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Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik
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Glanz&Elend
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»Ora et Labora.«

Niall Fergusons sonderbare Rezepte zur Rettung des Westens.

Von Klaus-Jürgen Bremm

Nur zwei Dekaden nach dem unblutigen Triumph des so genannten freien Westens im Kalten Krieg und dem von Francis Fukojama verkündeten Endes der Geschichte steht die globalisierte Welt offenbar vor einem erneuten Wachwechsel. Wer will, kann nun darin eine besondere Art der Dialektik erkennen, dass die Vereinigten Staaten als zunächst unbestrittene Hegemonialmacht in der Welt nicht einmal eine Generation nach dem gespenstig geräuschlosen Untergang des Sowjetimperiums ihren maroden Staatshaushalt von China, dem überlebenden zweiten kommunistischen Vielvölkerreich finanzieren lassen müssen.

Doch außer dieser selbst verschuldeten Demütigung werden sich die Amerikaner wohl darauf einstellen müssen, schon innerhalb des nächsten Jahrzehnts auch ökonomisch vom Reich der Mitte überrundet zu werden. Nach Ansicht der meisten Auguren ist der Rücktritt Amerikas und seines in einer Dauerkrise steckenden europäischen Appendix  ins zweite Glied der Weltordnung bereits eine ausgemachte Sache.

Für die  Mehrheit der postheroischen Gesellschaften des „Alten Kontinents“ wäre dies nicht unbedingt eine Schreckensbotschaft. Blickt man doch in der europäischen Öffentlichkeit inzwischen mit wachsenden Unbehagen und sogar Schuldgefühlen auf jene 500 Jahre zurück, in denen der westliche Ausläufer der eurasischen Landmasse einen Großteil der bekannten Welt direkt oder indirekt beherrschte. Genau diese wachsende Distanz vieler Europäer zur eigenen Geschichte und den prägenden Elementen ihrer Kultur kritisiert der schottische Historiker Niall Ferguson in seiner jetzt beim Berliner Propyläen-Verlag erschienenen Monographie über den Westen und den Rest der Welt. Auf- und Abstieg von Zivilisationen sieht der renommierte Harvardprofessor als Folge einer zweiseitigen Entwicklung: Nicht nur die Stärke der Newcomer spielt dabei eine Rolle, sondern in diesem konkreten Fall auch das erodierende Bewusstsein der Europäer für jene Traditionen und mühsam erarbeiteten Fähigkeiten, die es ihnen überhaupt erst ermöglichten, aus den prekären Lebensbedingungen spätmittelalterlicher Gesellschaften zu einem in der Weltgeschichte einmaligen Wohlstand zu gelangen. Mit einem heftigen Seitenhieb auf die aktuelle Geschichtswissenschaft und ihrer demonstrativen Abkehr von der klassischen Meisternarration des „Guten und Wahren“ („Die Frage, warum Zivilisationen untergehen, ist viel zu bedeutsam, um sie den Anhängern der zusammen gestückelten Geschichte zu überlassen.“) entwickelt Ferguson ein Panorama von sechs Parametern (er nennt sie eigenartigerweise Killerapplikationen), aus denen er die bisherige Überlegenheit des Westens gegenüber den übrigen Weltkulturen erläutert. Folgt man dem Autor auf seiner nicht immer zielstrebigen Tour d’horizon durch die Weltgeschichte, so waren es zunächst Wettbewerb, Wissenschaft, Medizin, Rechtssicherheit und Arbeit, die dem Westen auf lange Sicht einen entscheidenden Vorteil gegenüber den anfangs so überlegen wirkenden Zivilisationen des Ostens verschaffte. Dabei bietet Ferguson jedoch kaum neue Gesichtspunkte. Dass in Westeuropa aufgrund seiner geographischen, politischen und zuletzt konfessionellen Zersplitterung eine besondere und Innovationen geradezu begünstigende Wettbewerbssituation herrschte, ist zwar richtig, aber nicht unbedingt eine neue Erkenntnis. Schon David Landes hat in seiner viel beachtenden Monographie „Wohlstand und Armut der Nationen“ darauf hingewiesen, dass keiner der einander  argwöhnisch beäugenden Potentaten des Barockzeitalters  auf die Idee verfallen wäre, wie etwa Sultan Selim I. die Buchdruckerei unter Androhung der Todesstrafe zu verbieten oder gar die Seefahrt, wie es tatsächlich zu Beginn des 16. Jahrhunderts in China geschah.  In Europa aber war Wissensvermehrung ein Wert an sich und jede Monarchie, die etwas auf sich hielt, gründete eine Akademie der Wissenschaften. Dem aus einfachen Verhältnissen stammenden Isaac Newton wurde 1731 sogar ein Staatsbegräbnis zuteil, bei dem leibhaftige Herzöge und Lords seinen Sarg trugen. Ein zweischneidiges Schwert für die Rolle einer dominanten Kultur des  Westens war allerdings die sechste Kategorie: Der Konsum. Zwar hat er lange den ökonomischen  Aufschwung im Westen befeuert und der immer billiger produzierenden Industrie einen wachsenden Absatz garantiert. Zugleich aber war und ist der private und öffentliche Verbrauch einer der wesentlichen Ursachen für die anschwellende und kaum noch zu beherrschende Verschuldung der westlichen Ökonomien. Ferguson vermutet als Ursache hierfür vor allem ein spirituelles Defizit: „Wir laufen Gefahr, am Ende nur noch eine hohle Konsumgesellschaft und eine Kultur des Relativismus zu sein, eine Kultur die behauptet, dass jede Theorie oder Meinung, so obskur und befremdlich sie auch sein mag, genauso gut und gültig sei, wie alles, woran wir früher geglaubt haben.“

Eine besondere Rolle beim Aufschwung Europas und der Vereinigten Staaten misst er daher der christlichen Religion zu und zwar vor allem dem Protestantismus. So behauptet er in seinem Kapitel über die Arbeit, dass alle Arten echten religiösen Glaubens mit einem Wachstum der Wirtschaft einhergehen und resümiert forsch: „Der vielleicht größte Beitrag der Religion zur Geschichte der westlichen Zivilisation war jedoch, dass der Protestantismus den Westen nicht nur arbeiten, sondern auch sparen lehrte.“

Ganz abgesehen davon, dass Ferguson damit Max Webers Protestantismus-These, von der er sich zunächst distanziert hatte, wieder aufgreift, könnte man noch fragen, wie es sich denn mit den anderen Religionen verhält? Gab es nicht auch im katholischen Frankreich und in Belgien, im Rheinland und in den letzten Dekaden sogar in Bayern, im Heimatland des Papstes, einen wirtschaftlichen Aufschwung? Was aber ist wiederum mit den eher schwierigen Ökonomien der südeuropäischen Staaten, wo der Katholizismus seit jeher eine starke Position besitzt? Ganz zu schweigen vom Islam und den Ökonomien des Nahen Ostens, die ohne ihren Erdölreichtum längst zu Dauersanierungsfällen geworden wären.

Zugleich aber charakterisiert Ferguson die erstaunliche Lebendigkeit der Religion in den Vereinigten Staaten als „Konsum-Christentum“, das man sich wie in einem Supermarkt auswählen könne. Eine wirkliche Erklärung für die uneingeschränkte Wertschätzung der Amerikaner für das Geschäftsleben lässt sich also aus der zeitgenössischen Religion im Land der auch hierin unbegrenzten Möglichkeiten kaum destillieren. Ferguson konstatiert dazu nüchtern: „Allein  die Tatsache, dass 40 Prozent der weißen Amerikaner irgendwann in ihrem Leben die Religion wechseln, zeigt, dass der Glaube auf paradoxe Weise unbeständig und wankelmütig geworden ist.“ Wenn es sich tatsächlich so verhält, hätten wir dann wirklich noch mit einer Form von echter Religiosität zu tun und was würde sie dann erklären?

In dieses ambivalente Bild passen auch seine Bemerkungen über die Ausbreitung des protestantischen Christentums in China: Christ zu sein sei im Reich der Mitte schick geworden, so Ferguson, und spricht von der 8 Mio.-Metrople Wenzhou mit ihren über 1300 offiziellen Kirchen sogar als einem „chinesischen Jerusalem“. Das offiziell immer noch kommunistische Land könnte, und das wäre allerdings paradox, mit seinen geschätzten 120 Mio. praktizierenden Gläubigen schon jetzt ein christlicheres Land sein als das alte Europa. Ob aber der chinesische Arbeits- und Unternehmensgeist sich gerade dieser erstaunlichen Entwicklung verdankt, oder doch eher der blanken Not breiter Schichten der Bevölkerung, wäre noch zu klären. Ferguson macht es sich jedenfalls zu einfach, wenn er den Europäern ihre scheinbar zu geringen Arbeitszeiten im internationalen Vergleich vorhält, zugleich aber die stetig gestiegene Produktivität europäischer Unternehmen gar nicht erwähnt. Es ist schon eine ungewöhnliche Provokation, wenn er die Europäer im Zeitalter von Strukturwandel, unternehmerischen Jugendwahn und erzwungener Frühverrentung als „Faulpelze“ bezeichnet. Vollends aber ins Absurde gleitet Ferguson ab, wenn er den Europäern ihre religiöse Indifferenz vorwirft: Eine Londonerin hatte sich offenbar mehrmals unbefangen mit ihrem Nachbarn unterhalten, jenem Muktar Said Ibrahim, der sich im Juli 2005 als Djihadist und Sprengstoffattentäter entpuppte. Dabei hatte sie ihm erklärt, dass sie an gar nichts glaube, worauf der Moslem geantwortet habe, dass Sie lieber an etwas glauben solle. Das findet offenbar auch Ferguson, der über die Episode anschließend urteilt: Es sei natürlich die einfachste Sache der Welt, über die anscheinend von allen Djihadisten geteilte Ansicht zu spotten, man erhielte als Märtyrer im Himmel 80 Jungfrauen als Belohnung dafür zugeteilt, dass man Christen in die Luft gesprengt habe. Aber ist es nicht beinahe genau so seltsam, so fragt Ferguson im Ernst, wie die Frau aus London an gar nichts zu glauben?

Vielleicht führt der europäische Glaube an gar nichts tatsächlich zum politisch-ökonomischen Abstieg oder gar in den Untergang. Jedenfalls aber dürfte religiöse Indifferenz wohl umgekehrt kaum jemanden veranlassen, unschuldige Menschen in die Luft zu sprengen. Hier hat sich der Autor vollkommen ins argumentative Abseits begeben und man hätte sich als Leser sehr gewünscht, dass ein kundiger Lektor auf eine Änderung dieser aberwitzigen Passage gedrängt hätte.

Wenn Religion tatsächlich eine Lösung der Probleme des Westens enthielte, würde dies vielleicht unseren Wohlstand retten, kaum aber unsere Freiheit. Ferguson, der zum Schluss mit allerlei Vergleichen und Wirtschaftsdaten über die Möglichkeit eines Untergangs der westlichen Zivilisation spekuliert, gelangt zu dem Resultat, dass sich Untergänge oder Umbrüche meist sehr rasch vollzogen hätten. Wie die Ereignisse von 1989-91 gezeigt haben, nehme die Geschichte mitunter bedrohlich an Fahrt auf. Darauf ließe sich allerdings entgegnen, dass sich auch Comebacks mit atemberaubender Geschwindigkeit vollziehen können. China ist nach seinem dramatischen Abstieg im letzten Jahrhundert der wohl schlagende Beweis.
 

Niall Ferguson
Der Westen und der Rest der Welt
Die Geschichte vom Wettstreit der Kulturen
Berlin (Propyläen) 2011
559 Seiten
24,95 €
ISBN 978 3 549 07411 4

 


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