegnung des tapferen Mannes mit Kyklopen, Nymphen und Sirenen, Göttern, Hexen und Geistern. Bei dem Versuch, zwei Klippen auf dem Weg nach Ithaka zu durchschiffen, beginnt das Drama des Odysseus und seiner Mannschaft: In der Straße von Messina, wo das Tyrrhenische und das Ionische Meer gegeneinander stehen, begegnen die Seeleute den beiden Ungeheuern Skylla und Charybdis. Charybdis ist die Tochter der Mutter Erde und des Poseidon. Sie wurde von Zeus' Blitz ins Meer geschleudert, ist unheimlich gefräßig und trinkt drei Mal täglich sagenhafte Mengen Wasser, das sie anschließend wieder ausspeit. Skylla ist ein hundeartiges Ungeheuer. Sie hat sechs furchteinflößende Köpfe und zwölf Beine. Den Seeleuten bricht sie die Knochen und verschlingt sie mit Genuss. Auch mehrere Männer des Odysseus, der zu nah an ihren Felsen geschifft ist, ergreift sie. Während sie die Matrosen verspeist, schafft es Odysseus gerade noch, sein Schiff mit der übrigen Besatzung an den Klippen vorbei zu segeln. Schon bald darauf erreicht die Mannschaft Sizilien. Dort fällt Odysseus' Blick auf den Sonnengott Helios, der seine Herden weidet. Nachdem Odysseus eingeschlafen ist, stehlen die Männer entgegen dem Rat der Göttin Kirke dem Sonnengott ein paar Kühe und stillen ihren Hunger. Bald schon beklagt sich Helios bitterböse bei Zeus. Dieser schleudert nun seinen Blitz auf die wieder in See gestochenen Griechen und lässt einen wilden Sturm toben, der das Schiff mit sich reißt. Die gesamte Besatzung mit Ausnahme des Odysseus kommt in diesem Unwetter ums Leben.

Die Straße von Messina, die Landschaften Kalabriens und Siziliens, sind auch die Handlungsorte von Stefano D´Arrigos Werk Horcynus Orca. Das Buch wird bereits mit Moby Dick, Ulysses und anderen großen Werken der modernen Literatur verglichen.

Die Handlung spielt an einigen wenigen Tagen Anfang Oktober 1943, kurz nach der Landung der Alliierten auf Sizilien, die die Insel nach und nach einnehmen. Protagonist des Romans ist ein Matrose namens 'Ndrja Cambrìa. Wie Odysseus will 'Ndrja eigentlich nur nach Hause. Aber das ist nicht leicht. Nachdem die italienische Flotte, der er angehörte, geschlagen ist, macht er sich von Neapel aus zu Fuß auf den Weg, durchwandert die Stiefelspitze Italiens, um nach Cariddi (Charybdis), seine Heimat, zu gelangen. Da es keine fahrtauglichen italienischen Schiffe mehr gibt, wird der Versuch, Sizilien zu erreichen, zu einer wahren Odyssee: »Man musste sich schämen, wenn man sie fragte, diese Strandvagabunden, ob es ein Boot gäbe, und ihnen gleich darauf direkt ins Gesicht die Frage nach dem Sinn des Todes stellte, der Tod, der das Meer inzwischen längst für sie bedeutete, dieser hündische Bastard mit alten Schwären, der seit weiß wie vielen Jahren die unter ihnen herauswitterte, die berufsmäßig über die Strände vagabundierten, ihnen Schritt für Schritt folgte, so als würde er den Augenblick erwarten, wo sie stehen blieben und die Knie beugten, weil sie von einer großen, seltsamen Müdigkeit erfasst wurden, und er ihnen auf die Hände sabberte, wie wenn er sie küsste, und auf die Augen, als würde er ihnen einen Schleier zum Vergessen des Lichts reichen, und sie würden ihn nicht fortgejagt, ja, sie würden sein Kommen nicht einmal bemerkt haben.«

Der Krieg, und mit ihm der Tod, kreist über die Meere zwischen Skylla und Charybdis und die knapp sieben Kilometer breite Meerenge. Ringsum gibt es nur Pest und Cholera, Ruin und Verfall. Die Städte und Dörfer sind zerstört, die Seelen der Menschen trostlose Orte. Als 'Ndrja am 5.Oktober 1943 endlich seine Heimat erreicht, erkennt er, dass der Krieg Freunde und Verwandte grundlegend verändert hat. Niemand ist mehr der, der er vor Beginn des Krieges war. Das Leben ist kein Leben mehr, aber eben auch noch nicht der Tod: »Und es war ein betrübliches Hören, wie es bei einem Wind vorkommt, wenn er schutzlos fällt, und über dem neuen Wind, der sich erhoben hat, den unglücklichen Zug macht, wieder zu wehen, und doch nur ein erbarmungswürdiger Auswurf bleibt.«

Auf der Insel herrscht Resignation und Trauer angesichts der Tatsache, dass die Lebensgrundlage der Menschen, die Fischerei, nicht mehr möglich scheint, als plötzlich ein monströser, schwer verletzter Fisch auftaucht und allmählich an der Küste verendet. Dieser Fisch, eine Orca, die von Gemetzel zu Gemetzel gezogen ist, gibt dem Buch den Titel. Orcinus Orca ist der lateinische Ausdruck für den Schwertwal, die größte Art aus der Familie der Delfine. Orcinus ist im Lateinischen aber auch eine Metapher für das Totenreich, und der große Fisch, der Killerwal, ist für die Küstenbewohner nicht nur ein Symbol für den Tod, sondern auch für ihre eigenen, armen, leidgeplagten Seelen: »Es war die Orca, die Todbringerin, die selbst aber als unsterblich gilt: sie, die Tödin der Meere, oder, mit einem Wort, die Tödin schlechthin ... Und da war sie, seit vier Tagen ... Um diese Stunde hatten sie einen stinkenden Wind wahrgenommen, leicht und verdorben, wie wenn er von den Inseln herabwehte.«

Doch der als unsterblich geltende Fisch stößt unter »tiefen, pfeifenden Schwaden von schwärzlicher, rot durchädeter Färbung« Blutklumpen aus und stirbt schließlich nach langem Todeskampf. Der Tod des Fisches ist das Auspizium für die Tragik des Helden. Denn um an Geld für den Bau neuer Schiffe zu gelangen, beschließt 'Ndrja an einem von der britischen Besatzung ausgelobten Ruderwettbewerb teilzunehmen. Während einer Übungsfahrt wird er von einer Gewehrkugel tödlich verletzt: »Der Mond zog von Malta her auf und enthüllte an diesem Himmel gleich außerhalb der Meere zwischen Skylla und Charybdis schneeweiße Wolkenbänke ... 'Nadrja wollte gerade die Augen zur riesenhaften, beunruhigenden Flanke des Flugzeugträgers hinaufwenden, so wie wenn er seine Stirn freiwillig der Kugel darbieten wollte, die zwischen seinen Augen mit einer Wucht einschlug, die ihn für immer in die Finsternis schleuderte.« Anders als Odysseus kann 'Ndrja die Dinge in seiner Heimat nicht wieder in Ordnung bringen. Seine Odyssee bleibt ohne Happy End.

Der Autor des Horcynus, Stefano D'Arrigo (1919-1992), wurde in einer kleinen Küstenstadt in der Provinz Messina geboren. Nach seinem Militärdienst im Zweiten Weltkrieg als Leutnant arbeitete er in Rom als Kunstkritiker. Ab 1950 spielte er mit dem Gedanken, ein Epos auf das Leben der sizilianischen Fischer, ihre tägliche und verzweifelte Arbeit auf dem Meer, zu schreiben. Denn möglicherweise, so D'Arrigo, sind diese Fischer die Nachkommen von Odysseus Seeleuten.

Die Urfassung trägt noch den Titel: Der Kopf des Delfins. Der Umfang des zwischen 1956 und 1957 verfassten Manuskripts beträgt rund 600 Seiten. Die Überarbeitung des Textes, der vom Dialekt Siziliens durchsetzt ist, dauert jedoch viel länger als geplant. Im Herbst 1961 gehen gut 1300 Seiten an einen italienischen Verlag. Die Druckfahnen will D'Arrigo binnen vierzehn Tagen samt Korrekturen zurückschicken. Daraus werden allerdings fast weitere vierzehn Jahre. 1975 erscheint der Horcynus und wird begeistert aufgenommen. An die Stelle von Kirke, Kalypso und Polyphemos treten nicht minder seltsame Geschöpfe: Die Feminotinnen, Pellisquadre und die den Delfinen auf geheimnisvolle Weise verwandten Feren. Obwohl die Handlung auf das Jahr 1943 datiert ist, ist die Stimmung des ganzen Romans der der antiken Mythen nachgeahmt. Die Figuren und Ereignisse wirken irreal, und obwohl so viel passiert, passiert zugleich sehr wenig. Der Leser verliert sich in dem uferlosen Textfluss, der den armen Helden im Stillstand mit sich reißt. Poetischen Passagen folgen Textstellen, an denen die Sprache sehr antiquiert klingt, manchmal kommt sie auf langen Stelzen daher und dreht sich schlangenhaft um das Eigentliche. Es sind wohl der schiere Umfang, die Dauer der Textarbeit, die gelehrte Adaption antiker Geschichten, die unkonventionellen Erzählmuster sowie die befremdlich wirkenden, metaphernreich skizzierten Figuren des zerstörten Siziliens, die einen Vergleich mit Joyce und Melville nahelegen. Ob dies wirklich zutrifft sei dahingestellt.

Bei allem Respekt für die unbeschreibliche Arbeit von über 20 Jahren, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass dieses sprachlich höchst anspruchsvolle Epos wohl vorrangig ein Lesevergnügen für die geschulten Interpreten der Romanistikseminare und die belesenen Feuilletonisten des professionellen Literaturbetriebs bleiben wird. Alle anderen Romanliebhaber werden sich durch diese knapp 1500 Seiten wahrlich durchbeißen müssen wie einst 'Ndrja und Odysseus selbst. Immerhin ist dies dank der schweißtreibenden Übersetzungsarbeit von Moshe Kahn erstmals, vierzig Jahre nach Erscheinen des sizilianischen Originals, möglich.

Artikel online seit 16.02.15
 

Stefano D'Arrigo
Horcynus Orca
Roman
Aus dem Italienischen von Moshe Kahn
S. Fischer
1472 Seiten
€ (D) 58,00 | € (A) 59,70 | SFR 77,90
978-3-10-015337-1

Leseprobe

 


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