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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Artikel online seit 07.06.13

Verstanden, alter Knabe?

Buz Luhrmanns Film-Version des großen »Gatsby«
ist ein komplexes Zeitpanorama, vor allem durchdrungen
von der experimentellen Unordentlichkeit eines riskanten
Lebens unter widrigen Hypothesen.

Von Peter V. Brinkemper



 

Es gibt ein offenes Geheimnis um Buz Luhrmanns in Cannes 2013 gezeigte 3-D-Film-Umsetzung von F. Scott Fitzgeralds legendärem Roman »Der große Gatsby« (1925). Wieder einmal haben die Kritiker – vom offiziellen Zeitungsfeuilleton bis zum Internet-Shitstormer – bei einer Fitzgerald-Umsetzung kapituliert. Allesamt schreiben sie entlang an der irrealen Überinszenierung oder am »Film zum Soundtrack« (als ob  dieser nicht auch artifiziell bis hin zu aktuellen Mash Ups montiert wäre) und verlautbaren ähnlichem unverbindlichen Krimskrams.

Dabei liegt das Geheimnis auf der Hand oder geradewegs im Roman: In Fitzgeralds genialem Universum stehen die Zeiger der Zeit still oder können die Uhren jederzeit auch rückwärts laufen, allen Widrigkeiten des asketischen, ausschweifenden und abschweifenden Lebens und Vorlebens in seiner angeblich gerichteten Linearität und Progression zum Trotz. Erst recht in der magischen Long-Island-Nordküsten-Bucht zwischen den Antipoden East Egg und West Egg, dort, wo das grüne Blinken an Daisys Georgianischer Kolonialvilla fernab von Gatsbys normannischem Hotelpalast zwischen seiner aufgesetzten Gottverlassenheit und Partyseligkeit etwas verbirgt und verheißt, das Etwas eines gesellschaftlichen Aufbegehrens, das im industriellen Ödland, dem kriegsförmigen Tal der Asche auf dem holprigen Weg nach Manhattan und dem Sündenpfuhl der anwachsenden Großstadt, unter den Augen von Dr. T. J. Eckleburg, der sinnlos verstaubten Optiker-Reklame, wiederum gnadenlos zunichte gemacht wird. Und zwar in der übelsten und vulgärsten Verwirrung der Motive der Personen bei einem schäbig-unglücklich-tödlichen Autounfall, der den Falschen, den vordergründig leichtsinnigen, zutiefst romantisch-ergebenen Gatsby, zum freiwillig Verdächtigten werden lässt (man stelle sich vor: die grausame Parodie eines von Julia kaltschnäuzig verlassenen, dahinsterbenden Romeo oder eines ohne die Anteilnahme von Rose als Juwelendieb verhafteten »Titanic«-Jack), er, der damit einsam und allein alle möglichen Unterstellungen und Anschuldigungen wie Ungeziefer anlockt, während die eigentlich Belasteten, allen voran Tom Buchanan (Joel Edgerton), dem Champion unter den etablierten Lustmolchen, und seine so begehrte wie gelangweilte Gattin Daisy hinter der brutalen Fassade ihrer vorgetäuschten Anständigkeit verschwinden und Mord und Totschlag, Lug und Trug mit einer Selbstverständlichkeit und Teilnahmslosigkeit in Kauf nehmen, vor denen es ebenfalls keinerlei Warnung gab.

Naivität, Vertrauen, Solidarität, Liebe, Sehnsucht und erfüllte Zweisamkeit scheinen nur noch Selbst- und Fremdtäuschungen zu sein. In dieser Zeit und dieser Welt hat es sie vielleicht niemals gegeben. Noch nicht einmal in der Ur-Kristallisation, als Gatsby Daisy als noch unverheiratete junge Frau sah, die bereits wie eine ölige Sardine in ihrer wohlsituierten Schicht eingelegt war (Carey Mulligan, »Shame«). Die Uniform anlässlich des späten Eintritts der USA in den Ersten Weltkrieg macht Gatsby vor allen anderen so gleich, dass er seine verblendete Version des amerikanischen Traums und die Liebe als Medium eines ungehinderten Klassenaufstiegs ausbrütet, während er im Hintergrund seinen Erfolg mit allen legalen und illegalen Mitteln, als Krieger auch noch nach dem Krieg betreibt. Die Kristallisation der Liebe und der Kristall der Zeit sind hier die Chance und das Wahnbild eines illegitimen Kairos, den man streift, während die anderen darauf warten, einen um die Früchte des vorgegaukelten Erfolgs zu bringen.

Erinnern wir uns: In David Finchers »Benjamin Button«-Adaption (2008), einer filmisch weit ausgebauten, im Original knapp-burlesken Jazz-Age-Kurzgeschichte Scott Fitzgeralds, nicht zufällig aus dem Jahre 1922, dreht sich die Zeit bereits völlig gegen ihren Sinn. Wie ein Wirbelsturm, aber auch wie eine Geisterfahrt. Der gesellschaftliche und politische Übergang der USA aus ihrer Isolation gegen Ende des Ersten Weltkriegs wird verdichtet in der gespiegelten Travestie des gegen den Strich rückspulenden Lebens von Benjamin Button, der als Greis geboren und als ständig verjüngter Mann und Jüngling an seinen natürlich alternden Mitmenschen vorbeizieht, um schließlich, in immer größerer und absurderer Zeitdistanz zum Baby geschrumpft in einer geriatrischen Gesellschaft in New Orleans zu verschwinden.

Hatte nicht Woody Allen in seiner meisterlich leichten Filmkomödie »Midnight in Paris« (2011) an der bei wohlhabenden US-Bürgern beliebten touristischen Seine-Metropole die Epochen aus unserer saturierten Jetztzeit bis zur Jahrhundertwende zunächst willkürlich rückwärts laufen lassen, um den geplagten Hollywood-Autor Gil Pender (Owen Wilson) mit seiner dümmlich-neureichen Verlobten Inez, einem Charakter fast im Geiste Daisys, die immer drängendere (Schein-) Frage stellen zu lassen, in welcher Epoche man wirklich und wahrhaft glücklicher zu leben imstande wäre? Scott Fitzgerald, Ernest Hemingway und Gertrude Stein als 20er-Jahre-Begegnungen weisen Gil den Weg in die künstlerische Richtung eines unabhängigen Autoren-und-Werk-Bewusstseins, jenseits der schrecklichen, wenn auch gelegentlich gut bezahlten Auftragsschreiberei. Der Anachronismus dient der neuesten Ich-Stärkung.

Die 3-D-Fassung von Buzz Luhrmanns Film ist keineswegs Selbstzweck, sondern transportiert eine tiefere Aussage: »Der große Gatsby« ist nicht so sehr ein bühnenförmiges Red-Curtain-Stück wie »Strictly Ballroom«, »Moulin Rouge« oder auch »Romeo und Julia«, Leonardo DiCaprios großes Debüt vor seinem James-Cameron-Blockbuster-Hit »Titanic«. In den beiden letztgenannten Kino-Werken geht es ja auch um soziale Eisberge, um bis zur Versenkbarkeit gefährliche Einheiten zwischen Gefühlskälte und aufflammender verbotener Liebe, um die Zirkularität des Mythos zwischen Scheitern und Untergang, symbolischem Aufstieg und metaphysisch unsterblicher Verbundenheit. 

Die neue »Gatsby«-Filmversion ist ein komplexes Zeitpanorama, vor allem durchdrungen von der experimentellen Unordentlichkeit eines riskanten Lebens unter widrigen Hypothesen, – ganz im Geiste von Gershwins Partitur, der »Rhapsody in Blue« (1924), einer geradezu aleatorisch vertauschten Folge von sinfonischen Sheets oder Partiturbögen, wo gleich der Anfang, das sirenenförmige emporturnende und herabtorkelnde Klarinetten-Solo mit den darunter bedrohlich erwachenden Bläsergruppen wie eine Reprise – und das Ende wie die volle orchestrale Exposition eines herausposaunten Neuanfangs und unerhörten Aufbruchs in ein metropolitanisches Kollektiv klingt, eine Musik, zu der DiCaprio wie beiläufig und dabei wie eine monumentale Kino- und Feuerwerks-Projektion sich diskret zu erkennen gibt, halt als Gatsby, ganz ungezwungen und doch unbedingt incognito, um nicht von der eigenen Riesenparty verschlungen und zerrissen zu werden. Rhapsodie als die musikalische Kunst des fragil-delikaten Erinnerns mitten in einer identitätslosen Verstörung und Nivellierung zwischen höchster herzschlagartiger Euphorie und tiefster Angst vor Enttäuschung. Nicht nur über das bourgeoise Objekt der doch unerreichbaren Liebe und ihr widerwärtig routiniertes Umfeld. Sondern auch als Trauer über den Untergang des Individuums, das allein noch im Behauptungsschwindel der fanfarenhaft überdrehten Themen, im schwerfällig gewordenen terroristischen Ideal, im Betrug der Idealisierung des ganz gewöhnlichen Ego und seiner marktförmigen Überhöhung zum Helden in der Swing-Spekulation an einer höllisch angeheizten Sozial- und Liebesbörse. Falsche Gläubiger und echte Spekulanten warten auf den Fehlschlag von Unternehmern und den Sturz der Aktien, lauern der Entwertung genüsslich auf, während oberflächlich emanzipierte Flapper-Girls den mit Alkohol-Schmuggel beschäftigten Männern die Show stehlen.

Nick Carraway (Tobey Maguire), der sichtlich mitgenommene Erzähler, ist ein durch und durch pathologischer Fall, weil er am Rande eines vermeintlichen Paradieses alt-neue Verbindungen und Erzählungen knüpfen, verwirren und entwirren darf, um am Ende über die stupide Nichtigkeit des Rausches nachsinnen zu müssen, nicht nur auf den großen, alle möglichen Gäste ohne formelle Einladung anlockenden Mega-Parties, sondern auch im Hochgefühl der scheinbar ganz persönlich angebahnten und gewählten Liebe, im hilflos unterdrückten Kierkegaardschen Sprung zwischen direktem sinnlichen Erlebnis und transzendenter Bindung. Diese Art der in Raum und Zeit gebremsten, zerdehnten und plötzlich überstürzten, aber nur in purer Sinnlichkeit sich entladenden Orgie, und in Myrtle Wilsons Leben und Tod, dem Schicksal von Toms proletarischer Geliebter, ein vorweggenommenes David-LaChapelle-Szenario der fröhlich-verzweifelten, schön-hässlichen und erhaben-gemeinen Verschwendung oder Verwüstung bei äußerster Kontrolle und tiefster Ergebenheit, lässt sich mit den Finessen eines dreidimensional zusammenmontierten Sinnenrausches gut verbinden, auf der Grenze zwischen haptischer Opulenz und ins Leere greifender Gier, die wie ein neu aufgeputzter Rennwagen ständig ins farblose Nichts hinter all den bunten Dingen stürzt. Das Glas kippt um, der Kristall zerbröckelt. Der Genuss rast vorbei, an allen Oasen und an allen Grenzen, einem unbekannten Ende zu. Verstanden, alter Knabe?

 

 

Der große Gatsby
Regie: Baz Luhrman, AUS/USA 2013,
ca. 142 Min.
mit Leonardo DiCaprio, Carey Mulligan,
Joel Edgerton

Die Buchausgaben:


F. Scott Fitzgerald
Der große Gatsby

Roman
Vollständige Neuübersetzung
aus dem Englischen von Reinhard Kaiser
insel taschenbuch 4191
Broschur, 212 Seiten
8,99 €
ISBN: 978-3-458-35891-6

F. Scott Fitzgerald
Der große Gatsby
Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell
Diogenes
detebe 26103, 328 Seiten
€ (D) 9.90
978-3-257-26103-5

 


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