Als Alfred Polgar einmal
für zwei Wochen verreiste, vergaß er, sein Radio abzustellen. Der Kopfhörer
blieb auf dem Tisch liegen und musizierte, dozierte und redete ohne Unterlass in
die Tischplatte hinein. Dramen und Börsenkurse, Wetteransagen und Lyrik:
Hunderte Stimmen teilten sich dem Tisch mit. Nach seiner Rückkehr fand Polgar
den Kopfhörer vor und wunderte sich, dass die Dauerbeschallung des Tisches keine
Spuren hinterlassen hatte. Polgar schreibt: „Wenn ich denke, ich hätte während
der vierzehn Tage den Wasserhahn offen gelassen! Es ist doch gut, dass der Geist
keine Substanz hat.“
Ich muss wohl so vor mich hingeschmunzelt haben, als ich Polgars Anekdote in der
Bahn las, denn die ältere Dame mir gegenüber beäugte mein Buch mit dem Titel
„Handbuch des Kritikers“ und fragte ein wenig ungläubig: „Ist das lustig, was
Sie lesen?“ Ich erwiderte, das müsse Sie selbst entscheiden, erzählte ihr die
kurze Geschichte und erwähnte beiläufig, ich sei auf das Buch durch die Lektüre
eines anderen gestoßen.
Es waren Erhard Schütz´ Essays zur Literatur, die mich auf Polgars wundervolle
Miniaturen aus dem Jahre 1937 stießen. „Echte falsche Pracht“ nennt sich die
Sammlung von Schütz´ journalistischen Arbeiten, Kritiken, Rezensionen und
Portraits, die 2011 im Verbrecher Verlag erschien und nicht nur wegen des
Hinweises auf Polgar der Lektüre lohnt.
Erhard Schütz, emeritierter Professor für Neuere deutsche Literatur, ist ein
exzellenter Kenner des Feuilletons und seiner Autoren in Geschichte und
Gegenwart. Sein knapp 600 Seiten umfassender Streifzug durch die Literatur des
20. und 21. Jahrhunderts bietet einen ausgezeichneten, ersten Einblick in sein
viel umfassenderes Werk. Hier tauchen wir ein in die Welten von Ransmayr, Jirgl
und Kurzeck, lernen die Figuren von Paul Auster, Thomas Pynchon und Philip Roth
näher kennen, und wir treffen die Klassiker wieder: Jünger, Koeppen, Benn, sogar
Hermann Löns und Walter Benjamin. Bei Schütz tritt Victor Auburtin mit Wiglaf
Droste in den Dialog, spricht Max Goldt mit Joseph Roth, und Berlin kommuniziert
mit dem Ruhrgebiet. Die Lindenstraße und Luhmann, Lethe und Lethen bilden sich
zu ungewohnten Paaren. Döblin und Gernhardt geben sich die Hand. Rühmkorf und
Blumenberg, Fontane, Gundolf und Virilio werden zu literarischen Komplizen.
Schütz zeigt sich als wilder Leser, dessen Kritiken kleine Kunstwerke sind.
Nur
ganz selten stellt sich im Text ein Satz quer, etwa wenn Schütz schreibt, der
Autor „unternimmt zu zeigen, wie das Pathos der gefährlichen, in der Riskanz
reizvollen Künstlichkeit virulent wird gegen die vermeintlich durch den Krieg
vollends desavouierte, allzu harm- und hilflose, allzu weich und sanft
harmonistisch behauptete Natürlichkeit.“
Dann hilft einmal mehr, sich Alfred Polgars Radio zu erinnern, wissend, dass der
Geist auch an dieser Stelle keine Beulen hinterlassen wird…
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Erhard Schütz
Echte falsche Pracht
Kleine Schriften zur Literatur
Verbrecher Verlag
Broschur, 608 Seiten
15,00 €
9783940426932
Leseprobe |