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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Artikel online seit 09.2011

Weder Schönheit noch Schrecken

»Eine Geschichte des Ersten Weltkrieges erzählt
in neunzehn Kapiteln.« Eine unterhaltsame Kollage
von Einzelschicksalen.

Von Klaus-Jürgen Bremm




 

Auch wenn das historiographische Datengerüst des Ersten Weltkrieges nach fast 100 Jahren einigermaßen sicher steht und Dutzende von Deutungen seit der Fischerkontroverse der 1960iger Jahre die  Fachwelt erregten, so bleiben Ausbruch und Verlauf des „Great War“ nach wie vor ein Mysterium.  Wie konnte eine hoch zivilisierte und bereits globalisierte Welt in ei n derartiges Desaster stolpern, für das der amerikanische Diplomat und Historiker George Kennan später zu Recht das Wort von der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts prägte? Was spaltete die schon auf vielfältige Weise verbundenen Nationen des Alten Kontinents vier Jahre lang in zwei unversöhnliche kriegführende  Lager, die keine Gelegenheit zur plattesten Diffamierung des Gegners ausließen? Was hinderte schließlich Nationen wie Frankreich und Deutschland daran, nach den horrenden Verlusten der ersten Kriegsmonate und dem kläglichen Scheitern ihrer ursprünglichen Kriegspläne an den Verhandlungstisch zu treten? Was ließ so viele Menschen auf beiden Seiten, an der Front, in den Werkhallen und selbst in den Gelehrtenstuben so lange in einem agonalen Ausnahmezustand verharren, der alle bisherigen Auseinandersetzungen und selbst den Dreißigjährigen Krieg bei weitem übertraf?

Die Antworten darauf können nicht einfach ausfallen und sie finden sich wohl auch nicht allein in Archivalien oder veröffentlichten Berichten. Die Historiographie hat sich daher auch schon lange von der Darstellung der klassischen politischen Ereignisse gelöst und sich vermehrt einer so genannten Geschichte von unten zugewandt. Das Erleben des Krieges aus der Perspektive der so genannten einfachen Leute, das verborgene Schicksal der unteren Chargen, nicht mehr allein die großen Momente und Entscheidungen in den Kabinetten und hohen Stäben beschäftigen inzwischen eine wachsende  Riege von Kulturwissenschaftlern und Mentalitätsforschern. Dazu gehört der schwedische Kriegskorrespondent und Historiker Peter Englund nicht unbedingt. Immerhin hat der renommierte Vorsitzende des Schwedischen Nobelpreis-Komitees selbst zwei bedeutende Monographien über die Schlacht von Poltawa (1709) und den Schwedischen Feldmarschall Eric Graf Dahlberg (1625-1703) vorgelegt, die noch ganz der Tradition der Ereignisgeschichte verpflichtet sind. In seiner jetzt vorliegenden Publikation folgt er den Spuren von 19 Menschen, die nichts Außergewöhnliches auszeichnet, von Männern und Frauen, Soldaten und Zivilisten, Europäern und Amerikanern, die den so genannten Großen Krieg auf unterschiedlichen Schauplätzen, in Flandern, Galizien, Serbien, Italien oder gar in Afrika oder Mesopotamien erlebt und darüber offenbar kontinuierlich Tagebuch geführt haben. Dabei handelt es sich durchweg um junge Menschen, nur zwei der Protagonisten sind älter als 40, die meisten anderen deutlich darunter. Es sind Ärzte und Abenteurer, junge Offiziere und Krankenpflegerinnen, Kriegsfreiwillige oder Wehrpflichtige, die in ihren Aufzeichnungen und Briefen ihre persönliche Geschichte hinterlassen haben und dabei Aufschluss geben über ihre Motive, Sichtweisen und die Probleme des militärischen Alltags. Es sind nur winzige Mosaiksteine in einem vielschichtigen  Muster, nicht repräsentativ, aber gleichwohl geschickt über das gigantische Geschehen verteilt. Da ist der Italo-Amerikaner Vincenzo d‘ Aquila aus New York, der sich zum Entsetzten seiner Verwandten freiwillig zum Krieg in Europa meldet, beinahe am Typhus verstirbt und darüber geisteskrank wird. Auf Englunds Liste steht auch der südamerikanische Abenteurer mit dem bühnenhaften Namen Rafael de Nogales, der sich schließlich der Osmanischen Armee anschließt und in Ostanatolien die türkischen  Massaker an den Armeniern miterleben muss. Da sind die englische Krankenschwester Florence Farmborough, die auf russischer Seite den Rückzug der Zarenarmee aus Polen erlebt und in nüchterner Prosa den offenen Antisemitismus der Russen beschreibt oder der ungarische Husarenleutnant in der k. und k. Armee, Pal Keleman, der den galizischen Winter übersteht und Zeuge der gescheiterten österreichischen Offensive auf die eingeschlossene Festung Przemysel wird. Die Tagebucheintragungen, die Englund meist als Paraphrase  wiedergibt, berichten erstaunlich selten von Tod oder Verwundung, vom Hass auf den Gegner oder der Gier nach Beute und Ruhm,  viel häufiger ist von Langeweile, Entbehrungen und  Enge die Rede. Der nordschleswiger Soldat Kresten Andresen, als Angehöriger der dänischen Minderheit im Reich an der Westfront eingesetzt, notiert im Februar 1916, es sei schon lange her, dass er Kanonen gehört habe und spekuliert darauf, dass der Krieg vielleicht schon im August beendet sein könnte. Der Artillerist Edward Mousley wird als Angehöriger des britischen Expeditionskorps, das Bagdad erobern sollte, bei Kut al Amara von den Türken eingeschlossen und muss in den letzten Tagen der Belagerung mit erleben, wie sein wertvolles Rassepferd erschossen wird, um die Verpflegungsrationen aufzubessern. Nicht alle Protagonisten erleben das Kriegsende. So fällt der australische Pionieroffizier William Henry Dawkins am Strand von Gallipolli, nachdem er als Kriegsfreiwilliger um die halbe Welt gereist war. Etwa ein Jahr später erreicht seine Eltern das Päckchen mit seiner bescheidenen Hinterlassenschaft, darunter auch das Tagebuch und eine Taschenbibel.

Englund referiert die Erlebnisse seiner Figuren gemischt und in unregelmäßigen zeitlichen Abständen. Der Leser kann deren Schicksal über den gesamten Kriegsverlauf verfolgen. Darin liegt fraglos auch der tatsächliche Reiz seiner Darstellungsform. Über den Kontext der Ereignisse sollte allerdings ein gewisses Grundwissen vorhanden sein. Leider erfährt man nichts darüber, wie es den einzelnen Akteuren nach dem Krieg erging und ob sie wieder in ihr normales Leben zurückkehren konnten. Auch über die Quellenlage hätte man gerne mehr gewusst. Von wenigen Ausnahmen abgesehen bieten die ausgewählten Schilderungen nichts, was man nicht schon an anderer Stelle viel drastischer gelesen hätte, etwa in den Kriegstagebüchern von Ernst Jünger. Ein neues Bild des Krieges, wie es der Verlag mit dem paradox klingenden Titel „Schönheit und Schrecken“ verheißt, erschließt sich auch aus Englunds heterogener Mischung von Perspektiven wohl nicht. Dass der Erste Weltkrieg sich nicht auf Schützengräben und Trommelfeuer reduzieren lässt, war auch einer Forschung schon längst klar, die inzwischen auch die übrigen Kriegsschauplätze vermehrt in ihren Fokus genommen hat. Der deutlichste Mangel seines Buches liegt aber wohl darin, dass es Englund versäumt, das präsentierte Panorama von Erfahrungen in einen größeren Kontext der Forschung einzuordnen. So darf der Leser am Ende darüber rätseln, welcher Erkenntnisfortschritt überhaupt mit seiner Kollage von Schicksalen verbunden ist. Nach mehr als 700 Seiten bleibt somit nur das schale Ergebnis: Es war ganz unterhaltsam, aber mehr auch nicht.

 

Peter Englund
Schönheit und Schrecken
Eine Geschichte des Ersten Weltkrieges erzählt in neunzehn Kapiteln
Rowohlt Berlin
695 Seiten
34.95 €
ISBN 978 3 87134 670 5

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