Am
10. Oktober hätte der französische Schriftsteller und Nobelpreisträger
Claude Simon seinen hundertsten Geburtstag gefeiert.
Matthes & Seitz Berlin ehrt dieses Jubiläum mit einem besondere Band:
»Archipel Nord«. Die darin erstmals in deutscher
Übersetzung von Eva Moldenhauer vereinten Prosastücke und Fotografien
Simons legen eine Spur, der zu folgen intensive und verstörende
Leseerfahrungen garantiert. Sie führt direkt ins Werk eines der
wesentlichsten Literaten nicht nur französischer Feder des 20.
Jahrhunderts.
Claude Simon, der am 6. Juli 2005 im Alter von 91 Jahren in Paris starb,
gehört zu den bedeutendsten Prosaschriftstellern des 20. Jahrhunderts
und zusammen mit Samuel Beckett, Alain Robbe-Grillet, Nathalie Sarraute
und Robert Pinget zu den Begründern des »Nouveau Roman«.
Was für viele wichtige Autoren gilt, trifft auch für Claude Simon zu: Im
Grunde hat Claude Simon Zeit seines Lebens, platonisch gesprochen, an
einem einzigen »idealen« Buch geschrieben, dessen konkrete Abschattungen
und Manifestationen jeweils seine veröffentlichten Romane darstellen.
Wie
Picasso und Miró, zu deren malerischer Ästhetik die Poetik Simons eine
große Affinität zeigt, engagiert sich Claude Simon für die Republik, und
der spanische Bürgerkrieg, den er als Augenzeuge während seines
Aufenthaltes in Barcelona im Jahre 1936 kennenlernt, gehört zu den
großen wiederkehrenden Themen in seinem Werk, so in den Romanen
»Geschichte« (»Histoire«, 1967, deutsch 1999) und »Jardin des Plantes«
(1999), und als eigentliches Thema in dem von Eva Moldenhauer –
wie immer atemberaubend großartig – neu ins Deutsche übertragenen Roman
»Der Palast«. Claude Simons Romane enthalten sehr viel
autobiographisches Material, vieles von dem, was der Erzähler – oder das
Medium, durch das hindurch Erzählen geschieht – berichtet, ist dem
faktischen Erleben des Autors nachgebildet, und die rekurrierenden
Themen Kolonialismus, (Bürger-)Krieg und Kriegsgefangenschaft verweisen
stets auf Simons Vita. Aber ganz so einfach ist es denn doch nicht.
Claude Simon, wie gesagt, gilt als schwierig, und man
sollte gegen dieses Verdikt nicht allzu laut protestieren: es stimmt,
und stimmt doch auch wieder nicht. Geübte Simon-Leser sind
gewohnheitsmäßige Wiederholungstäter zwanghafter Natur; sie können sich
der rauschhaften Wirkung des Opiats nicht entziehen, die die Simon’schen
Texte spätestens nach einigen Seiten unweigerlich zu entfalten beginnen.
Mäandernde Sätze, der perspektivischen Ausfaltung des zu Beschreibenden,
des zu Vergegenwärtigenden folgend, aus sich selbst heraus sich
erneuernd, in immer neuen Anläufen immer andere Ansichten des
Gegenstandes mitteilend, ohne dass der so entstehende Text je zu einer
auktorialen Sicherheit gelangte darüber, wie es denn nun gewesen sei.
Thema des Nouveau Roman seit Faulkner: die Uneinholbarkeit des
Vergangenen, dessen beschreibende, erzählende Darstellung jederzeit den
»Makel« der Subjektivität an sich trägt.
Der Titel des Romans »Histoire« ist programmatisch: Simons Romane sind ein
epistemologisches Programm, das die Unmöglichkeit durchbuchstabiert, »Geschichte«, als Gegenstand privaten Erinnerns wie wissenschaftlicher
Reflexion, so wiederherzustellen, »wie es war«. Geschichte ist ein
prinzipiell unabschließbarer hermeneutischer Prozess, der existentiell
in die Gegenwart hineinreicht (Faulkner: »The past is never dead.
It
is not even past«).
Schwer errungene Rekonstruktionen, oft entstellt vom
neurotischen, durch schockhafte Erlebnisse präformierten und in
entsprechend entstellte Versionen ausmündenden Erleben des Erzählers, ob
Simon nun, wie in »Georgica« (»Les Géorgiques«, 1981), die Geschichte
eines von Napoleon geschassten Revolutionsgenerals schreibt oder die
Farbe einer Mauer in einem bestimmten Licht aus der Erinnerung zu
evozieren versucht; Weltgeschichte und Privatestes sind oft
ununterscheidbar ineinander verzahnt.
Das
Erzählen Claude Simons folgt dem vielschichtigen Prozess des Erinnerns
gerade auch in seiner Diskontinuität, seinen Brüchen und Abschweifungen.
Unvermittelt und einander oftmals überlagernd gehen so Szenen des
Krieges (immer wieder die Straße in Flandern, die traumatische Urszene
des Simon’schen Schreibprojektes, der als Mitglied einer
Kavallerieeinheit im 2. Weltkrieg unter Beschuss deutscher Flieger gerät
und als einziger überlebt) über in ebenso drastisch-pornographische wie
sinnlich-poetische (gerade in den gynäkologisch konkreten Beschreibungen
der Geschlechtsorgane) Darstellungen des Liebesaktes, Erinnerungen des
Fleisches gleichsam, die Erkenntniswert haben, und die sich dann
wiederum in ungeheuer dichten und subtilen Evokationen beispielweise
alter Postkarten und ähnlichen Assoziationsmaterials spiegeln. Im
tiefsten Inneren, dem clandestinen Zentrum der Simon’schen Texte, findet
sich dann immer wieder, wie vorbildlich in Faulkners »Absalom, Absalom«,
ein den Text als dramatischer Nucleus eigentlich in Gang setzendes
empörendes Ereignis – eine Beleidigung, ein Rechtsbruch, ein Missbrauch
–, das die Wut des Erzählens antreibt und von den Erzählerstimmen
eingekreist wird; analog findet sich auch im syntaktischen Zentrum, der
innersten Falte der hoch komplexen Struktur der oft über Seiten hin ohne
jegliche Interpunktion sich erstreckenden Simon’schen Sätze, der
semantische Kern, auf den hin und von dem weg das Erzählen sich
organisiert.
Die Technik, die Simon anwendet, um die an Picasso gemahnende
Vielflächigkeit des szenisch Dargestellten zu erreichen, ist die des
Films: das unbestechlich und scheinbar emotionslos beobachtende
Kameraauge, der Schnitt, die Überblendung, Kamerafahrten und
verschiedene Ausleuchtungen der Szene. Hier liegt auch die Nähe der
Simon’schen Texte zum Genre des Kriminalromans bzw. –films: im
unablässigen Einkreisen, dem perspektivisch motivierten Versuch, das
Ganze aus den fragmentarisch disparaten Schnitten und Ansichten zu
gewinnen, steckt ein kriminalistisches »who dunnit«, das sich allerdings
– hierin Robbe-Grillet, insbesondere dessen Roman »Der Augenzeuge« eng
verwandt – stets entzieht, weil sich das Ganze, die Aufklärung, das Zur-Strecke-Bringen des Täters, im phänomenologischen Oszillieren des
Gegenstandes verflüchtigt. Wo die Unmöglichkeit – oder Unaufrichtigkeit
– linearen Erzählens eingestanden und das nichtlineare Erzählen als das
unserer Wahrnehmungsweise adäquatere Medium avanciert wird, schwindet
auch die Hoffnung auf Gewissheit, den epistemologischen Anspruch des
cartesischen Denkens.
Sein
schriftstellerisches Credo formuliert Claude Simon in seiner
Nobelpreisrede, indem über die Suche des Schriftstellers nach seinem Weg
sagt: «In dieser Suche bewegt sich der Schriftsteller nur mühsam voran.
Indem er sich wie ein Blinder vorantastet, gerät er in Sackgassen, wird
zu Boden geworfen und fängt wieder von vorn an. Und wenn wir um jeden
Preis einen erbaulichen Sinn finden wollen in dem, was er treibt, so
liegt er vielleicht darin, dass wir in allem, was wir tun, um vorwärts
zu kommen, stets Treibsand unter den Füßen haben.« Wer Simon liest,
begibt sich auf unsicheren Boden und ist aufgefordert, auf dem
schwankenden Boden des Textes sicheren Stand zu suchen – der Gewinn
solchen Sicheinlassens wird nicht ausbleiben.
Wer die Probe machen will, dem sei geraten, mit »Der Palast«, einem der
»leichter zugänglichen« Romane des großen Claude Simon, zu beginnen. Und
wer noch ein Exemplar antiquarisch ergattern kann, dem sei das
irgendwann in den neunziger Jahren erschienene und wahrscheinlich längst
vergriffene Claude Simon gewidmete Heft der Zeitschrift »Du« empfohlen,
in dem Interviews mit dem Autor sowie handschriftliche Romanpläne, Fotos
und Postkarten aus Simons Besitz einen unnachahmlichen Einblick in die
Werkstatt des Schreibens geben.
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Claude Simon
Archipel | Nord
Kleine Schriften und Fotografien
174 Seiten, gebunden
Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer, mit Fotografien von Claude
Simon, herausgegeben und mit einem Vorwort von Brigitte Burmeister
22,90 €
978-3-88221-027-9
Claude Simon in Deutschland -
Kolloquium zum 100. Geburtstag
30.11.2013, 10:00 - 01.12.2013, 16:00, Köln, Bibliotheca Reiner Speck
Claude
Simon
Sechs große
Romane
Insgesamt 1675 Seiten. Übersetzt aus dem Französischen von Eva Moldenhauer
Gebunden, in Kassette
€ 98,00 (D) / sFr. 155,00
ISBN 3832179674
Claude Simon
Das Haar der Berenike
DuMont Speicher
Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer
Erzählung. 62 Seiten.
€ 7,50 (D) / sFr. 13,90
ISBN 3832179607
Ein Prosastück in
neunundsechzig beschreibenden lyrischen Skizzen, wie eine Miniatur:
Frauen am Strand, Fischer auf ihren Booten am Strand, nachts die Boote
ins Wasser schiebend, in einem Haus, Maultiergespann, Docks, Kaianlagen,
Arbeiter, ein Bordell, Huren, Strandgut, Fußspuren am Strand.
Das Haar der Berenike entstand zu einer Kunstmappe um Bilder
des katalanischen Malers Joan Miró. Das Haar der Berenike
erscheint zusammen mit der deutschsprachigen Erstausgabe von Claude
Simons frühem Text Versuch des Ordnens von Notizen aus dem Jahr
1962. |