Das
»Tausendjährige Reich«, so notiert
Ernst Jünger in seinen
Nachkriegstagebüchern, habe es immerhin geschafft, durch endlose Literatur
danach und darüber verewigt zu werden. Dergleichen Rede läuft immer wieder allzu
schnell hinaus auf ein pseudo-pathetisches und ästhetisierendes Verhältnis zur
Nazidiktatur, ihrer expansiven Politik eines Eroberungs- und Vernichtungskrieges
und ihrem massenmörderischen Netz aus Konzentrationslagern. Und dieser
pathetische Tonfall schwingt auch insbesondere mit in der Diskussion über
Jonathan Littells fiktiv-autobiographischen
»Entwicklungsroman«,
einer »Lebensbeichte«
eines intellektuellen und in gewisser Weise anfänglich sensibel daherkommenden
SS-Mannes:
»Die
Wohlgesinnten«.
Frank Schirrmacher lässt sich in seiner mit mythologischem Gewicht beschwerten
Einführung im FAZ-Reading-Room dazu hinreißen, die jüdische Herkunft der Autors
selbst als eine poetologische Qualifikation für die plastische Darstellung des
nach besten Wissen heute literarisch inszenierbaren Bösen darzustellen:
»Als
Jude schreibt er sich ein in die Gestalt eines Eichmann. Das ist der Skandal
dieses Buches, sein Schrecken.«
Dieser geschwollene Satz ist natürlich positiv-anpreisend im Sinne der heutigen
kritisch-konservativ-liberal sich gebenden und dabei doch seichten Medien-Kultur
gemeint, und er nimmt zugleich die alte totalitäre und antisemitische Stimmung
der Bücherverbrennung und Verbrechensverleugnung als Motiv wieder auf, um ein
altes Skandalon in der Zeitreise zurück in die Epoche der äußersten
Reaktion aufzuwärmen.
»Gegen
den Willen der deutschen Regierung und ihrer Bürokratie«,
so Schirrmacher, sei der jüdische Autor Littell, 1967 in New York geboren, mit
dem Originalnamen Lidsky auch osteuropäischer Herkunft, und jetzt in Paris
wohnend, noch am Leben. Dies klingt in der Tat, als ob der Zweite Weltkrieg,
zumindest in seiner heute uns bekannten Endphase der Niederringung
Nazi-Deutschlands, nicht stattgefunden hätte. Krieg und Vernichtung, Asyl und
Exil im
Reading-Room der FAZ? Ein bisschen viel des Guten und des Bösen.
Überlebt habe der jüdische Autor, so Schirrmacher dann weiter, aber eben zu dem
Zweck, um einem der vielen Mörder des NS-Massentötungs-Systems seine Stimme zu
leihen und ihm das von Ekel überflutete Geständnis des politischen und privaten
Mördertums abzunötigen. Wildgewordener Mythos und dürftige Faktizität schlagen
sich in Schirrmachers metaphorischer Volte gegenseitig tot:
»Es
hätte dann aber, auf paradoxe Weise, der fiktive Autor, Max Aue, als Sieger der
Geschichte überlebt - und zwar in Gestalt all der anderen Max Aues mit Namen
Eichmann und Höß, deren Programm die Ausrottung der Juden war. Dieser Twist
einer finsteren Dialektik erklärt, warum dieses Buch allein dadurch ein Skandal
und eine Radikalität ist, weil es geschrieben worden ist.«
Georg Klein hat in der Süddeutschen Zeitung einen weder polemischen noch
angesichts von braunen Feuchtgebieten hilflosen, sondern fast klinischen Bericht
über Littells Erzählweise abgeliefert. Klein weist nach, dass Littells
photographischer und filmischer Realismus in Kombination mit den heute medial
präsenten Völkerrechtsverletzungen und Genoziden sowie den älteren und neusten
verfügbaren Wissens-Versatzstücken über den NS-Staats- und Kriegsterror
keineswegs zu einer stärkeren Plastizität des Bildes vom Bösen führe. Das Böse
trete dem Leser bei Littell eher in einem matten erzählerischen Realismus der
schrittweise eskalierenden Untaten gegenüber, sozusagen als abgeschlaffter
Zombie, in den jeder mit seinen Projektionen hineinfahren kann. Über dem
historisierten Abgrund der verblassenden Erinnerung an das Unfassbare der
Verzweiflung versammle man alle Formen der sprachlichen Rhetorik und der
klassizistischen Mythologie, ohne noch die Kraft einer erschütternden Aussage zu
erreichen. Aus dem hohlen Pathos der hochtrabenden Reflexion und der
individuellen Pathologie der Psyche Max Aues entstehe letztendlich nur das
Theater einer immer stärker medial vermittelten Grausamkeit, aber keine
erkenntnisfördernde Spannung und kein fruchtbarer, neuartiger Aufschluss.
Wie dem auch sei, Kolja Mensing schreibt in der FAZ sogleich und ohne
analytische Mühe abfällig über ein Gegenstück zu Littell: Volker Harry
Altwassers Roman »Letzte
Haut«
lese sich ȟber
weite Strecken wie eine geschmacklose Parodie auf den Holocaust«.
Aber dieses Verdikt könnte auch für Littells Roman gelten, obwohl dieser in
gewisser Weise sicherlich eine andere intellektuelle und psychologische
Fallhöhe, einen faschistisch-inzestuösen
»Mann
ohne Eigenschaften«
für sich reklamiert. Gibt also eine rhetorische Ständeklausel für den Holocaust?
Man
kann stilistische und erzählerische Schwächen im Diskurs von Volker Harry
Altwassers »Letzte
Haut«
bemängeln, so die holzschnittartige Darstellung der Zeitläufte und die häufige
Repetition im Stil: Die zentrale Idee des Romans, dem KZ-Wesen des NS-Staates
anhand eines historisch belegten Modellfalls von massiver Korruptionsbekämpfung
im Lager Buchenwald, also im Herzen der Entrechtung gerade mit
ökonomisch-juristischen und kriminologischen Mitteln auf den Leib zu rücken, hat
den Vorteil, der von
Hannah Arendt
aufgedeckte »Banalität
des Bösen«
in 476 Seiten vielleicht ein gutes Stück näher zu kommen. Näher, als dies
Littell in seinem bombastischen, eher körperlich und visuell ausgemalten
Zeitpanorama gelingen mag. Dabei ist Altwassers spezifischer Versuch durch die
zwei Ebenen, die linear vorwärts schreitende Geschichte und die Rückblende
zugleich als ein Scheitern von Aufklärung, aber auch als Aufklärung im Scheitern
eingeklammert.
Mit
»Banalität
des Bösen«
meinte
Hannah Arendt
ja keineswegs eine Einfachheit oder Trivialität des Bösen im Sinne einer
greifbaren Psychologie oder Horror-Phänomenalität im Sinne heutiger Videospiel-
und Doku- oder Spiel-Film-Szenarien, die nicht erst bei x-ter Wiederholung ins
Leere laufen. Sie meinte damit Gedankenlosigkeit und Automatismus von Individuen
und Gruppen im Rahmen von totalitärer Ideologie, Herrschaft und Exekution im
Sinne industrieller Automatisierung von Ausgrenzung, Entrechtung, Ausbeutung und
womöglich Tötung.
Und es
ist genau dies, was Altwasser ins Zentrum seines Buches rückt: den Alltag des
Konzentrationslagers als einen Betrieb der ganz gewöhnlichen Routine des
permanenten Ausnahmezustandes der Entmenschlichung im Dienste der instrumentell
enthemmten Unvernunft, mit allen militärischen, juristischen, wirtschaftlichen
und medizinischen Zerrissenheiten zwischen blanker Verfügung, Gier,
Machtansprüchen, Zuständigkeiten und Inkompetenzen, der brutalen Gerissenheit
und dreisten Dummheit, den verdeckten und offenen Absprachen und Rivalitäten.
Fotos: Karl Otto Koch
und Frau Ilse (public domain)
»Obersturmführer
Doktor Kurt Schmelz, SS Ermittlungsrichter und Beamter der Kriminalpolizei
Berlin, Standartenführer mit Sonderbefehl und Sonderbefugnissen vom Reichsführer
SS«
soll mögliche Korruption im Lager Buchenwald aufdecken und die Schuldigen, allen
voran, die historischen Figuren
Karl Otto Koch, den gewieften
KZ-Kommandanten, und seine wilde
Frau Ilse, vor ein Sondergericht
der SS noch rechtzeitig vor Kriegsende bringen. Dabei geht es wiederum
keineswegs um die moralische oder psychologische Enttarnung des
Massenmordsystems als solchem, sondern darum, den peinlichen und keineswegs
rätselhaften Realismus von Missmanagement und der Tatbestände wie
Unterschlagung, Bestechung, Bereicherung und Korruption auszubreiten, die von
der Nazi-Idee einer rein sachlich und korrekt gehandhabten totalitären
Internierung, Verwendung und Tötung im Geiste des mustergültigen
Schulbuch-Terrors wegführen und den klaren Amtsmissbrauch bestimmter Personen
qua Vorteilsnahme, Anstiftung, Betrug, arglistiger Täuschung, Hehlerei und
Ermordung aus persönlichen und niederen Motiven nachweisen. Und hierbei spielen
auch die Konflikte und Krisen im höheren SS-Management eine wichtige Rolle.
Foto:
Josias Prinz zu
Waldeck, (Urheber unbekannt,
Quelle: Bundesarchiv)
Diese Datei ist lizenziert unter der
Creative-Commons-Lizenz
Prominente,
wiederum historische Namen: Obergruppenführer
Josias Prinz zu Waldeck und
Pyrmont, der die Korruptionsaffäre um das Lager Buchenwald nachdrücklich
aufdeckte und bekämpfte, sowie die Obergruppenführer Pohl und Kaltenbrunner. In
Oswald Ludwig Pohl, dem
Duisburger NSDAP- und SA-Mitglied und späteren Leiter des SS-Wirtschafts- und
Verwaltungshauptamtes, steht das ökonomische Verwertungs- und Ausbeutungsprinzip
von Arbeitseinsatz, Tötung und Plünderung von KZ-Gefangenen im Vordergrund – mit
allen Folgelasten der kriegswirtschaftlichen Auslagerung, der Korruption und
Bereicherung, wie sie Koch und Konsorten betreiben. In seinem Widerpart, dem
österreichischen Juristen
Ernst Kaltenbrunner, nach
Heydrich und
Himmler der Leiter des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA), des
Gestapo-Amtes, des Reichskriminalpolizeiamtes und des Sicherheitsdienstes (SD),
erfährt Pohl einen verfahrensbewussten eiskalten Rivalen, dessen Stab, und
darunter auch der fiktive Doktor Schmelz, einer wahren Figur nachgebildet,
paradoxerweise die korrupte Ökonomie der KZs auf eine solidere juristische und
strategische Basis stellen will. Als ob dieser verfahrensinterne Coup gegen
Kriegsende zunächst mehr als ein bloßer Trick im Kampf um die Hegemonie unter
ungleichen Schurken im selben Unrechtssystem unter den Augen eines nach beiden
Seiten schwankenden Himmlers darstellen könnte, bevor dieser sogar am Ende den
Befehl ausgibt, die Juden nicht mehr zu töten, um Verhandlungsspielraum mit den
Alliierten für sich höchstpersönlich hinter dem Rücken des unnachgiebig Tod
verbreitenden Führers zu gewinnen. Während Kaltenbrunner bereits 1946 als einer
der 24 Hauptangeklagten in Nürnberg in seiner Funktion als RSHA-Leiter zum Tode
verurteilt und hingerichtet wurde, zog sich die Vollstreckung des für Pohl 1947
ausgesprochenen Todesurteils bis 1951 hin, also in die ersten Jahre der 1949
gegründeten Bundesrepublik. Zwischen Pohl und Kaltenbrunner steht übrigens auch
Höß, der effiziente Innovator und Kommandant der Gaskammern und Verbrennungsöfen
in Auschwitz, der in Nürnberg für Kaltenbrunner und gegen Pohl aussagte, bevor
er 1946 an die polnische Justiz ausgeliefert wurde und ein Jahr später im
Stammlager gehängt wurde.
Ohne viele Schnörkel pointiert Altwasser schlicht und eindringlich:
»Die
Villa der Kochs ist also voller Reichtümer. Nichts, was es dort nicht gäbe. Sie
werden bald ein Geständnis ablegen. Sie hatten keinerlei Chance, irgendwas
verschwinden zu lassen. Sie sitzen in der Falle, die Beweise sind erschlagend.
Nach meiner Recherche muss es damals so abgelaufen sein, dass Koch auf drei
Wegen unter der Hand verdient hat.
Zum
ersten hat er das Eigentum der jüdischen Häftlinge von den Kapos sammeln und in
einer privaten Sammelstelle erfassen lassen. Über diese Sammelstelle gibt es
keinerlei Akten, es gibt auch keine Listen, als hätten die Juden gar nichts
hierhergebracht, und jeder Mitwisser profitierte von Koch, allerdings tauschte
Koch die Kapos und Mitwisser jeden Monat aus, sodass sich bald kein Häftling
mehr fand, ihm zu helfen. In so einem Monat wurden diese Häftlinge zwar reich,
aber nach ihrem Tod wurde ihnen alles wieder abgenommen. Sie konnten es ja nicht
aus dem Lager bringen. Dies also erfüllt den Tatbestand der arglistigen
Täuschung. Das Töten dieser Mitwisser geschah nicht auf einen Befehl hin, nein,
dieses Töten inmitten des befohlenen Massensterbens war persönlich motiviert und
damit Mord.«
Es
ist deutlich, dass die hier von der Figur Schmelz angebahnte juristische
Argumentation den Rechtsbegriff paradox an das System KZ in seiner
menschenverachtenden Aufgabe und Funktionalität bindet und damit die Begriffe
»arglistige Täuschung« und »Mord« verdreht, weil sie nicht auf die Betroffenen,
sondern auf die Legalität der vorgegebenen Befehlskette und der dadurch
erlaubten und gebotenen Handlungen bezogen werden. In diesen und anderen
Passagen wird das System der Lager einer formaljuristischen Idealisierung aus
der Führungs- und Managementperspektive unterzogen, einer semantischen
Perversion, die an der Lage der Insassen und Opfer als entrechteter Subjekte
durchweg vorbei ging und geht. Aber das Interessante an dieser Sichtweise
besteht gerade darin, dass es nicht nur die plakativen Monster- und
Schlächtertypen gab, oder die schizophrenen Mitleids-Killer, sondern auch die
exakten Todesarbeiter, die definitionsmächtigen Versuchsleiter und
Organisatoren, zum Teil höhere Verwaltungsfiguren, die als Arzt, Jurist, Ökonom,
Offizier und Manager wahlweise rationale oder rein egoistische Sprachregelungen
und Entscheidungen treffen konnten, auch diesseits des irrationalen Objekt- und
Vernichtungsgedankens. Und Schmelz selbst beweist die befehlswidrigen
Mordpraktiken eigens mit einer Todesversuchsanordnung. So entsteht ein paradoxer
Strudel von Privilegien, Ausnahmen und Delikten auch während der Ermittlung im
Horizont des vorpräparierten Massentodes. Entscheidungen, die immer auch Urteile
zur Humanität und Inhumanität fällen, ob es den Verantwortlichen passt oder
nicht. Und dieses strategische und doch keineswegs völlig willkürliche Spiel am
Rande des geplanten Todes zwischen Wahrheit und Lüge, Recht und Entrechtung,
Vor- und Nachteil für das Selbst und Andere macht den moralischen und
rechtlichen Irrgarten dieses Buches aus. Volker Harry Altwasser lässt keinen
Zweifel in den Schlussplädoyers, dass die Logik des geplanten Todes und das
flächendeckende Netz der Korruption in und zwischen allen KZs und den zivilen
Lebensräumen von Stadt und Land mindestens zwei Köpfe einer gigantischen Hydra
sind. Und diese Hydra des »SS-Staats« (Eugen
Kogon) bringt am Ende auch den treuesten ausgebildeten
Rechtsverfechter um seine Haut, wenn er auf seine eigene und die politische
Geschichte des ermittelten und des sogar dafür begangenen Unrechts zurückblickt.
Peter V. Brinkemper
Artikel
online seit 16.11.2011
|
Volker Harry
Altwasser
Letzte Haut
friktion 16
Matthes & Seitz Berlin, 2009
480 Seiten,
gebunden mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-88221-744-5
€ 22,80
Quellen & Hintergrundinformationen:
Der
SS-Richter
Konrad Morgen liefert
die Vorlage für Kurt Schmelz, die Hauptfigur in Altwassers Roman.
Holocaust
Education
& Archive
Research
Team:
Konrad Morgen
»The
Bloodhound Judge«
Investigating corruption within the SS
Ausschnitt aus den transkribierten
Tonbandmitschnitten der
Vernehmung des Zeugen Konrad Morgen, ehemaliger
Obersturmbannführer und SS-Richter vom 25. Verhandlungstag am 9.
März 1964
des 1.
Frankfurter Auschwitzprozesses.
|