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Artikel online seit 02.04.13

Der Tod des Malers

Steven Naifehs und Gregory White Smiths
opulente Biographie beleuchtet den Tod Vincent van Goghs neu.

Von Patrick Wichmann





 

Die Liste der – wirklichen wie vermeintlichen – verkannten Genies ist lang, über viele von ihnen lässt sich streiten. Ganz weit vorne im Feld dieser Gestalten rangiert ein Mann, der mittlerweile ebenso beliebt und bekannt wie mythenumwoben ist: Vincent van Gogh. Die Popularität des eigenwilligen Niederländers äußert sich dabei nicht zuletzt in zahlreichen Publikationen, die die Facetten seines Lebens und Schaffens ausleuchten. Jüngst ist eine Biographie von Steven Naifeh und Gregory White Smith erschienen, die nicht nur durch ihren Umfang auf sich aufmerksam zu machen weiß, sondern insbesondere auch durch ihre polarisierende Schlussthese. Die beiden Autoren, die sich während des Harvard-Studiums kennenlernten und 1991 für ihre Jackson Pollock-Biographie mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurden, stellen die übliche Darstellung von van Goghs Selbsttötung in Frage und zeigen eine alternative Deutungstheorie seines Todes auf.

Die tradierten und populären Legenden um van Gogh sind zahlreich und geraten in den letzten Jahren zunehmend in den Blickpunkt von Kontroversen: Zunächst hat es den Mythos von »Van Goghs Ohr« (Hans Kaufmann / Rita Wildegans) erwischt, nun steht auch der vermeintliche Selbstmord zur Debatte. Zehn Jahre haben Steven Naifeh und Gregory White Smith an ihrer Biographie gearbeitet und in dieser Zeit das Leben des Künstlers minutiös aufgeschlüsselt. Ihre Analyse stützen sie dabei insbesondere auf die Korrespondenz van Goghs, darunter vor allem auf den Briefwechsel mit seinem Bruder Theo. So legen sie Facette um Facette seines Lebens offen und gehen dabei stellenweise explizit auf den historischen Hintergrund ein. Panoramenhaft breiten sie so etwa die Familiengeschichte der van Goghs aus und beschreiben das Elternhaus als von Zusammenhalt und Religiosität, relativer Bildungsnähe und Pflichtgefühl geprägt. Hier wächst der junge Vincent auf und gilt im Dorf und unter Gleichaltrigen rasch als verschlossen und eigenwillig, als Paria. »Er war schon immer seltsam.« Der Fokus des Bandes liegt jedoch klar auf van Gogh selbst, Ausflüge in die Hintergründe bleiben letztlich eher Einzelfälle – eine Tatsache, die den Umfang von knapp 1200 Seiten umso bemerkenswerter macht.

Nach und nach begleiten die beiden Autoren van Gogh auf seinem Lebensweg von Nordbrabant nach London, weiter Richtung Paris, über verschiedene Stationen als Hilfslehrer in England, die belgische Industrielandschaft Borinage, Brüssel und Antwerpen, das berühmte »Gelbe Haus« in Arles, Saint-Rémy-de-Provence und viele weitere Ortschaften bis hin zu seinem Tod 1890 in Auvers-sur-Oise. Auf diesen Stationen zeichnen sie das ergreifende Bild eines lebenslang Getriebenen und beschreiben ungemein detailreich die persönliche und künstlerische Entwicklung van Goghs. Dabei leuchten sie auch einige Punkte aus, die bisher eher am Rande behandelt wurden, so etwa die Liebe van Goghs zur Literatur, insbesondere zu Charles Dickens und Émile Zola.

Naturgemäß widmen sich die Autoren insbesondere der Genese des Künstlers van Gogh. Dieser war nicht immer der Meister strahlend heller Farben, für die er in der Nachwelt berühmt wurde, sondern begann als Maler mit einer dunklen Palette. Exemplarisch hierfür bringen sie immer wieder das Gemälde Die Kartoffelesser an. Trotz der ständigen Misserfolge hielt van Gogh an seiner Passion fest, malte aus schon krankhaftem Glauben an seine Kunst. »Das Fieber nährt sich selbst.« Das Scheitern in der Gegenwart wusste er dabei stets durch eine doppelte Strategie zu überspielen: Er verklärte die Vergangenheit zu einer glücklichen Oase und pflegte umgekehrt die Illusion zukünftigen Erfolgs. Diese Hoffnung sollte jedoch erst kurz vor seinem Tode langsam Realität werden. »Alles, wofür er sich begeisterte, wurde mit Widerspruch oder Geringschätzung quittiert.« So blieb er lebenslang von der finanziellen Unterstützung seines Bruders Theo abhängig, der das Geld zwar mit vollen Händen gab, jedoch nie Vincents ausufernde Bedürfnisse befriedigen konnte. Vice versa erpresste Vincent van Gogh gewissermaßen seinen Bruder durch seine emotionalen Ausbrüche: »Wenn Theo nicht spurte […] erging sich Vincent in haltlosen Beschimpfungen.«

Gerade als van Gogh vor dem Durchbruch stand, als ihn der Kunstkritiker Albert Aurier als Genie bezeichnete und er endlich nach Jahren des ungestillten Erfolgsdurstes ein Gemälde verkaufte, ereilte ihn der plötzliche Tod im Alter von gerade 37 Jahren. Dieser Umstand hat unzweifelhaft zu der posthumen Mythisierung beigetragen. Für Vincent van Gogh selbst scheint der Tod eine Erlösung gewesen zu sein, so schrieb Theo nach seinem Tod an die Mutter: »Er hat die Ruhe gefunden, nach der er sich gesehnt hat.« Und: »Das Leben war so eine Last für ihn.«

Wie van Gogh jedoch nun gestorben ist, darüber haben Naifeh und White Smith eine neue These entwickelt. Sie widersprechen der gängigen Selbstmord-Interpretation und behaupten, der Maler »chaotischer Wildheit« sei versehentlich von zwei Jugendlichen, dem Brüderpaar René und Gaston Secrétan, erschossen worden. Letztlich sind jedoch auch die beiden Autoren genötigt, sich bei ihrer Auslegung auf Zeugenaussagen von zweifelhafter Glaubwürdigkeit zu stützen – wie es letztlich auch die Vertreter der Selbstmord-Theorie mangels klarer Beweise tun müssen. Wie auch immer man letzten Endes zu dieser These stehen mag, diskussionswürdig und anregend ist sie allemal.

Doch auch Kritik muss sein: Dass die Studie bisweilen redundant ist, sich vor allem über van Goghs Anfänge als Maler um die Beziehung zu Bruder und Vater sowie die ständigen Geldproblemen dreht und die Schlusspointe nur halbherzig formuliert wird, mag noch leicht zu verschmerzen sein. Die Aufmachung des Bandes hingegen ist es nicht. Nur wenige Abbildungen finden sich im Textteil, ausnahmslos in schwarz-weiß gehalten – insbesondere bei einem farbenfrohen Maler wie van Gogh ein Ärgernis. So muss der Leser also immer wieder die gerade passenden Bilder in den beiden Bildteilen nachschlagen, wenn er die Beschreibungen und Gedankengänge der Autoren en détail nachvollziehen will. Ein bisweilen mühsames Unterfangen. Wenn die beiden Autoren etwa eingehend über die Bedeutung der Farbgebung des Gemäldes Stillleben mit Bibel schreiben, jedoch anbei nur eine farblose Abbildung zu finden ist, dann ist das äußerst bedauerlich. Wie ein Buch über Kunst zu präsentieren ist, hat jüngst etwa Eric Kandels reich illustrierte Studie »Das Zeitalter der Erkenntnis« gezeigt.

Viel gäbe es an dieser Stelle über Vincent van Gogh und sein »fanatisches Herz« zu erzählen, über den hohen Preis, den er Zeit seines Lebens für den posthumen Nachruhm zahlen musste: seinen Alkohol- und Tabakkonsum, den angeblichen Wahnsinn, seine ziellosen Visionen von idealisiertem Familienleben. All das und etliche weitere Facetten haben Steven Naifeh und Gregory White Smith in ihrer für wissenschaftliche wie private Zwecke überaus lesenswerten Biographie beleuchtet. »Van Gogh. Sein Leben« wird ohne Zweifel für die kommenden Jahrzehnte das maßgebliche Standardwerk zu dem künstlerischen Genie Vincent van Gogh für Fach- und Laienpublikum gleichermaßen sein.
 

Steven Naifeh / Gregory White Smith
Van Gogh.
Sein Leben.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Bernhard Jendricke, Christa Prummer-Lehmair, Sonja Schuhmacher und Rita Seuß.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2012
1211 Seiten
34,00 €
9783100515100

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