Home

Termine     Autoren     Literatur     Krimi     Quellen     Politik     Geschichte     Philosophie     Zeitkritik     Sachbuch     Bilderbuch     Filme     Impressum





Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


Anzeige

Glanz&Elend
Ein großformatiger Broschurband
in einer limitierten Auflage von 1.000 Ex.
mit 176 Seiten, die es in sich haben.

Ohne Versandkosten bestellen!
 

Bücher & Themen
Artikel online seit 25.06.14

Er kann es einfach nicht

Das Buch von Christian Wulff »Ganz oben Ganz unten«
ist tatsächlich ein »Lehrstück über Politik, Presse und Justiz,
das nachdenklich macht«, wenn auch aus anderen Gründen ...

Von Gregor Keuschnig


 

Man nennt es »Miranda-Urteil« oder einfach nur »die Rechte«. In Hunderten von Krimis wurden sie dem scheinbar oder tatsächlich überführten Mörder vorgelesen. Sie beginnen mit »Sie haben das Recht zu schweigen…«. Das Recht, die Aussage zu verweigern, ist ein essentielles Recht eines Verdächtigen oder Angeklagten. Mit dem Schweigen verhindert er unter anderem, sich in Widersprüche zu verwickeln, die dann als Hebel der Beweisführung gegen ihn dienen könnten, was sich im zweiten Satz zeigt: »Alles was Sie sagen, kann und wird vor Gericht gegen Sie verwendet werden«. Da das Recht zu schweigen auch bedeutet, dass man auf Aussagen zur Entlastung verzichtet, gehen Laien zumeist davon aus, dass Schweigen einem Tat-Eingeständnis gleich- oder mindestens nahekommt.

Auch Christian Wulff muss dieser Meinung sein. Nicht, dass er bei seinem Prozess geschwiegen hat. Aber im Prozess ging es nicht um das, was ihn nach wie vor umtreibt: Die Medienkampagne gegen ihn und gegen seine damalige Frau Bettina. Christian Wulff schweigt dazu nicht. Er schreibt darüber ein Buch. Dabei hat er womöglich den zweiten Satz seiner Rechte nicht bedacht.

Der Elder Statesman

Wulff tastet sich in dem Buch an die Kampagne um seinen Rücktritt als Bundespräsident heran. Dabei wechselt er ständig zwischen der Betrachtung der diversen Phasen des Skandalons und seiner politischer Biographie. Bei letzterem verfällt er schnell in einen salbungsvoll-pastoralen Elder-Statesman-Ton. Politik mache ihm »Freude« liest man da und wir erfahren, er führe seine Herde lieber von hinten (wie er es von Nelson Mandela gehört habe). »Ich habe schon immer gern unterschiedliche Menschen zusammengeführt und motiviert« steht da und der Käse ist dann endgültig geschmolzen. Von seiner Zeit als Ministerpräsident schwelgt Wulff in den höchsten Tönen. Selbstlob ist durchaus seine Sache. Dass aus der geplanten feindlichen Übernahme von VW durch Porsche der Volkswagen-Konzern gestärkt herausging, bucht er großzügig auf seine Seite. Bemerkens­wert sein Politikverständnis dieses Amtes. Als demokratisch gewählter Politiker sieht er es als seine Aufgabe an, Unternehmen »Hilfe auf dem Weg zu neuen Absatz­märkten« zu leisten. Vielleicht kann mir jemand diese Stelle in der niedersächsischen Verfassung einmal zeigen? Ich habe nur §37 Absatz 1 gefunden und dort steht unter anderem: »Die Ministerpräsidentin oder der Ministerpräsident bestimmt die Richtlinien der Politik und trägt dafür die Verantwortung.«. Sogar der Bundespräsident ist für Wulff neben seinen repräsentativen und protokollarischen Pflichten hauptsächlich dazu da, »den Zusammen­halt und die Wettbewerbsfähigkeit unserer Gesellschaft« zu fördern. Somit hatte die Bullshit-Phrase »Wettbewerbsfähigkeit« mit Wulff Einzug ins Bellevue und in das Amt des Bundespräsidenten gehalten.

Wahlen als Folklore

Erstaunlich auch Wulffs Verständnis von Demokratie. Geschlossenheit ist für ihn eine Tugend und »vollkommen selbstverständlich«. Und er rechtfertigt offen den Fraktions­zwang. Wo käme man sonst hin, wird rhetorisch gefragt. In nur zwei Fällen sei die geheime Wahl in der Verfassung vorgeschrieben, so Wulff. In allen anderen Fällen legen die Geschäftsordnungen der Parlamente, dass öffentlich abgestimmt wird, damit der Fraktions­zwang überprüft werden kann [Hervorhebung von mir]. Mit dieser selbstgefälligen Sicht geht er schließlich auch in die Bundesversammlung. Dort standen die Mehrheiten »de facto von vornherein fest«, wie er mit großer Selbstverständlichkeit formuliert. Gegenkandidaten gingen zwar ins Rennen, hätten aber eigentlich nie eine Chance. Daher spreche man, so Wulff, von »Zählkandidaten«. Gauck sei 2010 nur nominiert worden, um die Reihen in der schwarzgelben Regierungskoalition zu verunsichern. Die Wahl zwischen Kandidaten ist für Wulff also eine Verunsicherungs­kampagne; bestenfalls eine Art Demokratiefolklore. Die Appelle von Biedenkopf und von Weizsäcker, die beide mit Gauck sympathisierten, den »Fraktionszwang« für die Wahl zum Bundespräsidenten aufzuheben, begegnet Wulff mit einer interessanten Volte: Es gebe gar keinen Fraktionszwang, so Wulff, weil – und das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen – in der »geschlossenen Wahlkabine« eine solcher Zwang »gar nicht durchsetzbar« sei. Er spricht also nicht davon, dass es Fraktionszwang de jure gar nicht gibt, sondern nur, dass er nicht durchsetzbar ist. Wulff hat das informelle Verbiegen demokratischer Grundrechte bereits derart internalisiert, dass er gar nicht merkt, mit welcher Verachtung er frei gewählten Abgeordneten damit begegnet. Wenn er sich dann später für mehr Diskussionsprozesse in Parteien stark macht und nicht jeden Disput gleich als »Streit« in den Medien denunziert sehen möchte, ist das kaum noch glaubwürdig.

Mit seiner eigenen Beckmesserhaftigkeit weist Wulff daraufhin, dass er im 3. Wahlgang mit der absoluten Mehrheit gewählt wurde, die im 1. Wahlgang angestrebt war. Er sei damit nicht durch die Enthaltung der Linkspartei gegenüber Gauck gewählt worden. In Bezug auf den 3. Wahlgang hat er natürlich Recht: Wäre das Ergebnis im 3. Wahlgang schon im 1. Wahlgang erreicht worden, wäre Wulff sofort Bundespräsident geworden. Gleichzeitig ist es aber auch nur die halbe Wahrheit: Hätte nämlich – rein theoretisch – die Linke im 1. Wahlgang für Gauck (statt für ihre Kandidatin Luc Jochimsen) gestimmt, wäre es gar nicht zum 3. Wahlgang gekommen und Gauck wäre schon im 1. Wahlgang mit 625 Stimmen Bundespräsident geworden. Der Zählkandidat hätte reüssiert – für Wulff ein nahezu undenkbarer Vorgang, ein Unglück.

Die Sache klingt banal, offenbart aber Wulffs Verankerung im Politbetrieb. Im Kapitel über seine Bundespräsidentschaft beklagt er sich dann über die protokollarischen Regeln, die ihn gefesselt hätten. Beispielsweise darf ein Bundespräsident seine Gesprächspartner nicht aufsuchen – die Personen müssen zu ihm kommen. Daher hätte er sich am Ende nicht ausreichend beraten können, so der Tenor. Tatsächlich hatte es Wulff doch nicht zuletzt durch die virtuose Choreographie dieser Regularien nach »ganz oben« in der politischen Hierarchie geschafft.

Keine Geschäftsbeziehung?

Auch wo Wulff im weitesten Sinn Recht hat, schleichen sich Ungereimtheiten ein. »Von einer aktiven Zusammenarbeit, gar einer Geschäftsbeziehung« mit dem Springer Verlag bzw. »Bild« »kann…keine Rede sein«, so Wulff wuchtig. Er, der in seiner Mailbox-Nachricht an Kai Diekmann vom »Bruch« spricht – was droht dort denn zu brechen? – redet von »kontrollierte[r] Freigabe« des Privatlebens und legt noch nach: »Home-Stories gab es mit uns nicht«. Natürlich ist »Home-Story« ein dehnbarer Begriff, aber wie anders sollte man das und das bezeichnen?

Und wenn es denn keine »Geschäftsbeziehung« gab, wie nennt man das, wenn Kai Diekmann am 30. September 2010, drei Tage vor der Rede zum Tag der Deutschen Einheit mit dem später kontrovers diskutierten Statement, mit Wulff und seiner Frau beim Frühstück in Schloß Bellevue sitzt? Hastig beeilt sich Wulff darauf hinzuweisen, dass er Ende Juni 2010, »also noch vor meiner Wahl«, eine Einladung in Diekmanns Haus in Potsdam angenommen hatte. Dies war nun sozusagen die »Gegeneinladung«, die »seit längerem« verabredet gewesen sei. Was leicht unterzugehen droht: Wulff war seit 3. Juni Regierungskandidat für das Amt des Bundespräsidenten. Die Wahl fand am 30. Juni statt. »Ende Juni« war Wulff bei Diekmann – also unmittelbar bevor er zum Bundespräsidenten gewählt werden sollte. Wulff konnte Ende Juni trotz der Diskussion davon ausgehen, dass er Bundespräsident wird (siehe »Zählkandidat«!). Diekmann bekommt also eine Gegeneinladung, wenn Wulff im Amt sein würde. Soviel zum Thema, es gebe einen »Abstand« zu den »Springer«-Medien und das Verhältnis sei schwierig gewesen, wie er an anderer Stelle schreibt. Worin die Schwierigkeiten bestanden haben, schreibt er nicht. Denn immerhin: Diekmann bekam an diesem 30.9. Wulffs Rede zum 3.10. zu lesen. Alleine dies verbietet sich. Dann glaubte er noch Wulff korrigieren zu müssen und meinte, der Satz, der Islam gehöre zu Deutschland, »ginge in keinem Fall«. Wulff bemerkte Diekmanns »Missfallen«, aber seine Entscheidung war gefallen, wie er leicht kokett anfügt. Er sei heute noch stolz, diesen Satz gesagt haben.

Mephisto und Faust?

Für Wulff steht rückblickend fest: Es war diese Rede, die vorher mehrfach getätigten Aussagen zur »bunten Republik« und – da wird es skurril – sein neuer Stil der Weihnachtsansprache stehend und mit Menschen als Zuhörer (hier greift er ausführlich die Kritik des Kölner Kardinals Meisner auf, als wäre dieser für einen Bundespräsidenten satisfaktionsfähig gewesen), die ihn am Ende gestürzt hat. Die im Netz kursierende These, er habe mit seiner Lindauer Rede zur Euro- und Bankenkrise angeeckt, stuft er als »Verschwörungstheorie« ein. Stattdessen wendet er sich dann im Laufe des Buches seiner eigenen Verschwörungstheorie zu.

Da »Bild« und Kai Diekmann von Wulff voll umfänglich zu den Hauptschuldigen erklärt werden, werden alle Indizien in diese Richtung gedeutet. Als bei einem Afghanistan-Besuch Wulffs »Bild« keinen Korrespondenten dabei hatte, was man angeblich vorher mit Glaeseker, Wulffs Pressemann, eingefädelt hatte, bebt der Mephisto des deutschen Journalismus durch beredtes Schweigen in der Redaktionsrunde.

Also war es Rache? Kein »Verweile doch, Du bist so schön…« war Wulff als Bundes­präsident gegönnt? Oder nur eine »fatale Abfolge gegenseitiger Irritationen«? Wie kann man sich als Bundes­präsident von der »Bild«-Zeitung »irritieren« lassen? Und was könnte daran »fatal« sein?

Die Höhepunkte der sogenannten »Mailbox«-Affäre erklärt Wulff schlüssig – aber es bleibt in seiner Fixierung auf Diekmann nur die halbe Wahrheit. Wenn dem dann so wäre, wenn also eine Figur wie Diekmann die mediale Macht besäße, nicht nur in seiner Postille sondern in der nahezu gesamten Journalistenschaft den wirkungsmächtigen Mephisto abzugeben – was würde das eigentlich für einen Staat wie die Bundesrepublik bedeuten? Wulff kommt nicht einmal auf die Idee, diese Frage zu stellen, sondern zählt stattdessen die in Talkshows und Redaktionsstuben entstandenen Seilschaften auf. Das ist aber längst bekannt und ausgiebig dokumentiert worden.

Würde Wulff die auf ihn angezettelte Jagd auf sich und seine Person beziehen, könnte man ihn womöglich für paranoid erklären. Schon um sich selbst zu schützen nimmt Wulff gesellschaftspolitische Ursachen für diesen medialen Krieg an. Das kann man machen – aber dann darf man sich nicht in Andeutungen ergehen. Wenn es um die »bunte Republik« ging für die Wulff eintrat und die »Springer«-, »Spiegel«- und »FAZ«-Journalisten verhindern wollten, müsste er Belege hierfür bringen. So erinnert er sich an den Disput mit Diekmann beim Frühstück nicht mehr. Das ist schade, denn hier könnte ein grösseres Mosaiksteinchen zu finden sein. Denn bisher waren Leute wie Minkmar, Patrick Bahners, Frank Schirrmacher, Georg Mascolo und Tillack nicht direkt dafür bekannt, Parteigänger Diekmanns und Blomes zu sein. Vor allem Bahners attackiert er (ohne ihn zu nennen) ziemlich unnötig und in Verkennung von dessen Intention. Die grundsätzliche Frage ist also: Warum machten irgendwann (fast) alle mit?

Am 13.12.2011 war ich auch der Meinung, dass es tatsächlich um Wulffs Weltoffenheit ging, die einigen Journalisten nicht gepasst hat. Diese war ja auch (und vor allem) innerhalb der Union nicht ohne Widerspruch. Was mich schon damals – vor der »Mailbox«-Affäre – skeptisch stimmte war die merkwürdige Einigkeit in der Presselandschaft. Plötzlich war – in aller Öffentlichkeit – die »Bild« als investigatives, seriöses Medium mit »Spiegel«, »FAZ« und anderen sozusagen satisfaktionsfähig geworden.

Als die Punkte Häuserkauf, Lüge oder Nichtlüge des niedersächsischen Parlaments mehr oder weniger ins Nichts verpufften, trug Wulff mit seiner ominösen Mailbox-Nachricht selber zur Eskalation der Medienspirale bei. Die genaue Abwicklung dieser Kampagne, während der Kai Diekmann die »Bild« als Banner der Pressefreiheit inszenierte, ist bei Michael Götschenberg nachzulesen. Wulff liefert in seinem Buch den Wortlaut der Mailbox-Nachricht. Sie deckt sich bis auf drei von ihm vorgenommene Ergänzungen mit dem Text, der am 14.12.2012, also fast genau ein Jahr später, auf Focus-Online publiziert wurde. Wulff spricht von einer »Riesendummheit«, diesen Text auf eine Mailbox ge­sprochen zu haben. Er habe, so seine Aussage, die Möglichkeiten, die ein solcher Text als unwiderruflich abgespeichertes Medium bietet, unterschätzt. Seine Erklärung hierfür, in einer anderen Angelegenheit habe man ihm einige Wochen vorher geraten, doch einfach mal anzurufen, mutet reichlich naiv an. Und man fragt sich mehr als nur einmal in diesem Buch, wie ein ausgebuffter Politprofi wie Wulff eine derart unbedarfte Haltung an den Tag legen kann. Und man fragt sich zweitens wo denn seine Berater, Pressesprecher und sonstigen Helfer gewesen sind.

Der Sündenfall: Diekmanns Schmierentheater wird von den »Qualitätsmedien« willig begleitet

Detailliert schildert Wulff, wie Diekmann die »Bild« nun sukzessive als »Opfer« eines Politikers, der durch die Hintertür einen »Anschlag« auf die Pressefreiheit implementierte. Wulffs Wahrnehmungen der entscheidenden Fernsehsendungen – Günther Jauch und auch das Interview mit Deppendorf/Schausten – decken sich weitgehend mit Götschenbergs Erläuterungen. »Spiegel« und »FAZ« hingen sozusagen an den Lippen von »Bild«. Dabei kannten nur die wenigsten den genauen Wortlaut der Mailbox-Nachricht. Aber Journalisten sind es ja eh gewohnt, nicht genau und vollständig zu lesen – es scheint eher störend für das eigene Weltbild zu sein. Wulffs Nachricht ist für sie ein Elfmeter ohne Torwart, wobei sie Schützen sind, die eine Augenbinde tragen. Aber die martialischen Begriffe wie »Krieg« und »Rubikon« lassen sich wunderbar aus dem Zusammenhang reißen, entstellen und durch den Zitatewolf drehen.

Aber auch hier schießt Wulff zuweilen über das Ziel hinaus. Etwa wenn er über den »Laienjournalismus« wettert, der ihn aber doch gar nicht zu Fall gebracht hat. Oder, gravierender, auf einen Artikel in der FAZ vom 19.12.2011 hinweist, in dem erstmals raunend auf eine Mailbox-Nachricht angespielt wird und dann suggestiv schreibt: »Der Autor des Artikels wurde [Hervorhebung von mir] zum 1. Januar Feuilleton-Chef des Blattes.« Gemeint ist Nils Minkmar, der jedoch schon einige Monate vorher zum Feuilleton­chef ernannt worden war. Überraschenderweise geht Wulff nicht en détail darauf ein, dass jemand wie Minkmar, aber auch Georg Mascolo (damals »Spiegel«) den gesamten Originaltext der Mailbox-Nachricht nicht gekannt hatte (was in den Fernsehsendungen »Beckmann« [Minkmar] und »Günther Jauch« [Mascolo] sichtbar war), aber beide dennoch »wussten«, wie Wulffs Reaktion zu bewerten ist. Eine größere intellektuelle Verkommen­heit als sich über etwas offensiv zu äußern, was man nicht kennt, gibt es eigent­lich nicht.

Feind, Intimfeind, Parteifreund

Also doch alles »Bild« und Journaille? Ja und nein. Die Sache ist vermutlich komplizierter. Die These von Stefan Niggemeier, Wulff sei über eine Falschmeldung in »Bild« gestürzt, ist verkürzend und falsch. Selbst Wulff sieht das komplexer. Die manipulierte Meldung der »Bild« diente der Staatsanwaltschaft als Initial, die Immunität des Bundespräsidenten aufzuheben. Denn Wulff erzählt, wer dort inzwischen Platz genommen hatte. Es sind die interessantesten Passagen in seinem Buch, die man kurz mit dem Superlativ von »Feind« zusammenfassen könnte: Feind -> Intimfeind -> Parteifreund. Selbst Wulffs Nachfolger David McAllister gab auf dem Höhepunkt der Hatz auf Wulff die Direktive aus, keine Solidaritätsadressen für den Bundespräsidenten abzugeben. Journalisten hatten bei ihm selber eine kleine Verfehlung entdeckt – er hatte einen Leihwagen (VW-Golf) zu vergünstigten Konditionen erhalten. Seine Neutralität beschützte ihn nun.

Aus McAllisters Kabinett wurde mit dem niedersächsischen Justizminister Bernd Busemann (CDU) ein Intimfeind Wulffs tätig. Busemann hatte sich gegenüber dem Ministerpräsidenten Wulff öffentlich eine Illoyalität geleistet. Jahre später wurde Busemann im Rahmen eines Kabinettrevirements 2008 vom Kultusminister auf das Amt des Justizministers gelotst. Dabei muss man wissen, dass Kultusminister in den Bundesländern durchaus wichtige Aufgaben zu erfüllen haben, während Länderjustiz­minister eigentlich ziemlich überflüssig sind. Ihr »Handlungsspielraum« sei »normaler­weise beschränkt«; sie, die Länderjustizminister »führen in erster Linie Aufsicht über Gefängnisse und Staatsanwalt­schaften«, so Wulff leicht sarkastisch. Letzteres wird ihm dann tatsächlich noch zum Verhängnis werden. Busemann, der schon früher auf Konfrontation zu Wulff gegangen war, bekommt urplötzlich auf seiner »abgeschobenen« Position einen Hebel in die Hand. Die Rechnung lag schon lange in der Schublade – jetzt wird sie präsentiert.

Die zweite Person, die bei der Aufhebung der Immunität eine wichtige Rolle spielt, ist Frank Lüttig, der damalige Leiter der Abteilung IV im niedersächsischen Justiz­ministerium. Wulff hatte durch Einsparungsmaßnahmen Lüttigs Karriere »blockiert«. Erst nach dessen Weggang wurde Lüttig Abteilungsleiter. Und kurz vor Busemanns Aus­scheiden aus dem Justizministerium (Anfang 2013 verloren CDU/FDP die Landtags­wahlen) ernannte er Lüttig noch zum Leiter der Generalstaatsanwaltschaft in Celle, der vorgesetzten Behörde der Staatsanwaltschaft Hannover. »Damit übernahm Frank Lüttig die Aufsicht über das Ermittlungsverfahren gegen mich, dessen Eröffnung er als Abteilungsleiter mit zu verantworten gehabt hatte«, so Wulff. Merkwürdig, dass er nur am Rande feststellt, dass die Aufhebung der Immunität des Bundespräsidenten formal gar nicht durch eine Staatsanwaltschaft erfolgen kann. Das Grundgesetz sieht vor, dass nur das Bundesverfassungs­gericht aktiv werden kann – und auch nur für eine gravierende Verfehlung im Amt.
 

Man muss jetzt nicht selber in dunkle Mächte heraufbeschwören, um die wachsende Unverhältnismässigkeit der Ermittlungen gegen Wulff und seine Familie zu entdecken. Vorwürfe und angebliche Fundstücke waren zum Teil bizarr. So folgte man dem Hinweis, Wulff habe 1976 bei der Wahl zum Schülersprecher seine Mitschüler mit »After eight« »bestochen«. Die Wechselwirkungen zwischen den ermittelnden Behörden und den Medien führte zu diesem Ermittlungswahnsinn, der dem Steuerzahler am Ende Millionen Euro gekostet hat. Man kann sich vorstellen, wie groß der Druck gewesen sein mag, »etwas« zu »finden«. Sowohl für die Ermittlungsbehörden als auch für die Ankläger aus dem Journalismus stand viel auf dem Spiel. Am Ende wurde Wulff »uneingeschränkt unschuldig« gesprochen, was er gleich zu Beginn des Buches erwähnt.

Dennoch: Wulffs Wortmeldung ist fatal. Es beginnt schon beim Titel des Buches: »Ganz oben Ganz unten«. Jürgen Kaube weist richtigerweise darauf hin, dass »Ganz oben« nicht pekuniär gemeint sei und Empörung über das »Ganz unten« daher nicht angebracht sei. Dem stimme ich zu. Aber niemandem ist aufgefallen, dass der Titel eine Anmaßung enthält. Wulff spielt auf Günter Wallraffs Buch »Ganz unten« an, in dem Wallraff Anfang der 1980er Jahre in der Rolle als türkischer Grubenarbeiter die Arbeitsbedingungen und das soziale Umfeld im Ruhrgebiet beschrieb. (Man sage mir nicht Wulff kennt Wallraff nicht – er zitiert aus dessen Buch »Der Aufmacher. Der Mann, der bei ‘Bild’ Hans Esser war«.) Später im Buch erzählt Wulff in höchsten Tönen von seinem Besuch beim türkischen Staatspräsiden Gül und seinem freundschaftlichen Verhältnis zu ihm. Wulff sieht sich »Ganz unten«, da er für die Türken Partei ergriffen hat, ja, er sieht sich womöglich als eine Art Ali Levent, jener, für den sich Wallraff ausgab.

Ich habe inzwischen keinen Zweifel daran, dass Wulff in einer Mischung aus selbst­verschuldetem Unglück und narzisstischem Jagdtrieb einiger wildgewordener Egomanen einem eben auch qualitätsmedialen Blutrausch erlag, in dem sich zu Beginn mehrere Jäger gleichzeitig auf das gleiche Objekt konzentrierten. Zunächst begann ein Wettkampf (»Bild«, »stern«, »Spiegel«). Als »Bild« durch die Mailbox-Nachricht praktisch über Nacht ein Faustpfand in der Hand hatten, übernahm »Bild« die Führungsrolle. Willig liessen sich nahezu alle selbsternannten Qualitätsmedien vor den Karren spannen. Zu verlockend schien die Trophäe. Da nach der Euphorie die Vorwürfe nicht für eine fortlaufende Skandalisierung taugten, wurden nun alle Hebel, auch die absurdesten, in Bewegung gesetzt. Gäbe einen solchen Straftatbestand könnte man von einer Art informationellen Belästigung durch die Medien sprechen.

Wulff stolperte dabei wie ein waidwundes Tier immer wieder mit großem Schwung in die aufgestellten Fettnäpfchen, die aber, um im Bild zu bleiben, nur leer waren. Dass er 2010 direkt von der aktiven Politik in die repräsentative Aufgabe wechselte, stellte sich als Malus statt als Bonus heraus. Zu tief war er in landespolitische Kabale verstrickt, in denen er sich in all den Jahren auch Feinde geschaffen hatte. Ihm ist übel mitgespielt worden, aber er hat auch als Krisenmanager versagt, weil er zu lange darauf baute, dass das Amt des Bundespräsidenten ihn schützen werde. Am Ende ist es verrückt: Es ging gar nicht mehr direkt um die Person Wulff, sondern um das Jagdobjekt Bundespräsident. Wäre Wulff Präsident einer mittleren Behörde gewesen, wäre die Angelegenheit früh zu Ende gewesen. Dass Wulff den Prozess durchzog und nicht auf einen Deal der Staatsanwaltschaft einging, hat die teilnehmenden Journalisten verärgert.

Eine Aufarbeitung fand in einigen Medien durchaus statt. Zaghaft begann bei einigen Journalisten eine Art Reflexionsprozess. Mit dem Unschuldsspruch des Gerichts wurde ihnen der Wind aus den von ihnen aufgeblähten Segeln genommen und aus den leer­gepusteten Backen japsten sie undeutlich, aber bemerkbar um Vergebung. (Dies gilt und galt freilich nur für jene die noch nicht besoffen sind in ihrem Selbstheroisierungs­wahn.) Die Sachverhalte hätten in den nächsten Jahren von neutralen Publizisten in Ruhe aufgearbeitet werden können. Mit »Ganz oben Ganz unten« ist dieses zarte Pflänzchen der Demut wieder akut vom Aussterben bedroht. Der Korpsgeist beginnt sich zu re-formieren. Denn eines hat die Affäre ganz deutlich gezeigt: Wenn es um Auflage und Ruhm geht, finden sich auch in der Presselandschaft für unmöglich gehaltene Allianzen. Wulff hätte aus dem Recht zu Schweigen eine Pflicht machen sollen. Er hätte sich mit zielgerichteten politischen und/oder sozialen Engagements wieder vorsichtig in das politische Bewusstsein des Landes einbringen sollen. Stattdessen bietet er mit teilweise ungenauen und ungelenken Formulierungen wieder neue Angriffsflächen. So langsam verfestigt sich der Eindruck: Er kann es einfach nicht.

 

Christian Wulff
Ganz oben Ganz unten
C.H. Beck Verlag
259 Seiten
15 Abbildungen. Gebunden
19,95 €
978-3-406-67200-2

Leseprobe

 


Glanz & Elend
- Magazin für Literatur und Zeitkritik
Home   Termine   Literatur   Blutige Ernte   Sachbuch   Politik   Geschichte   Philosophie   Zeitkritik   Bilderbuch   Comics   Filme   Preisrätsel   Das Beste